Mittwoch, 3. Juli 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 55) - Die Sicht vor dem Jahr 2000 (2)

 


1993: »Der Bürger Europas ist ein Schritt zum Weltbürger, zu jenem ursprünglich mutigen Wort Kosmopolit, das sich die besten Moralisten der Menschheit gaben.«

Daniil Granin (12919-2017), russischer Schriftsteller und Politiker

Der Glaube wird neu programmiert

1. Gutenberg & Luther

Die Erlöse aus der Erlösung von den Sünden sollten vor 500 Jahren helfen, die Pe­ters­kirche in Rom zu errichten. Doch vor allem war es ein pro­spe­rierendes Ge­schäft für die Verkäufer der Titel. Markt­schreie­risch wurden sie in der Kirchenprovinz Mag­deburg von dem Dominikaner Johannes Tet­zel feil­ge­boten. Das er­boste schließlich den Augustinereremitenmönch Martin Luther (14831546), der gegen die korrupte Kommerzialisierung des Glaubens antrat. Sein Protest gipfelte in dem Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 an der Schloßkirche in Wittenberg, mit dem er über das Geschäft mit den Ablassbriefen aufklärte. Ein Jahr später er­scheint sei­ne in Deutsch verfaßte Streitschrift »Sermon von Ablaß und Gnade«, die in wenigen Monaten eine Auflage von 20.000 Exem­pla­ren erreichte. Und 1522 kommt das Neue Testament in deutscher Spra­che »auf den Markt«.

Nachdem Gutenberg 1445 den Buchdruck erfunden hatte, stieg die Buchproduktion dramatisch an. In Europa gab es vor 1450 insgesamt 30.000 Bücher. Ein halbes Jahrhundert später waren 27.000 Werke mit einer Gesamtauflage von zehn Millionen Exemplaren hergestellt worden. »Auf keine Erfindung oder Geistesfrucht können wir Deutsche so stolz sein wie auf die des Bücherdrucks, die uns zu neuen geistigen Trägern der Lehren des Christentums, aller göttlichen und irdischen Wissenschaft und dadurch zu Wohltätern der ganzenMenschheit erhoben hat. Welch ein anderes Leben regt sich jetzt in allen Klassen des Volkes, und wer sollte nicht dankbar der ersten Begründer und Förderer dieser Kunst gedenken, auch wenn er sie nicht, wie bei uns und unseren Lehrern der Fall, persönlich gekannt und mit ihnen verkehrt hat«, lobpreiste der 1528 verstorbene Jakob Wimpheling in seinem Buch «De arte impressoria« die GutenbergSchöpfung.

Das »zweite In­for­mationsZeit­al­ter« hatte be­gonnen. Mit ihr zerfiel der Corpus Christianum, zersplitterten sich der Glaube, die Wissen­schaften teilten sich auf in immer mehr Seg­men­te und der geistige Zusammenhalt in Europa zer­barst. Luther galt als der »Zer­störer des gro­ßen Kirchenbaus«, wie ihn der Publizist Joseph Görres nannte.

2. Bibel & Nation

Buchdruck 1642
Aber es entstanden auch neue Gemeinsamkeiten. Die Philosophen der Aufklä­rung, die ganz Europa erfasste, nannten ihn ihren Vater, weil er das Prinzip der freien Rede durchgesetzt hat­te. Er wurde »zum Zeugen einer nur der Wahrheit verpflichteten Forschung aufgeboten«, schrieb 1996 Gerhard Besier, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Heidelberg. Für Karl Marx war der Theologe ein theoretischer Re­volutionär. So sehr Lu­ther zwar ungewollt mit seinen For­de­rungen nach der Reform der ka­tholischen Kirche den Glauben spal­tete, so sehr legte das »Sprachgenie« (Besier) auch die kulturelle Grund­lage für eine ge­mein­same deutsche Nation. Die Bibel war das meist­ge­le­sene Buch und zum ersten Mal konnten die Deutschen ihre Sprache in all ihren Dialek­ten mit einem einheit­li­chen Text ver­glei­chen. Luther schuf zwischen 1522 und 1534 mit seiner kom­plet­ten Bibelübersetzung die moderne deutsche Sprache. Und sie wurde ak­zep­tiert, weil er »dem Volk aufs Maul« schaute. Er verlangte zudem, dass in den Schulen nicht mehr La­tein, sondern Deutsch die Lehr­spra­che sein sollte. Außerdem sponserte er das erste deutsche Gesang­buch, das eine Menge von ihm komponierte Choräle und Lieder enthielt. »Martin Luther, eine riesenhafte Inkarnation deutschenWesens, war außerordentlich musikalisch«, charakterisierte ihn 1945 der deutsche Schriftstelle und Nobelpreisträger Thomas Mann.

