1993: »Der Bürger Europas ist ein Schritt zum Weltbürger, zu jenem ursprünglich mutigen Wort Kosmopolit, das sich die besten Moralisten der Menschheit gaben.«
Daniil Granin (12919-2017),
russischer Schriftsteller und Politiker
Der Glaube wird neu programmiert
1. Gutenberg & Luther
Die Erlöse aus der Erlösung von den Sünden sollten vor 500 Jahren helfen, die Peterskirche in Rom zu errichten. Doch vor allem war es ein prosperierendes Geschäft für die Verkäufer der Titel. Marktschreierisch wurden sie in der Kirchenprovinz Magdeburg von dem Dominikaner Johannes Tetzel feilgeboten. Das erboste schließlich den Augustinereremitenmönch Martin Luther (1483–1546), der gegen die korrupte Kommerzialisierung des Glaubens antrat. Sein Protest gipfelte in dem Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 an der Schloßkirche in Wittenberg, mit dem er über das Geschäft mit den Ablassbriefen aufklärte. Ein Jahr später erscheint seine in Deutsch verfaßte Streitschrift »Sermon von Ablaß und Gnade«, die in wenigen Monaten eine Auflage von 20.000 Exemplaren erreichte. Und 1522 kommt das Neue Testament in deutscher Sprache »auf den Markt«.
Nachdem Gutenberg 1445 den Buchdruck erfunden hatte, stieg die Buchproduktion dramatisch an. In Europa gab es vor 1450 insgesamt 30.000 Bücher. Ein halbes Jahrhundert später waren 27.000 Werke mit einer Gesamtauflage von zehn Millionen Exemplaren hergestellt worden. »Auf keine Erfindung oder Geistesfrucht können wir Deutsche so stolz sein wie auf die des Bücherdrucks, die uns zu neuen geistigen Trägern der Lehren des Christentums, aller göttlichen und irdischen Wissenschaft und dadurch zu Wohltätern der ganzenMenschheit erhoben hat. Welch ein anderes Leben regt sich jetzt in allen Klassen des Volkes, und wer sollte nicht dankbar der ersten Begründer und Förderer dieser Kunst gedenken, auch wenn er sie nicht, wie bei uns und unseren Lehrern der Fall, persönlich gekannt und mit ihnen verkehrt hat«, lobpreiste der 1528 verstorbene Jakob Wimpheling in seinem Buch «De arte impressoria« die Gutenberg–Schöpfung.
Das »zweite Informations–Zeitalter« hatte begonnen. Mit ihr zerfiel der Corpus Christianum, zersplitterten sich der Glaube, die Wissenschaften teilten sich auf in immer mehr Segmente und der geistige Zusammenhalt in Europa zerbarst. Luther galt als der »Zerstörer des großen Kirchenbaus«, wie ihn der Publizist Joseph Görres nannte.
2. Bibel & Nation
Buchdruck 1642 |
3. Neue Spiritualität
Indem er Gott nicht mehr als einen zornigen Richter, sondern als einen vergebenden Vater definierte, sorgte er dafür, dass die Menschen »ein Gespür für Freiheit und Sicherheit« bekamen, war er nach Meinung von Martin Marty, Historiker an der Universität von Chicago, so etwas wie ein Wegbereiter der Menschenrechte und des Individualismus. Religion wurde eine Sache des Gewissens. Mit Luther vollzog sich eine Trennung zwischen privater und öffentlicher Existenz.War vor ihm die Wirklichkeit nur eine Funktion der Glaubenswelt, die alle menschlichen Aktivitäten bestimmte, so entstand nun die säkularisierte Kultur, wie wir sie heute kennen. Die Folge: Wir leben in einer »Kultur des Unglaubens«, wie es Stephen Carter, Professor an der amerikanischen Yale University, nennt. In ihr haben religiös fundierte Argumente keinen Platz. So haben nach Aussage von Carter in der Abtreibungsdebatte ethische, praktische oder soziologische Argumente ihre Berechtigung. Wer allerdings religiöse Beweggründe ins Spiel bringt, sieht sich dem Verdacht ausgesetzt, dass er mit seiner Argumentation zugleich sein gesamtes Glaubensgebäude anderen aufzwingen will. Nicht wenige meinen derweil, dass diese Verweltlichung nun umschlägt in eine neue »globale Spiritualität«, wie es 1994 der Schriftsteller und Präsident der Tschechischen Republik, Vaclav Havel, nannte. In einem Vortrag an der Stanford University, dem Techno-Tempel des Silicon Valleys, beeindruckte er seine Zuhörer mit der Aussage, dass demokratische Werte auf einer »geistigen Dimension gründen, die alle Kulturen und besonders alle Menschen einigt«. Und er erinnerte daran, dass nahezu alle Weltreligionen auf der uralten Vorstellung basieren, daß »die gesamte Geschichte des Kosmos und besonders des Lebens auf geheimnisvolle Weise gespeichert ist im Innern aller Menschen.«
Daraus leitet Havel das Entstehen eine »planetaren Demokratie« ab. Es könnte sein, dass das Internet genau der Ort wird, in dem diese »planetarische Demokratie« Wirklichkeit wird. Pater Richard John Neuhaus, Direktor des Forschungsinstituts Religion and Public Life in New York, urteilte 1995 im Pflichtblatt des Kapitalismus, im ‚Wall Street Journal‘: »Die Allianzen, die der Kalte Krieg schuf, zerstreuen sich. Nur wenige sehen in den Vereinten Nationen den Wegbereiter einer neuen Weltregierung. Es gibt natürlich die globalen Märkte und Technologien. Obwohl sie sehr bedeutend sind, können sie doch nicht den moralischen Zusammenhalt erzeugen, den die Menschheit braucht.«
Das kann allein – »mangels eines besseren Wortes die Spiritualität« leisten. Und dann zitiert Neuhaus den französischen Schriftsteller und Kulturpolitiker André Malraux: »Das nächste Jahrhundert wird religiös sein oder überhaupt nicht.«Als sich im August 1997 das katholische Frankreich für die Weltjugendtage rüstete, befürchteten die Veranstalter, dass sie einen Riesenflop gestartet hatten. Nur 70.000 Franzosen hatten sich angemeldet, um gemeinsam zu feiern und den Papst zu sehen. Doch dann kam es ganz anders. 750.000 Menschen reisten an, ein Drittel aus dem Ausland. Die konservative Tageszeitung ‚Le Figaro‘ sprach von einem »spirituellen Erdbeben«.
Das Streben der Menschen nach Gemeinschaft war ungebrochen.
4. Peterskirche & Internet
Wird nun das Internet die neue Peterskirche des dritten Jahrtausends?Dann wäre es erneut ein Produkt der Mächtigen. 1506 hatte der Kunstmäzen Papst Julius II., der den Maler Raffael sponserte und dessen Grabmal Michelangelo schuf, den Grundstein für den Neubau des Doms gelegt. Mit dem Entstehen dieses Prachtbaus wurde die Zerrüttung der Kirche vollends deutlich. Als Nachfolger des berüchtigten und skrupellosen Papstes Alexander VI. war der Kirchenfürst, übrigens Vater dreier Töchter, 1503 selbst durch Bestechung ins Amt gekommen. Il Terrible (Der Schreckliche), wie er genannt wurde, wusste seine persönlichen Interessenzu wahren. Aber sie warennoch deckungsgleich mit denen der Kirche.Vollends auf dem Weg der Verweltlichung befand sich dann nach seinem Tod 1513 die katholische Kirche. Der Medici–Papst Leo X. kam an die Macht, und er war nun mit den überbordenden Finanzierungskosten der Basilika konfrontiert. 1514 erließ er ein Ablaßdekret, das sich der Markgraf von Brandenburg Albrecht II., Erzbischof von Magdeburg, für seine ehrgeizigen politischen Ziele zunutze zu machen suchte. Er wollte zusätzlich noch den Posten als Erzbischof von Mainz, um sozugleich Kurfürst zu werden. Ein höchst lukratives Amt, denn als Kurfürst hatte er Sitz und Stimme bei der Wahl des nächsten Kaisers. Dieses Stimmrecht ließ sich in bare Münzen oder neue Privilegien verwandeln. Für 24.000 Goldgulden, das entsprach den Jahreseinnahmen des Kaisers, übergab ihm Papst Leo die Pfründe. Natürlich hatte der Markgraf das Geld nicht zur Hand. Er lieh es sich bei den Fuggern, den Augsburger Frühkapitalisten. Zurückzahlen wollte er es durch die Hälfte der Einnahmen aus dem Ablaßbrief, die andere Hälfte ging nach Rom zur Finanzierung der Peterskirche. Bis zu 25 Goldgulden kostete ein Ablaß. Die Kirche war ein einziges korruptes Geschäft, ein »Königreich der Sünde«, wie es Luther nannte.
Droht dem Internet nun ein ähnliches Schicksal, wenn dieser globale Dom des Wissens im Namen des e.business säkularisiert wird? Spüren wir nicht schon den mächtigen Arm des unfehlbaren Bill Gates, der als neuer Papst des Cyberspaces nach der Alleinherrschaft greift? Sind seine Windows-Releases eine neue Form des Ablassbriefes? Brauchen wir einen neuen Martin Luther?
5. Sponsoren des Sozialen
Was wir brauchen, ist offenen Wettbewerb auf allen Ebenen. Und der beste Garant dieser Entwicklung ist das intellektuelle Kapital der Welt, das schneller wächst als jede Großmacht. Bereits 1995 entsprach das Datenvolumen, das täglich über das Internet transportiert wurde, der Menge von 500.000 Büchern mit jeweils 200 Seiten. Inzwischen (und das war kurz vor dem Jahrtausendwechsel) sind es mehr als 40 Millionen Bücher. Und irgendwann wird dieses Volumen sich nicht nur aus Geschäftsdaten und E–Mails bilden, sondern tatsächlich auch aus »Büchern«, aus gespeichertem Wissen. (So ist es ja auch gekommen und darüber hinaus. R.V., 2.7.2024)
Luther verhalf dem Wissen zum Durchbruch, das schließlich über alle feudalen Herrschaften siegte. Das Internet wird genauso wenig allein kommerziellen Interessen dienen wie die Wirklichkeit. Zwischen 1970 und 1991 stieg allein in den USA die Summen an Spenden, Stiftungen und Zuwendungen für philantropische Zwecke von 20 auf 124 Milliarden Dollar. 1996 waren es bereits 150 Milliarden Dollar. Tendenz steigend – mit der Börse. (Aber an der Verteilung zwischen Arm & Reich hat es nicht viel geändert, eher das Delta vergrößert. R.V. 2.7.2024)
In Deutschland gab es zur Jahrtausendwende rund 8000 Stiftungen, die ein Milliardenvermögen verwalten. 98 Prozent von ihnen sind gemeinnützig. Doch im Vergleich zu den USA ist das Stiftungswesen noch sehr unterentwickelt. Hier boomen die sogenannten Community Foundations, die städtische Leistungen (Theater, Bibliotheken etc.) ergänzen und dabei ein Vermägen von zehn Milliarden Dollar aufgebaut haben. In Deutschland haben die ersten Städte wie Ulm oder Gütersloh das Modell gerade erst entdeckt. Natürlich spielt auch das Sponsoring eine zunehmende Rolle. Eine Untersuchung der Agentur für Sponsor Partners bei 800 Unternehmen ergab, dass 1997 rund 13 Milliarden Mark für Sponsoring ausgegeben wurden – das sind acht bis neun Milliarden mehr als bislang angenommen. Derzeit fallen zwar 45 Prozent der Ausgaben auf den Sport, 26 Prozent auf Kunst, doch deutliche Zuwächse werden in den nächsten Jahren im sozialen Bereich erwartet – wie überhaupt das Sponsoring nach Einschätzung der 800 befragten Unternehmen steigen wird.
Gingen 1991 noch 54 Prozent der Spendengelder an Religionsgemeinschaften, so waren es 1996 nur noch 46 Prozent. Nutznießer der Umverteilung war unter anderem das Erziehungswesen, das seinen Anteil von elf auf 13 Prozent aufstockte.Selbst der Staat wird nicht vergessen. In den USA beschlossen 1998 ein paar Superreiche, freiwillig Extrasteuern zu zahlen, weil sie der Meinung sind, dass ihnen das Finanzamt zuviel Geld läßt.
