Mittwoch, 22. Mai 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 37) HEUTE: DIE BUNDESPUBLIK (15)


 1997: »Mit der Dynamik unserer Zivilisation rückt die unbekannte Zukunft uns näher; und die Nähe des Unbekannten macht angstbereit.«

Hermann Lübbe (*1926), deutscher Philosoph[1]

 

Anlässlich 75 Jahre Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik

 Die Pandemie der Angst

Freiheit ist nur noch schöner Schein. „Freiheit, schöner Götterfunken“, schillert es 1992 bei Günther Nenning (1921–2006), österreichischer Journalist und Aktivist, „Tochter aus Elysium, Mutter der Möglichkeit, Großmutter neuer Knechtschaft.“ In uns Heutige sah er bereits die „Angstbrüder des neuen Jahrtausends“. Mit gutem Grund: Wir kämen „aus der Epoche der Furcht vor Bestimmten“, wie dem Kalten Krieg mit seiner konkreten Bedrohung durch Atombomben, und geraten nun in die Epoche der Angst vor dem Unbestimmten“, schrieb er geradezu hellseherisch.[1] Ja, die Welt schien nach dem Fall der Mauer so festgefügt, dass man bereits vom „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) sprach. Und hatte nicht US-Präsident Ronald Reagan (1911–2004) zuvor mit seiner Strategic Defense Initiative (SDI) vorgehabt, den Schutzschirm bis in den Weltraum zu erweitern? Eine Welt ohne Überraschungen. Das wär’s. Das war’s.

„Wir leben in einer verwirrenden Zeit“, sprach indes 2014 der amerikanische Star–Informatiker Jaron Lanier (*1960) bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Pauluskirche.[2] Und er meinte dies keineswegs so banal, wie es klang. Denn ausgerechnet das Instrument, das uns am meisten Klarheit beschaffen soll, ist das, was genau diese Verwirrung erzeugt. „Wir Menschen sind Genies darin, uns durch den Gebrauch von Computern verwirren zu lassen. Das wichtigste Beispiel dafür ist, dass Computer so tun, als wäre Statistik eine Beschreibung der Realität.“ Und genau diesen Statistiken fielen wir in der Pandemie zum Opfer. Sie wurden zum einen Richtschnur des politischen Handelns, zugleich aber auch die Instrumente, die uns ratlos machten. Die Statistiken bestimmten uns ins Unbestimmte. Und dieses Unbestimmte, das liegt nun mal in der Luft. Unerklärlich.

Ja, das Unbestimmte kommt aus der Luft und verbreitet Angst. Nicht umsonst nannte der Philosoph Peter Sloterdijk (*1947) 2002 sein Buch über den Terror „Luftbeben“. Er meinte, dass wir in einer Zeit leben, in der „Harmlosigkeiten in Kampfzonen verwandelt“ werden. Und unser Alltäglichstes, die Luft, die wir ganz einfach bis zu unserem letzten Atemzug brauchen, ist da geradezu das ideale Medium.[3]

Die Luftbeben sind nicht kalkulierbar. Wir wissen nicht, aus welcher Richtung sie kommen. Sie heißen zum Beispiel „Nine/Eleven“ und legen Wolkenkratzer in Schutt und Asche. Sie umfassen die ganze Welt und nennen sich machtvoll „Klimakatastrophe“. Sie hatten jetzt einen weiteren Namen bekommen: Corona. Etwas ganz Spezielles – und doch Unbestimmtes. Ein Virus. Weder tot noch lebendig. Weder sichtbar noch sonst wie spürbar. „Weder Ziel noch Plan“, schrieb im August 2020 der ‚Economist‘. Das Virus ist entweder da oder nicht da, es ist aber nicht digital, sondern real und durchgetestet: Positiv ist schlecht, negativ ist gut. Kompliziert: Ja ist nein. Nein ist ja. Bei den Viren haben wir es mit einer Gattung zu tun, deren Zahl aus mehr Elementen besteht, als es Sterne am Himmel gibt, und die sich in ihrer Verbreitung und Vielfalt zu einer Nummer mit 32 Nullen hochrechnet. Und dennoch könnte im Internet jedes Virus-Element seine eigene Adresse haben, aber damit hätten wir es noch lange nicht im Griff. Das Virus ist ein Garant für eine alles und alle überwältigende Unordnung.[4]

Jürgen Habermas (*1929), dieser hochgelobte Philosoph und Soziologe, meinte im April 2020 in der ‚Frankfurter Rundschau‘: „Eines kann man sagen: So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie.“ Er ahnte schon in dieser ersten Phase des Lockdowns, dass wir – außerhalb der medizinischen Thematik – vor Fragen gestellt werden würden, deren Beantwortung äußerste Vorsicht verlangt. Es gäbe „einstweilen keinen Experten, der diese Folgen sicher abschätzen könnte“, meinte er in dem Zeitungs-Interview.  Wir würden zwar „große Unsicherheiten“ als lokale und ungleichzeitig auftretende Ereignisse kennen, aber das sei nun völlig anders. „Demgegenüber verbreitet sich jetzt existentielle Unsicherheit global und gleichzeitig, und zwar in den Köpfen der medial vernetzten Individuen selbst.“ [5]

Wer denkt noch an die Zeit, in der ein Niklas Luhmann (1927–1998), Soziologe und Systemtheoretiker, schreiben konnte, dass alles, was an Unheil auf uns zukommen mag, „keine gesellschaftlichen Auswirkungen“ hat, „solange darüber nicht kommuniziert wird.“[6]      Das war 1990. Womit er bestimmt nicht das Verschweigen empfehlen, sondern uns mitteilen wollte, dass sich jede Gesellschaft durch Kommunikation definiert und nicht durch eine physisch präsente Wirklichkeit. Kommunikation ist etwas, das sich verselbständigt. Noch nicht einmal die chinesische Bürokratie in Wuhan konnte dies verhindern. Und die Pandemie war vor diesem Hintergrund ein Paradebeispiel. Denn trotz aller Anstrengungen, die Kommunikation unter medialem Einsatz der profundesten Experten zu lenken, hat sich das Virus jedem Versuch der kommunikativen Steuerung entzogen. Es triumphiert über alle Systeme. Mit unseren Gedanken, hinter unseren Masken, werden wir allein gelassen, waren wir und sind wir dem Twittersturm ausgesetzt.  Übertall herrscht die Unbekannte: das X – wie sich Twitter jetzt konsequenterweise nennt.