3. Neue Spiritualität

Indem er Gott nicht mehr als einen zornigen Rich­ter, sondern als einen vergebenden Vater definierte, sorgte er da­für, dass die Menschen »ein Gespür für Freiheit und Si­cher­heit« be­kamen, war er nach Meinung von Martin Marty, Historiker an der Universität von Chi­cago, so etwas wie ein Weg­be­reiter der Men­schen­rechte und des Individualismus. Religion wurde eine Sache des Gewissens. Mit Luther vollzog sich eine Trennung zwi­schen privater und öffentlicher Existenz.

War vor ihm die Wirk­lichkeit nur eine Funktion der Glaubenswelt, die alle menschlichen Aktivitäten be­stimmte, so entstand nun die säkularisierte Kultur, wie wir sie heute kennen. Die Folge: Wir leben in einer »Kultur des Unglaubens«, wie es Stephen Carter, Professor an der amerikanischen Yale University, nennt. In ihr haben religiös fundierte Argumente keinen Platz. So haben nach Aussage von Carter in der Abtreibungsdebatte ethische, praktische oder soziologische Argumente ihre Berechtigung. Wer allerdings religiöse Beweggründe ins Spiel bringt, sieht sich dem Verdacht ausgesetzt, dass er mit seiner Argumentation zugleich sein gesamtes Glaubensgebäude anderen aufzwingen will. Nicht wenige meinen derweil, dass diese Verweltlichung nun umschlägt in eine neue »globale Spiritualität«, wie es 1994 der Schriftsteller und Präsident der Tschechischen Republik, Vac­lav Havel, nannte. In einem Vortrag an der Stanford University, dem Techno-Tempel des Silicon Valleys, beeindruckte er seine Zuhörer mit der Aussage, dass demokratische Werte auf einer »geistigen Dimension grün­den, die alle Kulturen und besonders alle Menschen einigt«. Und er erinnerte daran, dass nahezu alle Welt­re­li­gionen auf der uralten Vorstellung basieren, daß »die gesamte Ge­schichte des Kosmos und besonders des Lebens auf geheimnisvolle Weise gespeichert ist im Innern aller Menschen.«

Daraus leitet Havel das Entstehen eine »pla­ne­taren Demo­kra­tie« ab. Es könnte sein, dass das Internet genau der Ort wird, in dem diese »planetarische Demokratie« Wirklichkeit wird. Pater Ri­chard John Neuhaus, Direktor des Forschungsinstituts Re­li­gion and Public Life in New York, urteilte 1995 im Pflichtblatt des Ka­pi­talismus, im ‚Wall Street Journal‘: »Die Allian­zen, die der Kalte Krieg schuf, zer­streuen sich. Nur wenige sehen in den Vereinten Nationen den Weg­bereiter einer neuen Weltregie­rung. Es gibt natür­lich die glo­ba­len Märkte und Technologien. Obwohl sie sehr be­deutend sind, können sie doch nicht den morali­schen Zusammenhalt erzeugen, den die Mensch­heit braucht.«

Das kann allein »mangels eines besseren Wor­tes die Spiritualität« leisten. Und dann zitiert Neuhaus den fran­zö­sischen Schriftsteller und Kulturpo­litiker André Malraux: »Das nächste Jahrhundert wird reli­giös sein oder überhaupt nicht.«Als sich im August 1997 das katholische Frankreich für die Weltjugendtage rüstete, befürchteten die Veranstalter, dass sie einen Riesenflop gestartet hatten. Nur 70.000 Franzosen hatten sich angemeldet, um gemeinsam zu feiern und den Papst zu sehen. Doch dann kam es ganz anders. 750.000 Menschen reisten an, ein Drittel aus dem Ausland. Die konservative Tageszeitung ‚Le Figaro‘ sprach von einem »spirituellen Erdbeben«.

Das Streben der Menschen nach Gemeinschaft war ungebrochen.

4. Peterskirche & Internet

Wird nun das Internet die neue Peterskirche des dritten Jahr­tau­sends?

Dann wäre es erneut ein Produkt der Mächtigen. 1506 hatte der Kunstmäzen Papst Julius II., der den Maler Raf­fael sponserte und dessen Grabmal Michelangelo schuf, den Grundstein für den Neubau des Doms gelegt. Mit dem Entstehen dieses Prachtbaus wurde die Zer­rüttung der Kir­che vollends deutlich. Als Nachfolger des berüchtig­ten und skrupel­losen Papstes Alexander VI. war der Kirchenfürst, übrigens Vater dreier Töchter, 1503 selbst durch Bestechung ins Amt gekommen. Il Terrible (Der Schreckliche), wie er genannt wurde, wusste seine per­sönlichen In­ter­­essenzu wahren. Aber sie warennoch deckungs­gleich mit denen der Kirche.Vollends auf dem Weg der Verwelt­lichung befand sich dann nach seinem Tod 1513 die katholische Kir­che. Der Medici–Papst Leo X. kam an die Macht, und er war nun mit den überbordenden Finanzierungskosten der Ba­si­lika konfrontiert. 1514 erließ er ein Ablaßdekret, das sich der Markgraf von Brandenburg Albrecht II., Erzbischof von Magde­burg, für seine ehrgeizigen politischen Ziele zunutze zu machen such­te. Er wollte zusätzlich noch den Posten als Erzbischof von Mainz, um sozugleich Kurfürst zu werden. Ein höchst lukratives Amt, denn als Kurfürst hatte er Sitz und Stimme bei der Wahl des nächsten Kai­sers. Dieses Stimmrecht ließ sich in bare Münzen oder neue Pri­vi­legien verwandeln. Für 24.000 Goldgulden, das ent­sprach den Jah­res­einnahmen des Kaisers, übergab ihm Papst Leo die Pfrün­de. Natürlich hatte der Markgraf das Geld nicht zur Hand. Er lieh es sich bei den Fuggern, den Augsburger Frühkapitalisten. Zurückzahlen wollte er es durch die Hälfte der Einnahmen aus dem Ablaßbrief, die andere Hälf­te ging nach Rom zur Finanzierung der Peterskirche. Bis zu 25 Gold­gul­den kostete ein Ablaß. Die Kirche war ein einziges korrup­tes Geschäft, ein »Königreich der Sünde«, wie es Luther nannte.

Droht dem Inter­net nun ein ähnliches Schicksal, wenn dieser globale Dom des Wis­sens im Namen des e.busi­ness säku­lari­siert wird? Spüren wir nicht schon den mächtigen Arm des unfehl­baren Bill Gates, der als neuer Papst des Cyber­spa­ces nach der Alleinherrschaft greift? Sind seine Windows-Releases  eine neue Form des Ablassbriefes? Brauchen wir einen neuen Martin Luther?

5. Sponsoren des Sozialen

Was wir brauchen, ist offenen Wettbewerb auf allen Ebenen. Und der beste Garant dieser Entwicklung ist das intellektuelle Kapital der Welt, das schneller wächst als jede Großmacht. Bereits 1995 ent­sprach das Da­ten­volumen, das täg­lich über das Internet transportiert wurde, der Menge von 500.000 Büchern mit jeweils 200 Seiten. Inzwischen  (und das war kurz vor dem Jahrtausendwechsel) sind es mehr als 40 Millionen Bücher. Und irgendwann wird dieses Volumen sich nicht nur aus Geschäftsdaten und EMails bilden, son­dern tatsächlich auch aus »Bü­chern«, aus gespeichertem Wissen. (So ist es ja auch gekommen und darüber hinaus. R.V., 2.7.2024)

Luther verhalf dem Wissen zum Durchbruch, das schließlich über alle feudalen Herr­schaf­ten siegte. Das Internet wird genauso wenig allein kom­mer­ziel­len Interessen dienen wie die Wirklichkeit. Zwischen 1970 und 1991 stieg allein in den USA die Summen an Spen­den, Stiftungen und Zuwendungen für philantropische Zwecke von 20 auf 124 Milliarden Dollar. 1996 waren es bereits 150 Milliarden Dollar. Tendenz stei­gend mit der Börse. (Aber an der Verteilung zwischen Arm & Reich hat es nicht viel geändert, eher das Delta vergrößert. R.V. 2.7.2024)

In Deutschland gab es zur Jahrtausendwende rund 8000 Stiftungen, die ein Milliardenvermögen verwalten. 98 Prozent von ihnen sind gemeinnützig. Doch im Vergleich zu den USA ist das Stiftungswesen noch sehr unterentwickelt. Hier boomen die sogenannten Community Foundations, die städtische Leistungen (Theater, Bibliotheken etc.) ergänzen und dabei ein Vermägen von zehn Milliarden Dollar  aufgebaut haben. In Deutschland haben die ersten Städte wie Ulm oder Gütersloh das Modell gerade erst entdeckt. Natürlich spielt auch das Sponsoring eine zunehmende Rolle. Eine Untersuchung der Agentur für Sponsor Partners bei 800 Unternehmen ergab, dass 1997 rund 13 Milliarden Mark für Sponsoring ausgegeben wurden das sind acht bis neun Milliarden mehr als bislang angenommen. Derzeit fallen zwar 45 Prozent der Ausgaben auf den Sport, 26 Prozent auf Kunst, doch deutliche Zuwächse werden in den nächsten Jahren im sozialen Bereich erwartet wie überhaupt das Sponsoring nach Einschätzung der 800 befragten Unternehmen steigen wird. 

Gingen 1991 noch 54 Prozent der Spendengelder an Religionsgemein­schaften, so waren es 1996 nur noch 46 Prozent. Nutznießer der Um­verteilung war unter anderem das Erziehungswesen, das seinen Anteil von elf auf 13 Prozent aufstockte.Selbst der Staat wird nicht vergessen. In den USA beschlossen 1998 ein paar Super­reiche, freiwillig Extrasteuern zu zahlen, weil sie der Meinung sind, dass ihnen das Finanzamt zuviel Geld läßt.

6. Die Vision von Leibniz

All dies vollzieht sich vor ei­nem epochalen Änderungsprozesses. Waren vor dem Fall der Mauer nur ein Drittel der Regierungen demokratisch ge­wählt, so sind es heute fast zwei Drittel. Und die Hoffnung ist da, dass im Jahr 2020 alle Länder dieser Erde freiheitlich struktu­riert sind. Ideelle und kommerzielle Zie­le schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern bedingen einander mehr denn je. Und mit de­ren Ausbreitung entsteht die neue Weltgemeinschaft. (Welch ein Irrtum!!! R.V. 2.7.2024)

Eine solche Idee hatte bereits 300 Jahren zuvor der deutsche Philosoph Gott­fried Wil­helm Leib­niz, das letzte Uni­ver­­salgenie der Welt, dem die Com­pu­ter­bran­che neben den ersten Re­chen­maschinen vor allem das Binär­sy­stem zu verdanken hat. Er ent­wickelte 1676 eine faszinierende Vision. Er träumte von ei­nem Reich, das weit mehr umfasste als nur Deutsch­land, von einem fö­de­ralistisch struk­tu­rierten Viel­völkerbund Eu­ro­pas: »Wenn unser Reich zu einem realen Bund gelanget, dann wer­den auch viele andere zur Wohlfahrt nötigen Dinge gehoben: die Strei­­tigkeiten der Stän­de, das unor­dent­liche Justizwesen, der Han­del und die Polizei, und man wird zu un­ge­­zwun­­ge­ner Eintracht, Mä­ßigung und Duldung in Reli­gions­sachen gelan­gen.« Weiter heißt es: »Wer sein Gemüt höher schwingt und den Zustand Europas durch­geht, der wird mir Bei­fall geben, dass dieser Bund ei­nes der nützlichsten Vor­haben ist. [...] Der effectus wird sich als oper consequens auf die Ruhe Europas erstrecken.« 

Leider hörte dieses Europa nicht auf seinen genialen Erst­in­for­ma­tiker, der wie kaum ein an­derer sei­ner Zeit an die gei­stigen Kräfte glaubte, die im Innern des zerrütteten Europas schlum­merten. Dafür wurde dann sein uto­pisch anmutendes Mo­dell hundert Jahre später in einer anderen Welt rea­lisiert: in den USA.

