Montag, 20. Mai 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 36) HEUTE: DIE BUNDESPUBLIK (14)

Protestmarsch 1973 Quelle: DDW
 „Radikalismus: der Konservatismus von morgen als Injektion in die Angelegenheiten von heute.“

Ambrose Bierce (1842-1914), amerikanischer Schriftsteller

 Anlässlich 75 Jahre Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik

 

Wille & Gegenwille

 Von Raimund Vollmer 

Im Gezerre um die Macht werden die Parlamente an die Seite gedrückt. Eigentlich müsste dies auch für die Parteien zutreffen: Waren in den sechziger Jahren noch 15 Prozent der Wähler in den westeuropäischen Demokratien mit einer Partei verbunden, so sind es jetzt nur noch fünf Prozent, schrieb 2019 der ‚Economist‘.[1] Ja, die Parteien brauchen uns nicht mehr. Sie haben alle Ämter als „Lehen“ übernommen, hatte bereits der Philosoph Karl Jaspers 1966 befürchtet.

Der britische Politikwissenschaftler Vernon Bogdanor (*1943) meinte 1994, dass der Anstieg der repräsentativen Demokratien im späten 19. Jahrhundert verbunden war mit dem Wachstum der Parteien zu Massenorganisationen. Zugleich waren die professionellen Politiker daran interessiert, ihren Status zu sichern, und stellten sich deshalb jedem Versuch in Richtung direkter Demokratie entgegen. Doch nun schwindet das Interesse an den Parteien, und stattdessen wollen die Menschen durch Referenden mitentscheiden.[2] Gegen nichts sträuben sich die Parteien mehr als gegen das. Und wir, wir liefern ihnen auch noch mit unserem unflätigen Gebahren in den sozialen Netzen alle Argumente. Ein Patt zugunsten der Parteien.

Es ist aber so: Die Bürger wollen ihre Entscheidungs-Freiheit zurück, die schon Jaspers in den sechziger Jahren eingefordert hatte. Viel kam indes bislang dabei nicht heraus – außer Bürgerräte, die thematisch so eingebunden werden, dass sie ihren allgemeinen Willen und Unwillen gar nicht ausdrücken können – außer in den sozialen Medien, die alles tun, um ihren eigenen Ruf zu ruinieren.Und die in den Bürgeräten eingefangenen Bürger sind sehr zahm und einsichtig. Endlich hat die Regierung das Volk, das es sich schon immer am liebsten herbeigewählt hätte.

Dennoch tut sich etwas – in einer amorphen, auf Dauer nicht kontrollierbaren Weise. Die Mehrheit gehört nicht mehr den Parteien, sondern formt sich zu einem Mainstream  – und der gehört und gehorcht niemandem. Er ist sich selbst seiner nicht bewusst. Er ist das Gegenstück zur Bürokratie. Es entsteht fast schon so etwas wie ein „Allparteien-System“, einzig und allein sichtbar in der Ablehnung der AfD. Sie ist nicht der Mainstream, sondern genau die Partei, die den Mainstream sichtbar macht: „Gemeinsam gegen rechts“.  Ein Bündnis der Selbsttäuschung.

Ansonsten gibt in ihm keine große Koalition mehr – wie sie sich 1966 erstmals zwischen CDU/CSU und SPD mit überwältigender Mehrheit im Bundesparlament bildete. Alles ist spontan. Der Mainstream verändert sich ständig, konfiguriert sich zu den seltsamsten Koalitionen mit fast schon beliebig vielen Partnern. Er macht sich selbst, kommt und geht, wie und wann es passt, ist sich manchmal selbst im Weg, kümmert sich nicht um die eigenen Umfragen. Denn sie erzeugen nur Selfies – und zwar von den Meinungsforschern, nicht von den Befragten. Da ist man den einen Tag „Gottkanzler“ (wie 2017 SPD–Kanzlerkandidat Martin Schulz), und am nächsten Tag triumphiert das „System Merkel“, wie es damals der Soziologe Wolfgang Streek (*1946) nannte.[3] Wie unberechenbar und gnadenlos der Mainstream ist, bekam die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock zu spüren, kurz darauf erwischte es ihren Widersacher. Sie bekam eine Aufmerksamkeit, die sie so ganz bestimmt nicht wollte.

Alle Macht der Ohnmacht, alle Macht dem Mainstream?