So denken wir unbestimmt vor uns her. Was dabei zum Beispiel herauskommt, können wir im Internet sehen. „Rückblick auf ein Chaos“, heißt im Untertitel ein französischer Film mit dem Namen „Hold-up“, der am 11. November 2020 auf diversen Kanälen erschien und uns mit suggestiver Kraft all das Unbestimmte der Pandemie zu einer gigantischen Verschwörungstheorie zusammenfasste, vorgeblich Ordnung schuf, auch wenn diese kaum weniger erträglich war. Die französische Soziologin Monique Pinçon–Charlot (*1946) und mehr als 5000 „Bewohner dieser Erde“ enthüllten uns in dem fast dreistündigen Werk das wahre Ziel dieser ihrer Meinung nach künstlich in die Welt gesetzten Pandemie. Es gehe darum „die Ärmsten der Armen auszulöschen, weil die Reichen sie nicht mehr brauchen.“ 3,5 Milliarden Menschen sollen verschwinden.[7] Das ist alles. Nur die Reichen überleben. Die Ordnung, so möchte man nicht ohne Zynismus hinzufügen, ist wiederhergestellt. Die Bevölkerungsexplosion seit Ende des 2. Weltkrieges, eine Verdreifachung der Erdbewohner, gilt als die größte Ursache für die Überforderung unserer Umwelt und Ressourcen. Es wird eng, sehr eng. So trieben wir – mit den Worten des Tübinger Philosophen Otfried Höffe (*1943) – in eine „Virus–Diktatur“, schlimmer als alles andere in der Menschheitsgeschichte.[8]

Wäre das die „Neue Normalität“?

Oder wollte sich in diesen Jahren der Pandemie etwas durchsetzen, was man einen eopchalen Wandel nennen könnte – einen Wandel äußerster Brutalität?


16 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Normalität ist Gewöhnungssache.

Anonym hat gesagt…

Wandel, nicht Rede, ist des Weisen Lehre.
Laptse

Anonym hat gesagt…

Wenn man etwas sucht,
gibt es nur noch finden.......
Elazar Benyoëtz
Finden macht das Suchen leichter

Anonym hat gesagt…

In einer Welt der Lüge wird die Lüge nicht einmal durch ihren Gegensatz aus der Welt geschafft, sondern nur durch eine Welt der Wahrheit.
Franz Kafka

Anonym hat gesagt…

Eine halbe Wahrheit ist eine ganze Lüge.
Jiddisches Sprichwort

Raimund Vollmer hat gesagt…

Meine Erfahrung mit der halben Wahrheit ist genau die, dass damit in der Politik gelogen wird - wobei die größten Lügner nicht unter den Politikern zu finden sind, die wollen ja nur wiedergewählt werden, sondern unter den Amtsvorstehern, die wollen nicht, dass man ihre Absichten durchschaut.

Anonym hat gesagt…

Wenn Gott einem das Herz schwer machen will, gibt er ihm einen großen Verstand.
Jiddisches Sprichwort

Anonym hat gesagt…

Ein gut Genuß und einen guten Magen -
Dies wünsch ich dir!
Und hast du erst den Blog vertragen,
Verträgst du dich gewiß mit mir.
(Fast) Friedrich Nietzsche
"Scherz, List und Rache"

Anonym hat gesagt…

Ehre der Obrigkeit und Gehorsam, und auch der krummen.Obrigkeit! So will es der gute Schlaf. Was kann ich dafür, saß die Macht gerne auf krummen Beinen wandelt?
Also sprach Zarathustra.
Friedrich Nietzsche

Anonym hat gesagt…

Eine Lüge ist eine Lüge, zwei sind Lügen, aber drei sind Politik.
Jüdisches Sprichwort

Anonym hat gesagt…

Schließ Aug und Ohr für eine Weil / vor dem Getöns der Zeit. / Du heilst es nicht /
und hast kein Heil, / Als wo dein Herz sich weiht.

Anonym hat gesagt…

Vor einigen Wochen meldete sich bei mir ein Mann in Göttingen, der aus zwei paar alten seidenen Strümpfen ein Paar neue machen konnte, und seine Dienste offerierte. Wir verstehen die Kunst aus ein paar alten Büchern ein neues zu machen.
G.C.Lichtenberg. Satzwerk Göttingen 1999

Anonym hat gesagt…

Mehr Lichtenberg!
Goethe (letzte Worte)

Anonym hat gesagt…

Vademecum - Vadetecum
Es lockt dich meine Art und Sprach,
Du folgest mir, du gehst mir nach?
Geh nur dir selber treulich nach: -
So folgst du mir - gemach! gemach!
Friedrich Nietzsche

Anonym hat gesagt…

👍

Analüst hat gesagt…

Die Anschlussstelle Bonn-Bad Godesberg der Autobahn 562 trägt seit heute den Namen "Platz des Grundgesetzes". Besonderes Merkmal ist die Stadtschmuckanlage mit 200 Fahnenmasten. Dort hängen bei bedeutenden internationalen Anlässen oft die Flaggen der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen.