Um die Jahrtausendwende entstand die folgende Betrachtung. Damals stand ich noch voll unter dem Eindruck eines epochalen Wechsels in der Geschichte der Menschheit. (Darunter habe ich es in meinem erinnerten Überschwang ganz bestimmt nicht getan.) Heute - und vielleicht liegt es am Alter - bin ich weitaus skeptischer. Beim Überarbeiten dessen, was ich in mein Gesamtmanuskript einfach mal eingefügt hatte, fiel mir mein nüchterner Schreibstil auf. Wahrscheinlich suchte irgendetwas in mir bereits die Distanz zu einer von Euphorie gekennzeichneten Zeit. So habe ich sie jedenfalls empfunden. Und weil ich gemerkt habe, dass ich die Sache mit dem verbrauchten Verbraucher (Teil 53) in seiner Fortsetzung noch einmal überarbeiten sollte, was Zeit kostet und Muße verlangt, lasse ich mal diese Rückschau passieren. Ich hoffe, dass meine Freunde dennoch mir ihre Lesetreue erhalten. Ich bin ihnen jedenfalls sehr, sehr dankbar für die ebenso amüsanten wie nachdenklichen und von Bildung gekennzeichneten Kommentare. Sie erfreuen mein Herz, das diese Woche mal wieder zum Kardiologen darf (was mich in meinem Herzrhythmus immer etwas unruhig macht. Da ist es schon besser, wenn ich mich jetzt mal mit dem Gehirn beschäftige...). R.V.
Das Gehirn wird neu programmiert
Von Raimund Vollmer
1. Die Erfindung des Alphabets
Die Anfänge des ersten Informationszeitalters begannen etwa um 750 vor Christus. Damals wurde das Alphabet erfunden, seine Verbreitung erlebte es in der Antike ab 450 v.Chr. Damit veränderten sich nach Meinung des italienischen Neurophysiologen Luciano Mecacci die Funktionen unseres Gehirns. Bislang allein auf das Gedächtnis, auf die orale Überlieferung angewiesen, konnte der Mensch nun erstmals durch Lesen und Schreiben sein Erinnern festhalten und sich auf das Denken konzentrieren. Kein Wunder, dass dies die Zeit der großen griechischen Philosophen wurde. Das zeigte sich auch in der Dichtung. Während hier durch metrischen Gleichklang die Assoziation der Wörter gefördert wurde, so konnten jetzt die Texte freier gestaltet werden. Die Dichtung veränderte sich strukturell.
2. Das Reich der Römer
Es waren dann die Römer, die vor zweitausend Jahren die Sprache nutzten, um Europa zu vereinheitlichen. Sie schufen aber auch ein gemeinsames Recht und eine gemeinsamen Währung. Sie bildeten Europa zu einer gemeinsamen Kulturzone aus. »Cives Romani sumus – wir sind römische Bürger«, hätten damals die Menschen auf die Frage geantwortet, wer sie seien. Die Römer schufen indes im Unterschied zu den Griechen keine neue große Literatur. Es war ein Imperium, das nach wie vor auf eine orale Gesellschaft ausgerichtet war.
3. Elite–Christen
Gestürzt wurde das Römische Reich letztlich durch das Christentum, einer neuen Wissens-Elite. Der frühere Jesuit Jack Miles, der für sein 1995 erschienenes Buch »God – A biography« den Pulitzer–Preis gewann, meint, dass die Christen in den Codices ihr Wissen und ihre Weltanschauung festhielten, um es unter sich weiterzugeben. Die heidnischen Gelehrten aber, die geistige Prominenz, verachteten die neue Mobilität des Wissens, die römischen Kaiser befahlen gar Bücherverbrennungen. Es nützte nichts. Die neue »Ideologie« setzte sich durch, obwohl das Kopieren der Werke ein äußerst mühsamer Prozess war. Die Mönche brauchten mitunter ein ganzes Jahr für eine einzige Seite. Dennoch erlebte jetzt das »erste Informationszeitalter« seinen Höhepunkt, meint der Kulturwissenschaftlerr Martin Irvine an der Georgetown University. »Es war das erste Mal, dass eine ganze Zivilisation sich um eine Standard–Technologie konfigurierte, um Informationen zu speichern und zu verteilen.«
4. Karl der Große und Europa
Mit der Krönung von Karl dem Großen in Rom am 25. Dezember 800 durch Papst Leo III. war Europa dann zum zweiten Mal »ideologisch« vereint. Für den Erlangener Historiker Kurt Kluxen war dies »die eigentliche Geburtsstunde Europas«. Denn mit dem »Vater Europas«, wie Karl schon von seinenZeitgenossen genannt wurde, entwickelte sich eine »romanisch–germanisch-slawische Lebenswelt«. Für 700 Jahre war dieser Multikulturalismus vereint in dem Glauben an den einen Gott: Credimus in unum Deum. »Es waren schöne Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte. Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs«, schrieb 1799 der Dichter Novalis in seinem Aufsatz »Die Christenheit oder Europa«. Ein Manifest dieser Einigkeit waren die Bibliotheken der Kirche. Der Pater Bibliothecarus, der über die Buchbestände wachte und als größter Geheimnisträger galt, wurde nach dem Abt zum mächtigsten Mönch in den Klöstern, die mit ihren Orden ein europaweites Netzwerk bildeten.
Hinter dieser Einigung im Glauben stand indes noch nicht die Idee des Nationalstaates. Sie kam erst viel später, mit der Reformation und der Französischen Revolution. »Die Religion war längst Teil der Kultur, als die Völker begannen, sich als Nationen zu begreifen und in Nationalstaaten das Ziel ihrer politischen Bestrebungen zu sehen«, schreibt Manfred Spieker, Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück. Kurzum: Das einzige, was das Europa des Mittelalters einte, war der Glaube. Um ihn herum baute sich eine mächtige Priesterherrschaft auf, die wiederum von einer Wissenselite gestürzt wurde – mit der Erfindung einer neuen Technologie, nämlich des Buchdrucks, und mit dem Beginn der Reformation. Beides hängt eng zusammen. Ein »Geschenk Gottes« nannte Martin Luther den Buchdruck. So sahen es wohl auch seine Widersacher.
5. Ablaßbriefe & Steuern
Johannes Gutenberg, der 1450 begonnen hatte, eine 1282 Seiten starke Bibel zu drucken, nutzte seine Erfindung, um im Jahr 1455 Ablassbriefe für den Erzbischof von Mainz herzustellen. Es wäre so, als würde man das Internet erfinden, um damit Steuern zu kassieren. Es ist indes nie gut, wenn man eine Neue Welt zuerst durch Steuern zu sichern sucht. Vielleicht hatte die damalige Clinton-Administration dieses Beispiel vor Augen gehabt, als sie den Cyberspace vor fiskalischen Zugriffen schützte und zu einer Freihandelszone ohne Steuern und Zölle zumindest bis 2004 erhalten wollte. Denn die Geschichte mit dem Ablassbrief ging übel für die alten Machthaber aus, ebenso die mit der Teesteuer, mit der das britische Parlament seine Kolonien in Neuengland konfrontierte. Mit der Boston Tea-Party am 16. Dezember 1773, bei der Bostoner Bürger in ihrem Protest gegen die Steuer drei Schiffe der Ostindischen Kompanie enterten und 342 Kisten mit Tee über Bord warfen, begann das Ende der Kolonialherrschaft Englands. Man kann eine Neue Welt nicht durch Steuern an sich binden. Schon gar nicht durch eine Bitsteuer, die sich so mancher Finanzminister wünschte. Es wäre der erste Schritt zu einer neuen Unabhängigkeitsbewegung gewesen..
Stattdessen haben wir Bitcoin. Geld schürfen jetzt andere…
22 Kommentare:
„Von dem Geld, das wir nicht haben, kaufen wir Dinge, die wir nicht brauchen, um Leuten zu imponieren, die wir nicht mögen.“
Aus dem Film "Fight Club"
Deshalb gibt's die Journalyse" kostenlos... ;-)
👍👍👍
Geld muss man verdienen, sagen wir Deutschen. Geld kann man machen, glauben die Amis!
Karl Marx hat einmal gesagt: "Die Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein." Das bedeutet letzten Endes, dass Journalismus nur als Ehrenamt möglich ist. Wenn ich sehe, wie alle, die vom Journalismus leben wollen, letzten Endes um jeden "Groschen" (verzeiht den Anachronismus) betteln müssen, dann spüre ich, wie schwer dieses Geschäft aus wirtschaftlicher Sicht geworden ist - oder auch schon immer war. Wir sind Hungerkünstler, und gäbe es nicht unsere Eitelkeit, die befriedigt werden will, dann hätten wir gar nichts. Aber die lassen wir uns nicht nehmen.
Spaß beiseite - ich kenne keinen Weg aus dem Dilemma außer dem der Großzügigkeit und des echten Mäzenatentums. Aber dazu sind wir Deutschen viel zu geizig. Es könnte ja sein, dass das, was wir tun, wertvoller ist als Geld. Also tritt das Geld in seinem Minderwertigkeitskomplex erst gar nicht zum Vergleich an. Es will allein vergöttert werden - immerhin ist es ja sauer verdient...
Zitierte ich gestern schon:
"Die Deutschen sprechen vom Geldverdienen.
Die Franzosen gewinnen das Geld (gagner l' argant),
die Engländer ernten es (earn money),
die Amerikaner machen es (to make money)
und wir Ungarn - wir suchen das Geld.
André Kostolany"
Aber wenn ich mal was poste, liest mich niemand.
...aber wirklich nicht umsonst.