Noch ist nicht die Zeit gekommen, wie sie sich 1992 eine Politikerin wie Hildegard Hamm–Brücher (1921–2016) gemeinsam mit Bundespräsident Richard von Weizsäcker herbeisehnte und in der die Bürgergesellschaft „eine Art Wächteramt ausüben“ würde, um vor allem die Parteien zu kontrollieren. Unsere Volksvertreter – so ihre Kritik – würden ihr Mandat in einem Parlament ausüben, dessen „Mehrheit sich nicht als ‚erste Gewalt‘ versteht, sondern als Vollzugsorgan der eigenen Regierung.“ Harte Worte damals, heute wären sie fast schon ungeheuerlich. So etwas sagt man nicht, wenn man nicht in die Nähe einer Verschwörungstheorie gerückt werden will.[4] Aber es kann durchaus sein, dass ausgerechnet die Mittel der direkten Demokratie dazu dienen, das Parlament zu stärken. Das Parlament brauchte seine eigene außerparlamentarische Opposition. Es braucht uns. Wir sind die Macht der Ohnmacht. Aber paternalistischgeführt – wie in den Bürgerräten – wollen wir nicht.

Da muss schon mehr kommen.

Der erste Kandidat für die Entwicklung einer solchen Theorie wäre übrigens Rudi Dutschke (1940–1979), der geistige Anführer der einstmals so gefürchteten außerparlamentarischen Opposition (APO). Die Linke sähe im Bundestag nur noch einen „Verein von Charaktermasken“, hatte er gesagt.[5] Nicht gerade nett. „Radikalen Antiparlamentarismus“ nannte dies einmal der frühere Bundestagspräsident Jenninger anlässlich der Einweihung der renovierten Frankfurter Paulskirche, dem Symbol für Demokratie in Deutschland schlechthin.[6] Nun soll sie als „überragender historischer Erinnerungsort für die deutsche Demokratie“ erneut renoviert werden.[7] Die Demokratie bekommt ihr Museum – es müsste vor allem ein Museum des Protestes sein.

Denn dahin treibt die Bundesrepublik. Unsere Parteien genießen zu viele Privilegien der Demokratie, nicht wir, Frau Merkel, Herr Scholz, unseren beiden vorerst letzten und zukünftigsten Museumsstücken! (Kein SPD-Kanzler hat bislang zwei volle Legislaturperioden überstanden.)

Aber aufgepasst!Am Ende stürmen wir die Paulskirche.

23 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Wir müssen uns unsere Demokratie zurückholen.
Aiwanger. Vorsitzender Freie Wähler

Anonym hat gesagt…

(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen.
Art. 21 GG
Heute bestimmen Sie die politische Willensbildung obwohl ihre Repräsentanz deutlich gesunken ist.
Wir sind inzwischen ein von Parteien repräentierter Staat.
Der Anteil der Bundestagsabgeordneten der Parteien dürfte nur dem Anteil entsprechen, den die Wahlbürger den Parteien gegeben haben.
Derzeit ca. 60% (Bei 5% Klausel).
Bei Abstimmungen im Bundestag muss dasselbe gelten.


Anonym hat gesagt…

Magie, die - Kunst, Aberglauben (Anmerk. wie Parteiprogramme, Braunkohlewerke marode Stahlkonzerne), zu Münzen zu machen. Es gibt andere Künste, die dem gleichen hehren Ziel dienen, aber der diskrete Lexigraph nennt sie nimmer.
Ambrose Bierce Des Teufels Wörterbuch Haffmanns 1986

Anonym hat gesagt…

Patriotismus, der - entflammbarer Müll, bereit für die Fackel eines jeden, der ehrgeizig ist und seinen Namen beleuchtet sehen möchte.
Ambrose Bierce Des Teufels Wörterbuch Haffmanns 1986

Anonym hat gesagt…

Ein Staatsmann, der einer Versammlung der Handelskammer beiwohnte, meldete sich zu Wort; doch gab es Einspruch mit der Begründung,
er habe nichts mit Handel zu tun.
"Herr Vorsitzender", sagte ein Betagtes Mitglied und erhob sich, "ich möchte bemerken, saß der Einwand unbegründet ist; die Verbindung des Gentleman zum Handel ist äußerst eng. Er ist eine Ware."
Ambrose Bierce. Fantastische Fabeln

Anonym hat gesagt…

"Schon recht, mein Herr, schon recht! Sie können mich nicht leiden; auch das begreife ich wohl und verarge esIhnen nicht. Wie müssen scheiden, das ist klar, und Sie fangen an, mir sehr langweilig vorzukommen."
Adelbert von Chamisso
Peter Schlehmils wunderbare Geschichte 1999 Vitalis Prag