Aber die Kraft seiner Vision ist noch heute spürbar. Denn mit dem von ihm ma­the­ma­tisch begründeten Bit, dem binary di­git, soll nun im Cyberspace die gesamte Welt digital ver­eint wer­den. Leibniz hatte am Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere von einer Uni­ver­salsprache geträumt. Mit seinem Binärsystem hat er sie prak­tisch geschaffen. Auf der untersten Ebene. Mehr noch: Die Bits siegen über die Atome, sowie der Cyberspace über die materielle Wirklich­keit triumphiert. Eins ist dabei sicher: dieser Zusam­men­schluß wird be­stimmt nicht über eine globale Bit-Steuer erfol­gen. Zuerst ein­mal ist dazu eine gemeinsame Weltanschauung notwendig. Es muß eine Ideo­­lo­gie sein, die nicht engstirnigem Fanatismus ent­springt, sondern einer pluralen Phan­ta­sie.

Zuletzt glückte solch ein ideologischer Zusam­men­halt mit der Grün­dung der Vereinigten Staaten von Amerika. 

Aus der Not einer Wirt­schaftskrise ge­bo­ren, 

-         bei der die Steuer­ein­nahmen ver­siegten,

-         die Zölle zwischen den Staaten immer höher stiegen

-         und das Getreide auf den Felder ver­faulte,

war es in Massachu­setts zu einer Steu­er­re­bel­lion gekommen. Sie zeigte der damaligen Kon­fö­deration aus 13 Staatener­kannt, wie zer­brechlich ihr Gebilde war. Noch immer behaupteten die Briten wi­der­rechtlich eine Kette von Forts in­ner­halb des amerikanischenTer­ri­toriums. Spanien kon­trol­lierte die Schif­fahrt an der Missis­sip­pi-Mündung in New Or­leans, und Bodenspekulanten drängten mit anar­chi­stischer Gewalt in den Nord­westen des Landes. Das Land war ver­schuldet. Es herrschte In­fla­tion. Der Wert der Währung sank.

7. Von Athen nach Amerika

Da trafen sich im Mai 1787 in Philadelphia 55 »erlauchte Geister« (Die Zeit), von denen 34 Rechtsanwälte wa­ren. Sie bildeten die neue Wis­sens-Elite eines Landes, dessen Bevölkerung sich aus Menschen un­ter­schiedlichster ethni­scher, kultureller und religiöser Herkunft zusammensetzte. Die Grün­derväter waren indes hoch­gebildete, be­le­sene Männer, die sich in ihren Argu­men­ta­tionen auf europäisches Ge­dankengut von Ari­sto­te­les über Luther bis Mon­tes­quieu be­rie­fen. »Was Athen im kleinenwar, will Amerika in Großformat sein«, schrieb Paine 1791. Es war das Athen des Aristoteles im vierten Jahrundert vor Christus, das die Amerikaner als Vorbild vor Augen hatten. Jahr­hun­dertelang war das berühmte Buch des grie­chischen Philosophen »Über die Politik« vergessen und verschollen gewesen, bis der größ­te Den­ker des Mittelalters, Tho­mas von Aquin, es im 13. Jahrhundert wie­der­­entdeckte und ins Lateinische übersetzen ließ. Noch einmal dau­erte es 500 Jahre, bis Aristoteles gleichsam in die Praxis um­ge­setzt wurde. Und auch jetzt, beim Übergang indie Cyber-Welt, beriefensich die Prota­go­nisten auf das hellenische Vorbild. Schon ist man versucht zu sagen: »Was Ame­ri­ka im kleinen war, soll nun im In­ter­net in Großformat ver­wirk­licht werden.«

Und das wäre nichts anderes als ein gewaltiges Experiment – (ein unglaubliches Gedankenexperiment, das noch längst nicht zu Ende ist, möchte man (also ich) 2024 voller trotziger Hoffnung hinzufügen).

8. Die WASPElite

Die Väter der amerikanischen Constitution hatten feste Wurzeln im prote­stan­tischen Glau­ben. Martin Luther wurde 1883 sogar als Ahnvater von George Washington, dem ersten Präsidenten der USA, gefeiert. Nur zwei der Delegierten wa­ren Ka­tho­li­ken. Das hieß: Unter den Dele­gier­ten dominierte die von den calvinistischen Pilgervätern geprägte Vorstellung, dass ein gott­­­gefälliges Leben nicht erst nach demTode, sondern bereits auf der Erde belohnt wer­de. Diese White AngloSaxons Protestants (WASPs), wie die Ameri­kaner diese traditionelle Führungsschicht nennen, beherrschten die Diskussion. Aber die Protestanten stellten nicht nur in den USA die neue Elite.

»War Deutschland bis 1806 in einem sehr spezifischen Sinn ein ka­tholisches Reich, so seit 1871 ein protestantischer National­staat«, meint der Sozialwissenschaftler Spieker. Kaiser Wil­helm I. war der Summus Episcopus, der höchste Bischof der evangelischen Kir­che. »Den Katholiken wurde im BismarckReich der Sta­tus eines Un­ter­mie­ters zugewiesen.« In der Fol­ge identifizierten sie sich auch nicht so stark mit dem National­staat und dem Nationalismus, der zu einer ErsatzReligion wurde. Die Katholiken waren auch später weitaus we­ni­ger empfänglich für den Nationalsozialismus, zumal sich die Na­zis bei der Judenverfolgung sogar auf Äußerungenvon Luther aus seinen letzten Lebensjahrenberufen konnten.

Warum glückte derweil den amerikanischen Protestanten ein weitaus besserer Nationalstaat? Antwort: Ihr Patriotismus basierte zual­ler­erst auf ihrer Ver­fas­sung, nicht auf einem Nationalismus. (Schön wäre es, wenn sie dahin zurückkehren würden, möchte man, also ich,  2024 ergänzen.)

9. Der Verfassungspatriotismus

Um den Inhalt ihrer Verfassung hatten die Amerikaner 1787 hef­tig ge­­strit­ten. Gegen­stand der Aus­einander­set­zung: die zehn Jahre zuvor ver­fassten Ar­tikel der Kon­fö­de­ra­tion, die als Grundlage der Verfassung dienen sollte. Sie sollte dem Staat Macht geben und sie zugleich beschneiden. Am 17. September 1787 war es dann soweit: 39 der noch 42 anwesenden De­le­gierten un­terzeich­ne­ten die auf Per­ga­ment nieder­geschriebene Ver­fas­sungs­ur­kunde. Ihr fehlte nur noch eins, wie die Abgeordnete in den Rati­fi­zierungs­de­batten immer wie­der beanstandet hatten: die Bill of Rights. Aber das wurde 1789 auf dem er­sten Bundeskongreß nach­ge­holt, als die Menschenrechte in die ersten zehn Zusatzartikel (Amendments) der Ver­fassung aufge­nommen wurden. Sie waren der ei­gentliche ideo­lo­gi­sche Knüller, eine ge­mein­same Weltanschauung, eine intellektuelle Spitzenleistung. Ihre philosophischen Ursprünge stammen aus Europa. Doch zuerst ver­wirk­licht wurden die Menschenrechte in der Neuen Welt. Von dort aus versuchen sie nun, seit mehr als zwei Jahrhunderten, die gesamte Erde zu er­obern. Zuerst wurden sie gleichsam als Re-Import von der Fran­zö­si­schen Revolution über­nommen, nicht zuletzt in­spi­riert von Thomas Jef­fer­son, der als Gesandter in Paris weilte.

Heute gelten die USA als das erste und einzige Land auf der Erde, das sich mit seiner Verfassung um eine »Ideologie« aus Gleichheit & Glück, Frei­heit und Vision erfolgreich or­ga­ni­siert hat. Sie identifizieren sich voll­kommen mit der »Amerikanischen Revolution«, die für sie längst Ge­schichte ist. Gerade aber als Geschichte entfaltet sie bis heute ihre Wirkung und begründet den ausgesprochenen Ver­fas­sungs­patriotismus. Denn die­ses Land kann sich nicht auf eine gemeinsame Abstammung, Spra­che oder Religion beziehen.

