Montag, 27. Mai 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 42)

"Click here for a great deal!“

                        1997: Financial Times

        

Erschießt die Programmierer!

Von Raimund Vollmer

Herbert Grosch, Amerikaner und ein Grandseigneur der IT–Großsysteme, rügte  1972 die unglaubliche Selbstvergötterung seiner Zunft in der ihm eigenen, bildhaften Sprache. „Ja, ihr habt jetzt eure Yachten“, rief er auf einer Tagung den IT–Experten zu, „aber wo sind die Yachten unserer Kunden? Wo sind die Yachten der Gesellschaft? Wir bauen unsere Spielzeuge nur zu unserem eigenen Nutzen und Spaß. Wir gestalten sie sogar derart esoterisch, dass wir es eine Profession nennen können. In Fragen der Ethik aber besitzen wir keine eigentliche Qualifikation. Wir sind für gar nichts zertifiziert. Wir sind nur dazu qualifiziert, uns von niemandem etwas sagen zu lassen.“[2]

Das war hart, aber treffend. Die Arroganz der Leute, die damals die Herrn über das Computerwissen waren, wurde nur noch übertroffen von ihrer Ignoranz gegenüber den Gefühlen und Gedanken der anderen – und von der Wirkung des eigenen Tuns, das sie auf eine wissenschaftliche Basis zu heben suchten und ihr den Namen „Informatik“ oder „Computer Science“ gaben Aber kann eine Disziplin, die sich permanent selbst überholt, überhaupt wissenschaftliche Gültigkeit erlangen?

Es ist das Jahr 1975, in dem Helmut Schelsky, einer der prominentesten Soziologen der Nachkriegszeit, sich in seinem Bestseller „Die Arbeit tun die anderen“ mit diesem Paradoxon auseinandersetzt. Er schreibt: „Die Wissenschaft als Produktivkraft verändert die Zukunft schneller und umfassender, als die Wissenschaft als Erkenntnis der Zukunft selbst fassen kann.“[3] Und auch Hegel hielt in seiner dialektisch determinierten Welt durchaus auch das Gegenteil parat, den Zufall und die Willkür, die „Unruhe des Werdens“, wie ihn Friedrich Jonas in seiner berühmten „Geschichte der Soziologie“ zitiert. [4] Diese Unruhe schlägt in der IT mit unbarmherziger Härte immer wieder zu.

Es gibt in der IT praktisch nie fertige Lösungen, sie ist eigentlich gar nicht planbar oder berechenbar. Ihre Erfolge hatte sie in der Vergangenheit einer cleveren Verkaufsmethode zu verdanken. Anbieter wie SAP, die das bei IBM gelernt hatten, stiegen, legitimiert durch ihre „Fachqualifikation“, bei den Unternehmen „auf höchster Ebene“ ein und verkauften ihnen ihre Softwarewunder.

Warum hatten sie diesen immensen Erfolg? Ganz einfach, Adressaten ihrer Charming-Offensive waren die Finanzchefs, die graue Maus, der ewige Langweiler im Vorstand der großen Organisationen. Der Einsatz von Enterprise Ressource Planning (ERP), wie diese Art von Software bald genannt wurde, verhieß den Finanzchef vollkommene Kontrolle über alle Geldflüsse im Unternehmen. ERP war ihr Projekt, und das boxten sie gegen alle Widerstände durch. Wo sie in anderen Abteilungen wegen Budgetüberschreitungen längst die Notbremse gezogen hätten, boxen sie ihr ureigenes Projekt ohne Rücksicht auf Verluste und Verspätungen  durch. Unmerklich veränderten sie damit das Selbstverständnis der Unternehmen. Die Firmen wurden mehr und mehr finanzgetrieben – sehr zur Freude der Aktionäre, sehr zum Leidwesen der Mitarbeiter. Diese sahen sich fortan einem stetig steigenden Kostendruck ausgesetzt. Die Finanzchefs hatten die Macht über alles – nicht nur über ihr eigenes Ressort, sondern über alle Prozesse. Software war auf dem Weg, den Sinn für alles, was wir taten, zu liefern.

Das Ergebnis: 43 Prozent der vom ZEW  um Auftrag des Forschungsministeriums alljährlich untersuchten Unternehmen, zeigen keinerlei Innovationsaktivitäten. Tendenz: Fallend. Was steigt, seien „soziale Innovationen“, die aber mit dem Geschäftsmodell nur wenig zu tun haben.