6. Die Vision von Leibniz
All dies vollzieht sich vor einem epochalen Änderungsprozesses. Waren vor dem Fall der Mauer nur ein Drittel der Regierungen demokratisch gewählt, so sind es heute fast zwei Drittel. Und die Hoffnung ist da, dass im Jahr 2020 alle Länder dieser Erde freiheitlich strukturiert sind. Ideelle und kommerzielle Ziele schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern bedingen einander mehr denn je. Und mit deren Ausbreitung entsteht die neue Weltgemeinschaft. (Welch ein Irrtum!!! R.V. 2.7.2024)
Eine solche Idee hatte bereits 300 Jahren zuvor der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz, das letzte Universalgenie der Welt, dem die Computerbranche neben den ersten Rechenmaschinen vor allem das Binärsystem zu verdanken hat. Er entwickelte 1676 eine faszinierende Vision. Er träumte von einem Reich, das weit mehr umfasste als nur Deutschland, von einem föderalistisch strukturierten Vielvölkerbund Europas: »Wenn unser Reich zu einem realen Bund gelanget, dann werden auch viele andere zur Wohlfahrt nötigen Dinge gehoben: die Streitigkeiten der Stände, das unordentliche Justizwesen, der Handel und die Polizei, und man wird zu ungezwungener Eintracht, Mäßigung und Duldung in Religionssachen gelangen.« Weiter heißt es: »Wer sein Gemüt höher schwingt und den Zustand Europas durchgeht, der wird mir Beifall geben, dass dieser Bund eines der nützlichsten Vorhaben ist. [...] Der effectus wird sich als oper consequens auf die Ruhe Europas erstrecken.«
Leider hörte dieses Europa nicht auf seinen genialen Erstinformatiker, der wie kaum ein anderer seiner Zeit an die geistigen Kräfte glaubte, die im Innern des zerrütteten Europas schlummerten. Dafür wurde dann sein utopisch anmutendes Modell hundert Jahre später in einer anderen Welt realisiert: in den USA.
Aber die Kraft seiner Vision ist noch heute spürbar. Denn mit dem von ihm mathematisch begründeten Bit, dem binary digit, soll nun im Cyberspace die gesamte Welt digital vereint werden. Leibniz hatte am Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere von einer Universalsprache geträumt. Mit seinem Binärsystem hat er sie praktisch geschaffen. Auf der untersten Ebene. Mehr noch: Die Bits siegen über die Atome, sowie der Cyberspace über die materielle Wirklichkeit triumphiert. Eins ist dabei sicher: dieser Zusammenschluß wird bestimmt nicht über eine globale Bit-Steuer erfolgen. Zuerst einmal ist dazu eine gemeinsame Weltanschauung notwendig. Es muß eine Ideologie sein, die nicht engstirnigem Fanatismus entspringt, sondern einer pluralen Phantasie.
Zuletzt glückte solch ein ideologischer Zusammenhalt mit der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika.
Aus der Not einer Wirtschaftskrise geboren,
- bei der die Steuereinnahmen versiegten,
- die Zölle zwischen den Staaten immer höher stiegen
- und das Getreide auf den Felder verfaulte,
war es in Massachusetts zu einer Steuerrebellion gekommen. Sie zeigte der damaligen Konföderation aus 13 Staatenerkannt, wie zerbrechlich ihr Gebilde war. Noch immer behaupteten die Briten widerrechtlich eine Kette von Forts innerhalb des amerikanischenTerritoriums. Spanien kontrollierte die Schiffahrt an der Mississippi-Mündung in New Orleans, und Bodenspekulanten drängten mit anarchistischer Gewalt in den Nordwesten des Landes. Das Land war verschuldet. Es herrschte Inflation. Der Wert der Währung sank.