Vielleicht war das so­gar sein Glück. Es hat inihremUr­sprung nur die Verfassung, den gemeinsamen Rechtsraum. Er ist das Einigende in der Viel­falt. Ein reines Geistesprodukt schuf »E plu­ribus unum«, wie es auf dem Staatssiegel der USA heißt. (Und heute, angesichts der Entwicklung auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz, wünschte man (also ich) sich, dass eine ähnliche, einigende Wirkung von diesem technischen Fortschritt ausginge, aber die Hoffnung ist hier eher eingetrübt. Wem soll man diese Aufgabe anvertrauen? Allein diese Frage macht einen, also mich, skeptisch.)

10. Die Euro-Vision

Genau diese einigende Vision fehlt Europa. »Es tut sich immer noch schwer mit seinem Selbstverständnis, seinen Symbolen, der emotionalen Kom­ponente«, befand 1996 der frühere Chef des Nestlé–Konzerns Helmut O. Maucher. Es fehlt eben so etwas wie die gemeinsame Verfassung, die auch wirklich eine Verfassung ist und nicht eine pathetische Dienstvorschrift der Bürokratie. Wir ersetzen sie durch Empfeh­lungen, Richtlinien, Ver­träge und solchen Konstrukten wie Kon­­ver­­genz­kriterien, an die wir uns dann mit kreativer Energie zu hal­ten pflegen. Überall ist das zu spüren was der Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich von Hayek (18991092)die »Anmaßung von Wissen« nannte. So lautet auch der Titel eines 1996, also nach seinem Tode er­schienen Buches, in dem seine letzten Studien veröffentlicht wur­den. Diese Anmaßung empfand er als eine »tödliche Einbil­dung«. Selbst der Euro wurde wie ein »kaltes Projekt« eingeführt, (das schließlich doch die Emotionen nicht uterdrücken konnte und so einer Partei wie der AfD Geburtshilfe gab, wie man, also ich, mich noch erinnere.)  Kein Wunder, dass sich viele Menschen nicht dafür erwärmen konnten. Eine gute Idee wurde schlecht verkauft.

Noch nicht mal zu einer echten Gewaltenteilung sind wir fähig. Die EU-Kommission vereint in sich judikative und exe­ku­tive Macht. Und wenn dann eine Vorschrift erlassen werden soll, sind da­ran bis zu 2000 Menschen beteiligt. Was wir brauchen, ist eine or­dentliche Verfassung, eine des Herzens. Der Frankfurter Politologe Kurt Shell meint, dass diese sich nicht mehr allein auf die Menschenrechte berufen dürfe. »Wir brau­chen etwas, das darüber hinausgeht«, fordert er. Ein Symbol, eine Vision, eine Utopie ein Experiment.

Nachsatz: Da können wir wohl noch lange warten. Wa wir haben, ist ein Experiment ohne Glauben. R.V. 2.7.2024


20 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Und die Reisegesellschaften der Kosmopoliten waren Neckermann und Quelle, Cook und Hapag Lloyd.
Und die Menschheit der Kontinente sah, dass die Deutschen die Welt nicht mehr mit einer Panzerfaust in der Hand in Besitz nahmen, sondern mit einem Handtuch.
Damit haben die entwaffneten Deutschland mehr zum Weltfrieden beigetragen, als die Großmächte, die zur gleichen Zeit noch mit ihren Atombombenversuchen Luft und Erde verseuchten.

Anonym hat gesagt…

Keine Experimente. - war ein Wahlspruch der CDU und ist heute die Denkkategorie einer Mehrheitsgesellschaft.
Die Leute sind experimentellen Versprechen überdrüssig und ahnen zugleich die unbestimmten Veränderungen durch den Klimawandel neue kriegerische Gefahren und wissen, dass die jetzige Politiker- und Führungsgeneration in Zukunftsfragen schon intellektuell unfähig ist.