Anonym hat gesagt…

Das gab's schon mal:
"So war denn auch das erste, was zu tun war, sich den herrschenden Ideen anzupassen.
Die einen wünschten das Kaiserreich wieder herbei, andere die Orleans, noch andere den Grafen von Chambord. Alle aber waren sich einig darin, dass eine Dezentralisation dringend notwendig sei, und es wurden die verschiedensten Wege und Möglichkeiten vorgeschlagen, unter anderm auch folgende: Paris mit einer Menge von großen Straßen zu zerschneiden und so in Dorfschaften aufzuteilen, den Sitz der Regierung nach Versailles zu verlegen, mit den Hochschulen nach Bourges überzusiedeln, die Büchereien abzuschaffen und alles vertrauensvoll in die Hände der Divisionsgenerale zu legen. Und man schwärmte vom Landleben, da ja der ungebildete Mensch naturgemäß mehr Verstand besitze als die andern.
Überall schwebte Haß: Haß gegen die Volksschullehrer und gegen die Weinhändler, gegen die obersten Gymnasialklassen, den Geschichtsuntrerricht, gegen die Romane, die roten Westen, die langen Bärte, gegen jede Art Unabhängigkeit und jedwede individuelle Äußerung, denn es galt, dem Autoritätsprinzip wieder Geltung zu verschaffen; gleichgültig in wessen Namen auch immer die Autorität ausgeübt wurde, gleichgültig von welcher Seite sie kam: wenn es nur eine Kraft, eine Autorität war."
Gustave Flaubert Lehrjahre des Herzens. 1843
Winkler Verlag München

Anonym hat gesagt…

So hört nun auf. Und nicht länger mehr /
Weckt Totenklagen. Denn vollgültig stehen diese Dinge
/in Kraft nun.
Sophokles 497 - 406 v. Chr.
Ödipus auf Kolonos
Insel tb 1996
Ödipus auf Kolonos

Analüst hat gesagt…

Was genau ist "unsere" Demokratie, Herr Aiwanger?

Analüst hat gesagt…

Weibes Wille, Gottes Wille.
Aus Frankreich

Anonym hat gesagt…

Ohnmacht züchtet Wut.
Else Pannek (1932 - 2010), deutsche Lyrikerin

Anonym hat gesagt…

Das ist die Demokratie, die die in Berlin, die den Arsch offen haben, kaperten.

Besserwisser hat gesagt…

Du bist verrückt mein Kind,
Du mußt nach Berlin.
Wo die Verrückten sind,
dort gehörst Du hin.

Aus Berlin

Anonym hat gesagt…

Nein, meint Herr Müller-Lüdenscheidt:
Gehn Sie nicht an tosenden Gestaden baden.
Es winkt ein spätes Lebensende,
beim Bad zuhause,
mit der Ente.

Anonym hat gesagt…

Es meint Herr Doktor Klöbner:
Gehn Sie lieber gar nicht baden,
sonst droht ein feuchter Wasserschaden.

Anonym hat gesagt…

.......Ich zaudre noch, die Kerzen auszublasen,
Nun hör ich sie, wie leise sie auch gleitet,
Mit geringem Blick die Hochgestalt umschweif' ich,
Sie senkt sich her, die Wohlgestalt ergreif' ich.....
Joh. Wolfgang v. Goethe
Das Tagebuch
Vollmer-Verlag Wiesbaden

Anonym hat gesagt…

Unchain my heart

Why lead me through a life of misery
When you don't care a bag of beans for me
Unchain my heart
Please set me free

Aus einem Song von Joe Cocker

Anonym hat gesagt…

Ach Gott! Warum braucht der einen ganzen Sack Bohnen für sein Herz?

Anonym hat gesagt…

Sein Herz ist ihr nicht eine Tüte Bohnen wert - also 85 Cent or less. Da ist er natürlich enttäuscht. Wie Otto in "Ein Fisch namens Wanda"

https://www.youtube.com/watch?v=R2kgjilRSOg

Anonym hat gesagt…

Über einen gescheiterten Idealisten lacht ihr! — Um Phaeton, der den Donnerwagen lenken wollte und zu schwach war, die Zügel zu führen (er stürzte, wie Prudhomme, Louis Blanc, wie die bessere »Linke« der Paulskirche), weinten die Heliaden so lange, bis sie in zitternde Erlen verwandelt waren. Ihre Thränen flossen so reichlich, daß sie sich zum Bernstein verdichteten.
Karl Gutzkow (1811 - 1878), deutscher Schriftsteller und Journalist, Pseudonym: El Bulwer

Anonym hat gesagt…

Die Starken haben Willenskraft, die Schwachen Hoffnung.
Deutsches Sprichwort

Anonym hat gesagt…

Danke für die Klarstellung!

Besserwisser hat gesagt…

"Unchain my heart" ist ursprünglich ein Song von Ray Charles aus dem Jahr 1961
https://www.youtube.com/watch?v=PVA1SguDM-g