7. Von Athen nach Amerika
Da trafen sich im Mai 1787 in Philadelphia 55 »erlauchte Geister« (Die Zeit), von denen 34 Rechtsanwälte waren. Sie bildeten die neue Wissens-Elite eines Landes, dessen Bevölkerung sich aus Menschen unterschiedlichster ethnischer, kultureller und religiöser Herkunft zusammensetzte. Die Gründerväter waren indes hochgebildete, belesene Männer, die sich in ihren Argumentationen auf europäisches Gedankengut von Aristoteles über Luther bis Montesquieu beriefen. »Was Athen im kleinenwar, will Amerika in Großformat sein«, schrieb Paine 1791. Es war das Athen des Aristoteles im vierten Jahrundert vor Christus, das die Amerikaner als Vorbild vor Augen hatten. Jahrhundertelang war das berühmte Buch des griechischen Philosophen »Über die Politik« vergessen und verschollen gewesen, bis der größte Denker des Mittelalters, Thomas von Aquin, es im 13. Jahrhundert wiederentdeckte und ins Lateinische übersetzen ließ. Noch einmal dauerte es 500 Jahre, bis Aristoteles gleichsam in die Praxis umgesetzt wurde. Und auch jetzt, beim Übergang indie Cyber-Welt, beriefensich die Protagonisten auf das hellenische Vorbild. Schon ist man versucht zu sagen: »Was Amerika im kleinen war, soll nun im Internet in Großformat verwirklicht werden.«Und das wäre nichts anderes als ein gewaltiges Experiment – (ein unglaubliches Gedankenexperiment, das noch längst nicht zu Ende ist, möchte man (also ich) 2024 voller trotziger Hoffnung hinzufügen).
8. Die WASP–Elite
Die Väter der amerikanischen Constitution hatten feste Wurzeln im protestantischen Glauben. Martin Luther wurde 1883 sogar als Ahnvater von George Washington, dem ersten Präsidenten der USA, gefeiert. Nur zwei der Delegierten waren Katholiken. Das hieß: Unter den Delegierten dominierte die von den calvinistischen Pilgervätern geprägte Vorstellung, dass ein gottgefälliges Leben nicht erst nach demTode, sondern bereits auf der Erde belohnt werde. Diese White Anglo–Saxons Protestants (WASPs), wie die Amerikaner diese traditionelle Führungsschicht nennen, beherrschten die Diskussion. Aber die Protestanten stellten nicht nur in den USA die neue Elite.
»War Deutschland bis 1806 in einem sehr spezifischen Sinn ein katholisches Reich, so seit 1871 ein protestantischer Nationalstaat«, meint der Sozialwissenschaftler Spieker. Kaiser Wilhelm I. war der Summus Episcopus, der höchste Bischof der evangelischen Kirche. »Den Katholiken wurde im Bismarck–Reich der Status eines Untermieters zugewiesen.« In der Folge identifizierten sie sich auch nicht so stark mit dem Nationalstaat und dem Nationalismus, der zu einer Ersatz–Religion wurde. Die Katholiken waren auch später weitaus weniger empfänglich für den Nationalsozialismus, zumal sich die Nazis bei der Judenverfolgung sogar auf Äußerungenvon Luther aus seinen letzten Lebensjahrenberufen konnten.
Warum glückte derweil den amerikanischen Protestanten ein weitaus besserer Nationalstaat? Antwort: Ihr Patriotismus basierte zuallererst auf ihrer Verfassung, nicht auf einem Nationalismus. (Schön wäre es, wenn sie dahin zurückkehren würden, möchte man, also ich, 2024 ergänzen.)
9. Der Verfassungspatriotismus
Um den Inhalt ihrer Verfassung hatten die Amerikaner 1787 heftig gestritten. Gegenstand der Auseinandersetzung: die zehn Jahre zuvor verfassten Artikel der Konföderation, die als Grundlage der Verfassung dienen sollte. Sie sollte dem Staat Macht geben und sie zugleich beschneiden. Am 17. September 1787 war es dann soweit: 39 der noch 42 anwesenden Delegierten unterzeichneten die auf Pergament niedergeschriebene Verfassungsurkunde. Ihr fehlte nur noch eins, wie die Abgeordnete in den Ratifizierungsdebatten immer wieder beanstandet hatten: die Bill of Rights. Aber das wurde 1789 auf dem ersten Bundeskongreß nachgeholt, als die Menschenrechte in die ersten zehn Zusatzartikel (Amendments) der Verfassung aufgenommen wurden. Sie waren der eigentliche ideologische Knüller, eine gemeinsame Weltanschauung, eine intellektuelle Spitzenleistung. Ihre philosophischen Ursprünge stammen aus Europa. Doch zuerst verwirklicht wurden die Menschenrechte in der Neuen Welt. Von dort aus versuchen sie nun, seit mehr als zwei Jahrhunderten, die gesamte Erde zu erobern. Zuerst wurden sie gleichsam als Re-Import von der Französischen Revolution übernommen, nicht zuletzt inspiriert von Thomas Jefferson, der als Gesandter in Paris weilte.
Heute gelten die USA als das erste und einzige Land auf der Erde, das sich mit seiner Verfassung um eine »Ideologie« aus Gleichheit & Glück, Freiheit und Vision erfolgreich organisiert hat. Sie identifizieren sich vollkommen mit der »Amerikanischen Revolution«, die für sie längst Geschichte ist. Gerade aber als Geschichte entfaltet sie bis heute ihre Wirkung und begründet den ausgesprochenen Verfassungspatriotismus. Denn dieses Land kann sich nicht auf eine gemeinsame Abstammung, Sprache oder Religion beziehen.
Vielleicht war das sogar sein Glück. Es hat inihremUrsprung nur die Verfassung, den gemeinsamen Rechtsraum. Er ist das Einigende in der Vielfalt. Ein reines Geistesprodukt schuf »E pluribus unum«, wie es auf dem Staatssiegel der USA heißt. (Und heute, angesichts der Entwicklung auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz, wünschte man (also ich) sich, dass eine ähnliche, einigende Wirkung von diesem technischen Fortschritt ausginge, aber die Hoffnung ist hier eher eingetrübt. Wem soll man diese Aufgabe anvertrauen? Allein diese Frage macht einen, also mich, skeptisch.)
10. Die Euro-Vision
Genau diese einigende Vision fehlt Europa. »Es tut sich immer noch schwer mit seinem Selbstverständnis, seinen Symbolen, der emotionalen Komponente«, befand 1996 der frühere Chef des Nestlé–Konzerns Helmut O. Maucher. Es fehlt eben so etwas wie die gemeinsame Verfassung, die auch wirklich eine Verfassung ist und nicht eine pathetische Dienstvorschrift der Bürokratie. Wir ersetzen sie durch Empfehlungen, Richtlinien, Verträge und solchen Konstrukten wie Konvergenzkriterien, an die wir uns dann mit kreativer Energie zu halten pflegen. Überall ist das zu spüren was der Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich von Hayek (1899–1092)die »Anmaßung von Wissen« nannte. So lautet auch der Titel eines 1996, also nach seinem Tode erschienen Buches, in dem seine letzten Studien veröffentlicht wurden. Diese Anmaßung empfand er als eine »tödliche Einbildung«. Selbst der Euro wurde wie ein »kaltes Projekt« eingeführt, (das schließlich doch die Emotionen nicht uterdrücken konnte und so einer Partei wie der AfD Geburtshilfe gab, wie man, also ich, mich noch erinnere.) Kein Wunder, dass sich viele Menschen nicht dafür erwärmen konnten. Eine gute Idee wurde schlecht verkauft.
Noch nicht mal zu einer echten Gewaltenteilung sind wir fähig. Die EU-Kommission vereint in sich judikative und exekutive Macht. Und wenn dann eine Vorschrift erlassen werden soll, sind daran bis zu 2000 Menschen beteiligt. Was wir brauchen, ist eine ordentliche Verfassung, eine des Herzens. Der Frankfurter Politologe Kurt Shell meint, dass diese sich nicht mehr allein auf die Menschenrechte berufen dürfe. »Wir brauchen etwas, das darüber hinausgeht«, fordert er. Ein Symbol, eine Vision, eine Utopie – ein Experiment.
Nachsatz: Da können wir wohl noch lange warten. Wa wir haben, ist ein Experiment ohne Glauben. R.V. 2.7.2024
20 Kommentare:
Und die Reisegesellschaften der Kosmopoliten waren Neckermann und Quelle, Cook und Hapag Lloyd.
Und die Menschheit der Kontinente sah, dass die Deutschen die Welt nicht mehr mit einer Panzerfaust in der Hand in Besitz nahmen, sondern mit einem Handtuch.