Anonym hat gesagt…

„Nur in der Jugend ist man wahrer Weltbürger; die besten unter den Alten sind nur Erdenbürger.“
Ludwig Börne (1786 - 1837), deutscher Journalist

Besserwisser hat gesagt…

"Keine Experimente,
schnaubte Papa Neandertal
und blieb in seiner Höhle hocken."
Walter Ludin (*1945), Schweizer Journalist, Redakteur und Buchautor, Mitglied des franziskanischen Ordens der Kapuziner

Raimund Vollmer hat gesagt…

Zu Besserwisser
... was ihn aber auch nicht rettete (schreibt einer, der am Rande des Neandertals seine Jugend verbrachte)

Besserwisser hat gesagt…

🤣🤣🤣

Besserwisser hat gesagt…

War Gutenberg/Genslein nicht auch nur ein Betriebswirt (damals sagte man Patrizier oder Kaufmann) und dennoch ein Erfinder?

Besserwisser hat gesagt…

Sorry - nicht Genslein, sondern natürlich Johannes Gensfleisch...

Anonym hat gesagt…

Da hat der Herr Vollmer noch Glück gehabt. Wäre er am Rande von Neandertal geblieben, wäre er ohne Experimente heute im Museum.
So hat er sich wie manch anderer Neandertaler auf die Völkerwanderung gemacht und kam bis an den Rand der Schwäbischen Alb. Darüberhinweg und nach Askanien hat er es nicht geschafft. Auf den Höhen Altenburgs ist ihm die Puste (Pfeifenraucher wie Ötzi) ausgegangen oder eine Frau stand im Wege und hat sein Schicksal in die Hand genommen - oder beides.

Anonym hat gesagt…

"Gens fleisch zammn ricken, dass isch misch aach sezzn gann?
sagt der Sachse

Anonym hat gesagt…

Gutenberg war ein sehr selbstbewusster und störrischer Unternehmer - mehrmals nahe am Bankrott.

Anonym hat gesagt…

Es gab ja mehrere Fusskranke der Völkerwanderung, die am Rande der Schwäbischen Alb hängen geblieben sind - und sehr erfolgreich wurden.

Raimund Vollmer hat gesagt…

Zu: "Da hat der Herr Vollmer..."
Wer mich noch pfeiferauchend kennt und ansonsten auch die lokalen Verhältnisse, muß nicht nur hier wohnen, sondern auch mich schon recht lange kennen. Denn die Pfeife habe 2007 endgültig "ausgehen lassen". Geraucht habe ich am liebsten "Three Nuns", sehr katholisch, sehr britisch, zu dem ich gerne den Witz zum Besten gab: "Was ist eine Supernonne?" Antwort: "Eine Nonne, deren Mutter und Großmutter auch schon Nonne war." Das waren meine Three Nuns.

Anonym hat gesagt…

Als er die Pfeife aus der Hand legte, fing er da an, nach der Pfeife anderer zu tanzen?

Analüst hat gesagt…
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
Analüst hat gesagt…

Die Super-Nonnen geistern auch gerne durch unseren Karneval. Das Kostüm besteht aus einer Kutte, einer Kapuze, einem Schleier und weißen Handschuhen. Die schwarze Ordenstracht ist bodenlang und wird durch die weiße Kapuze ergänzt. Über der Kapuze wird der schwarze Schleier getragen, der eine weiße, dehnbare Grundform besitzt. Die weißen Handschuhe machen den Unschuldslook perfekt. Einen besonderen Gag macht, wer unter der langen Ordenstracht z.B. Plateau-Stiefel mit Schnallen oder eine schwarze Netzstrumpfhose trägt. Wer lieber als Killer-Schwester geht, ergänzt das Outfit z.B. mit Dolchmesser und etwas Spezial FX Kunstblut. 😎

Anonym hat gesagt…

Ach, solche habe ich letzte Woche in Berlin gesehen auf der Demo Homos für Israel.

Anonym hat gesagt…

Ist ja nicht schlimm.
Besser als:
Dieser Kommentar hat den Autor entfernt.

Anonym hat gesagt…

In Berlin ist ja auch immerzu Karneval

Anonym hat gesagt…

„Yes, well“ sagte der IT-Leiter und nahm die Pfeife aus dem Mund.