Nebenbei bemerkt: Junge Bewerber, begehrt wie nie zuvor, würden ihre Zustimmung zu einem neuen Arbeitgeber nur dann abgeben, wenn ihnen versichert wird, dass die Untzernehmen auch einen Bienenstock auf dem Dach haben. So erzählte jüngst ein Wirtschaftsprüfer über ihm mehrfach beriochteten Erfahrungen aus seinem Mandantenkreis. Arbeiterbienen als Beispiel für „soziale Innovationen“? Da werden auf Dauer auch die Finanzchefs kapitulieren… Bee Ressouce Planning statt ERP. Unser neues „Zurück zur Natur“.

Schelsky hatte noch gemeint, dass es die „Meinungsherrscher“, die Medien und  Pädagogen, sein würden, die unserem Leben mit ihrer Manipulationsmacht einen Sinn aufdrücken würden. Er glaubte, dass diese „neuen Herrschaftsgruppen daran Interesse haben, den Menschen immer mehr und leichter von einer Führung seines Lebens aus eigener Lebenserfahrung“ abzuschneiden. Er sah Herrschaft durch permanente Information und Belehrung von oben. Doch die weitaus mächtigeren „Meinungsherrscher“ waren die, die informiert wurden – durch Software, die ihrer Kontrolle unterworfen war, durch Enterprise REPORT Planning.

Herbert A. Simon, der 1978 den Nobelpreis für Wirtschaft erhielt, meinte schon damals, als sich diese Dominanz der Informatik in den siebziger Jahren abzeichnete, dass wir Gefahr laufen, von der Software nur noch als Maschinen gesehen zu werden – und schließlich uns selbst so sehen und verhalten würden.[5]

Nur das, was die Softwareleute für die Maschinen entwickelten, zählte. Und ihre Werke waren aus einem ganz besonderen, einem ganz anderen Stoff als dem, mit dem die Wirtschaft sonst umging. Dieser Stoff bestand aus reiner „Geistesmaterie“, wie es 1975 Frederik Brooks in dem bereits erwähnten Buch „The Mythical Man–Month nannte“.

Was die Programmierer leisteten, komme seiner Meinung nach „der Vorstellung von Gott gleich, der [ebenfalls] eine Freude daran hat, Dinge zu schaffen. Diese Freude zeigt sich in der Eigenart und Einzigartigkeit jedes Blattes und jeder Schneeflocke“ – oder in jedem Programm, das sich zwar beliebig und zu Null–Kosten vervielfältigen lässt, aber auch in sich einmalig sei.

In der Tat sind sie, die Programmierer, – was unsere Wirtschaft anbelangt – seit einem halben Jahrhundert dabei, eine Welt zu schaffen, die ohne Menschen existieren kann, ja existieren muss, um produktiv zu sein.

Eine Welt ohne Menschen zu errichten, war ohnehin in der Wirtschaft das Ziel von Anfang an. Die Industrielle Revolution hatte noch gar nicht richtig begonnen, da zeigte sie uns beispielhaft, wohin die Reise geht. In den Vereinigten Staaten baute 1784 der Erfinder und Unternehmer Oliver Evans die erste vollautomatische Getreidemühle der Welt. Auf der einen Seite füllten Arbeiter das Korn in der nur aus Holz gefertigten Anlage, auf der anderen Seite kam das Mehl heraus. Ohne irgendein menschliches Zutun. Und heute – im Zeitalter der Roboter – braucht man die Arbeiter auch nicht mehr. Sie wird sogar ohne Finanzchef auskommen.

Es ist eine programmierte, menschenleere Welt, in der – rein optisch – noch nicht einmal die Roboter an Menschen erinnern. Und aus dieser Welt wird letzten Endes auch die Species der Programmierer verschwinden. Denn ihre Produktivität ist alles andere als zufriedenstellend. Mitte der siebziger Jahre hatte das Fachblatt „Die Computer Zeitung“ die gerade erst erwachte Softwarebranche mit der Überschrift „Götterdämmerung für Programmierer“ schockiert. Die Programmierer gibt es noch, es wurden eher mehr als weniger. Die Zeitung allerdings existiert nicht mehr. Sie ist verschwunden wie so manche renommierte Fachpublikation, die mal glaubte, Sinn liefern zu müssen.