No name, no attention? Immerhin, meine Wenigkeit hat das zur Kenntnis genommen😉
Geld machen? Wir reden von Blüten?
Aus gegebenem Anlass die Pressemeldung zum Tage vom Digitalverband:
"Jeder und jede Fünfte zahlt für Journalismus im Netz".
Sie finden sie auf der Webseite unter www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Netz-Journalismus-Fuenftel-zahlt.
Lieber Analüst, was bleibt dem Verband Bitkom anderes übrig, als diese Zahl zu veröffentlichen! Er muss doch seine eigene Daseinsberechtigung belegen. Und die liegt nicht im Altruismus, sondern in einem System, das man dereinst Kapitalismus nannte. Der Erfolg des Netzes wird in Geld gemessen - der einzige Maßstab, der zählt und zählt und zählt (aber nie die bezahlt, die wirklich zählen). Das Internet wurde nicht von Betriebswirten erfunden, die haben noch nie etwas erfunden, noch nicht einmal die Tabellenkalkulation...
Betriebswirt Krösus hat im 700 Jahrhundert vor Christus in Lydia das Geld erfunden...
sorry: In Lydien
Die Presse war schon immer ein Gewerbe, der Journalismus dagegen nicht.
Die Verleger waren die gewerblichen Sklavenhalter der oft ichbesoffenen Journalisten.
Gegen Zeilengeld (gern veredelt durch 'Honorar') oder anderes Magersalär haben sie ihre Lebenszeit geopfert, obwohl im Vertrag nur Arbeitszeit notiert war. Im Geiste für die Aufklärung und den Literaturpreis schreibend, war als Thema doch nur die Stadtratssitzung oder die Jahrestagung des üblen und reaktionären Bauernverbandes gefordert. Dafür haben manche sich kleinbürgerlich gerächt - mit der spitzen Feder, die einzige Waffe, die sie hatten. Oder mit aufklärerischem Geist, indem sie dem Großkapital oder korrupten Politikern ein Feuerchen unter dem Hintern anzündeten. Mitunter hat es der Großverleger frühzeitig gelöscht.
Einigen gelang die intellektuelle Flucht in die Schriftstellerei, meist zeitweise, wenigen ganz.
Das ewige Problem der Journalisten ist: Sie sind uneins und sie sind sich uneins.
Ein üblicher Beruf wollten sie nicht sein, keine geordnete Ausbildung, keine Zunft, keine Innung - wovon die Verleger profitieren. So fehlte Ordnung als Voraussetzung zur Einheit. Vom kleinen Brotschreiberling bis zur sogenannten Edelfeder sammelt sich alles im Journalismus und viele verachten sich gegenseitig.
Als das Internet kam, kam Chaos auf, kamen plötzlich aus dem Nichts einige tausend Schreiberlinge dazu, deren besondere Fähigkeiten darin bestand, ein Textprogramm bedienen zu können unter der notwendigen Assistenz eines Korrekturprogramms.
Der Rest ist bekannt, die Lösung nicht, das Ende nah. Aber wie es letztlich endet weiß niemand.
Will vielleicht auch niemand wissen.
Das stimmt nun aber wirklich nicht. Auch im Tauschhandel tausend(e) Jahre davor, gab es geld(werte) und geld(ähnliche) werthaltige Attribute.
»Das Ende krönt das Werk«
Ovid (im Original: Finis coronat opus.)
Zu: "Die Presse war..."
Ich kenne diese Gefühle auch. Und dann versuche ich, diese Gefühle zu verstehen. Es gelingt mir nicht. Also verdränge ich sie. Wenn ich dann solche Zeilen lese wie die Ihren, dann kommen diese Gefühle wieder hoch - und vielleicht freue ich mich auch deshalb so sehr über die Freundlichkeit und Menschlichkeit in diesem Blog, weil hier die Kommentare so ehrlich hereinkommen - ohne all diesen Ballast. Im Grunde genommen sind wir ein völlig verklemmter, ziemlich neurotischer Berufsstand.
Sie haben absolut recht - habe schlampig formuliert. Meine das Münzgeld! Sorry 🤦♂️
Ein Berufsstand auf Mindestlohnniveau: Freie Journalisten erzielen heute bei einem durchschnittlichen Stundenlohn in Höhe von EUR 12,40 ein tarif-äquivalentes Monatseinkommen von EUR 1.751.
So sagen es eben die Amis. Wie auch 'make sense'.
Damit ist auch nicht gemeint, dass Sinn in einer Schmiede hergestellt wird wie eine Sense.
Ist Falschgeld nicht älter? 🙈
„Mensch sein heißt, sich minderwertig zu fühlen. Der Mensch bleibt unvollkommen, der ‚Gottesbegriff‘ entspricht am besten dem dunklen Sehnen des Menschen nach Vollkommenheit.
Alfred Adler (1870 - 1937), österreichischer Arzt und Tiefenpsychologe, Begründer der Individualpsychologie
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