Damit haben die entwaffneten Deutschland mehr zum Weltfrieden beigetragen, als die Großmächte, die zur gleichen Zeit noch mit ihren Atombombenversuchen Luft und Erde verseuchten.
Keine Experimente. - war ein Wahlspruch der CDU und ist heute die Denkkategorie einer Mehrheitsgesellschaft.
Die Leute sind experimentellen Versprechen überdrüssig und ahnen zugleich die unbestimmten Veränderungen durch den Klimawandel neue kriegerische Gefahren und wissen, dass die jetzige Politiker- und Führungsgeneration in Zukunftsfragen schon intellektuell unfähig ist.
„Nur in der Jugend ist man wahrer Weltbürger; die besten unter den Alten sind nur Erdenbürger.“
Ludwig Börne (1786 - 1837), deutscher Journalist
"Keine Experimente,
schnaubte Papa Neandertal
und blieb in seiner Höhle hocken."
Walter Ludin (*1945), Schweizer Journalist, Redakteur und Buchautor, Mitglied des franziskanischen Ordens der Kapuziner
Zu Besserwisser
... was ihn aber auch nicht rettete (schreibt einer, der am Rande des Neandertals seine Jugend verbrachte)
🤣🤣🤣
War Gutenberg/Genslein nicht auch nur ein Betriebswirt (damals sagte man Patrizier oder Kaufmann) und dennoch ein Erfinder?
Sorry - nicht Genslein, sondern natürlich Johannes Gensfleisch...
Da hat der Herr Vollmer noch Glück gehabt. Wäre er am Rande von Neandertal geblieben, wäre er ohne Experimente heute im Museum.
So hat er sich wie manch anderer Neandertaler auf die Völkerwanderung gemacht und kam bis an den Rand der Schwäbischen Alb. Darüberhinweg und nach Askanien hat er es nicht geschafft. Auf den Höhen Altenburgs ist ihm die Puste (Pfeifenraucher wie Ötzi) ausgegangen oder eine Frau stand im Wege und hat sein Schicksal in die Hand genommen - oder beides.
"Gens fleisch zammn ricken, dass isch misch aach sezzn gann?
sagt der Sachse
Gutenberg war ein sehr selbstbewusster und störrischer Unternehmer - mehrmals nahe am Bankrott.
Es gab ja mehrere Fusskranke der Völkerwanderung, die am Rande der Schwäbischen Alb hängen geblieben sind - und sehr erfolgreich wurden.
Zu: "Da hat der Herr Vollmer..."
Wer mich noch pfeiferauchend kennt und ansonsten auch die lokalen Verhältnisse, muß nicht nur hier wohnen, sondern auch mich schon recht lange kennen. Denn die Pfeife habe 2007 endgültig "ausgehen lassen". Geraucht habe ich am liebsten "Three Nuns", sehr katholisch, sehr britisch, zu dem ich gerne den Witz zum Besten gab: "Was ist eine Supernonne?" Antwort: "Eine Nonne, deren Mutter und Großmutter auch schon Nonne war." Das waren meine Three Nuns.
Als er die Pfeife aus der Hand legte, fing er da an, nach der Pfeife anderer zu tanzen?
Die Super-Nonnen geistern auch gerne durch unseren Karneval. Das Kostüm besteht aus einer Kutte, einer Kapuze, einem Schleier und weißen Handschuhen. Die schwarze Ordenstracht ist bodenlang und wird durch die weiße Kapuze ergänzt. Über der Kapuze wird der schwarze Schleier getragen, der eine weiße, dehnbare Grundform besitzt. Die weißen Handschuhe machen den Unschuldslook perfekt. Einen besonderen Gag macht, wer unter der langen Ordenstracht z.B. Plateau-Stiefel mit Schnallen oder eine schwarze Netzstrumpfhose trägt. Wer lieber als Killer-Schwester geht, ergänzt das Outfit z.B. mit Dolchmesser und etwas Spezial FX Kunstblut. 😎
Ach, solche habe ich letzte Woche in Berlin gesehen auf der Demo Homos für Israel.
Ist ja nicht schlimm.
Besser als:
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In Berlin ist ja auch immerzu Karneval
„Yes, well“ sagte der IT-Leiter und nahm die Pfeife aus dem Mund.
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