Der Engländer James Martin, ein Superstar unter den Lehrmeistern der Computerbranche der Nachkriegszeit, war der Meinung, dass sich auf Dauer die Maschinen selbst programmieren müssten. 1980 erklärte er kaltlächelnd in einem Interview mit dem Autor: „Die einzige Möglichkeit, die Programmier–Produktivität zu steigern, besteht darin, die Programmierer zu erschießen“.

Stattdessen hielten sich die Softwareentwickler ganz gut im Geschäft. Anstatt sich selbst zu eliminieren, beschlossen sie den Spieß umzudrehen. Alle zehn bis 15 Jahre beschließt die Branche, alles zu zerstören, was sie bisher geschaffen hat. Ein klarer Fall von Adamismus.


12 Kommentare:

Analüst hat gesagt…

Gewalt ist keine Lösung!

Anonym hat gesagt…

Unnützes Wissen: Grosch war der allererste Bartträger, den IBM jemals eingestellt hat. Und das von ihm formulierte "Gesetz" war lediglich die Formel, die der Preispolitik des damaligen Monopolisten zugrunde lag...

Besserwisser hat gesagt…

Was hat der letzte Absatz mit Adamismus zu tun? Der Adamismus betont doch die gemeinsame Menschlichkeit aller Menschen und lehnt die Idee ab, dass bestimmte Gruppen von Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Kultur überlegen oder minderwertig sind.

Besserwisser hat gesagt…

Selbstverletzendes Verhalten ist meistens ein Symptom einer stressbedingten psychischen Erkrankung...

Analüst hat gesagt…

James Martin wollte doch nur den ahnungslosen Finanz-Chefs seine CASE-Tools verkaufen. Da war ihm jedes auch noch so haltloses Argument recht & billig...

Anonym hat gesagt…

Die beschriebene Geschichte wird immer im Sinne einer planvollen Geschäftsidee erzählt.
Das haben diejenigen gerne, die an dieser Versuch-und-Irrtum-Arie beteiligt waren.
Mindestens zwei Dinge sind mir an diesen gleichlautenden Erzählungen zu wenig beleuchtet:
Die Finanzchefs standen in diesen Jahren unter gewaltigem Druck. In den Unternehmen wuchsen in den Wachstumszeiten die Bereiche chaotisch, dort wurde nach Gutdünken gestrickt und geflickt.
Das unkoordinierte Ergebnis ließ sich irgendwann zuerst im Rechnungswesen ablesen. Buchhalter sind Systematiker und sahen sofort ein, als die EDV Durchblick versprach. Das war keine Okupation machiavellistischer Typen, sondern die natürliche Biederkeit, Ordnung zu schaffen. Und diese wurde versprochen. Mehr gab ja damals die Software gar nicht her.
Bei den Programmierern fehlte das Fachwissen der Anwenderseite. Es wurde etwas versprochen, was man eigentlich nicht richtig verstanden hatte und auch gestrickt und geflickt bei saumäßiger Programmdokumentation, die weitgehend von der Sorgfalt des einzelnen Programmierers abhing. Im Rückblick wird eine Systemgeschichte erzählt, tatsächlich war es ein Spiel- oder Versuchsfeld, daß weitgehend nach Versuch und Irrtum seine Professionalität erst erarbeitete.
Dass das trotzdem irgendwie immer klappte, lag oft an den arbeitswütigen Typen der damaligen Zeit. Mit vier Tage Woche und bienenzüchtenden Achtsamkeitsaposteln wäre das nix geworden.

Analüst hat gesagt…

👍

Analüst hat gesagt…

CASE war Irrtum!

Anonym hat gesagt…

Zu einem Irrtum im Geschäftsleben gehören immer mindestens 2

Analüst hat gesagt…

Hier ganz viele. Das war mal ein Hype wie heute KI

Anonym hat gesagt…

Ich meinte: einer der den vermeintlichen Krampf angeboten hat und einer der sich das Ding abgesehen und gekauft hat...

Anonym hat gesagt…

War mir klar! Nur: es haben mehrere diesen Krampf angeboten und sehr viele sich davon überzeugen lassen