Montag, 10. Juni 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 46): Droht uns China? (1)


 Individualität hat sehr viel mit dem Phänomen der Komplexität zu tun. Komplexität entsteht überall im Universum.

Murray Gell-Mann (1929-2019). Amerikanischer Physiker und Nobelpreisträger[1]

 

 

 

 

 

 

Unter dem Himmel

 Von Raimund Vollmer

Eine ganze Generation ist vernarrt ins Jetzt, verharrt im Jetzt, lebt im ewigen Jetzt, im blitzschnellen Netz. Es ist die Generation unserer Kinder. Die Kinder von uns Büromaten, den Beratern, Beamten und Bonzen. Wir sind nur noch die Elite von gestern. Es ging uns gut. Ja, uns, den Alten, ging es besser als unseren Vätern und Müttern.

Nun gehen wir besser. Kollektiv. Wir stören. Jetzt. Es ist nicht mehr unsere Welt.

Denn es geht um ganz andere Pläne – wie sie zum Beispiel die chinesische Regierung ins Werk setzen will? Jetzt sei ein „historischer Moment“ gekommen, schrieb 2018 die „Volkszeitung“, das Zentralorgan der kommunistischen Partei, ein Augenblick, auf den „man tausend Jahre warten“ musste. 

Es ist die chinesische Revolution. Eine permanente Revolution. Es ist der nächste Lange Marsch. Eine Kulturrevolution, die das Jetzt endgültig von dem Individuellen befreit, uns eine Weltordnung gibt. Alles wird wieder zu einer großen Gemeinschaft synchronisiert – zu einem Jetzt-Stream.

Dahinter steht der Wunsch nach einer Herrschaft über alles, was zwischen Himmel und Erde geschieht – und mehr ist, als sich unsere Schulweisheit träumt. Ganz im Sinne des Großen Vorsitzenden Mao Tse Tung (1893-1976), Er sagt: „Unter der Führung der Kommunistischen Partei genügt es, dass es Menschen gibt, und schon lässt sich jedes Wunder vollbringen.“[1]

Diese Herrschaft, die nun auf uns zurollt,  umfasst mehr als das Reich der Mitte. Sie zielt auf eine neue Weltordnung, die – wie dereinst die Französische Revolution – das 21. Jahrhundert mit neuer Wirklichkeit füllen soll. Es geht um Sein oder Nichtsein. Mit uns oder ohne uns.

Tianxia“ (sprich: Tiänchia), „alles unter dem Himmel“, heißt die Zauberformel, unter der sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem großen Ganzen vereinen, einem Konzept, das sogar die Kritiker des chinesischen Regimes teilen.[2] Der chinesische Philosoph Zhao Tingyang (*1961) hatte 2005 diese Weltordnung entwickelt und mit großem Wohlwollen der Partei in Szene gesetzt. Sie sei eine „Einladung an eine übernationale Weltgemeinschaft, wechselseitige Beziehungen zu schaffen, deren geteilter Nutzen den Nutzen der einzelnen Teile übertrifft“, schrieb im Januar 2020 der Kulturjournalist Gregor Dotzauer (*1962) im Berliner ‚Tagsspiegel‘.[3]

Die Gemeinschaft steht über allem. Eigentlich eine uralte Forderung, die hier gegen das westliche Modell des Liberalismus und Individualismus erhoben wird. Der  Journalist Dietrich Strothmann (1927-2016) hatte es bereits 1974 in der Wochenzeitung ‚Die Zeit‘ geahnt, als er sich in einem Bericht mit der Volksrepublik China befasste.  Die permanente Revolution diene letztlich dem Ziel, eine „Weltgesellschaft der großen Harmonie“ zu errichten.

Wir sind jetzt im chinesischen Jahrhundert, in dem die ganze Welt sich neu synchronisieren soll.

Dieses chinesische Jahrhundert begann mit dem Tode Maos, 1976, mit dem Ende der bürgerkriegsähnlichen Kulturrevolution, die unter dem Terror der Rotgardisten jegliche Form von Individualität auszumerzen suchte.[4] „Wir sind entschlossen, die alte Welt auf den Kopf zu stellen, sie in Stücke zu schlagen, sie zu Staub zu verwandeln, Chaos zu errichten und eine große Unordnung zu stiften“. So hatten 1966 Studenten an die Außenmauer der Tsinghau-Universität in Peking geschrieben. Der Jugendkult nahm seinen Anfang – und inspirierte bald die gesamte westliche Welt. Jim Morrison, der Frontman der Doors, sang und schrie es hinaus:

„We want the world, and we want it – now.”

Wir wollen die Welt, und wir wollen sie – jetzt. Es war unerhört.

Und jetzt? Die Welt gehört jetzt anderen. Den Chinesen?

Ein Riss ging nicht nur durch das Land des Großen Vorsitzenden, auf dessen – zu   einer roten Bibel zusammengestellten – Worte sich alle Gegner und Gegengegner beriefen. Doch dann übernahm Deng Xiaoping (1904-1997) die Partei – und der wirtschaftliche Aufstieg Chinas begann. „Seit 1976 genoss das Land ein Jahrzehnt des Friedens und des Wirtschaftswachstum, wie es dies in diesem Jahrhundert möglicherweise noch nie erlebt hat“, schrieb 1986 die britische China-Kennerin Colina MacDougall in der ‚Financial Times‘.[1] Im selben Jahr bemerkte der chinesische Systemkritiker Fang Lizhi (1936-2012) vor Studenten der Togij-Universität in Shanghai: „Momentan funktioniert überhaupt nichts mehr, in der Wirtschaft, im kulturellen Bereich, im Erziehungswesen und in der Wissenschaft. Da klappt rein gar nichts mehr.“[2] Er forderte eine totale Verwestlichung seines Landes. Er forderte Demokratie.

Genau das aber war überhaupt nicht die Linie der Partei.

Deng Xiaoping, bewundert vom deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt, mit dem er 1975 zum ersten Mal in Peking zusammentraf, stellte unmissverständlich die Partei über alles. Menschenrechte und Demokratisierung interessierten ihn nicht. Doch die Studenten protestierten aufs heftigste. Mit Hungerstreiks und endlos langen Demos auf Pekings Prachtstraße Changan Jie – und „gaben erstmals seit 1949 Chinas Volk eine Stimme“, schrieb im Mai 1989 der britische ‚Economist‘.[3] Das geschah in Anwesenheit des sowjetischen Generalsekretärs Michail Gorbatschow, der auf Staatsbesuch in der chinesischen Hauptstadt weilte. Am 4. Juni 1989 gab Deng Xiaoping den Befehl, mit Panzern gegen die Studenten vorzurücken. Im Zentrum stand der Platz des Himmlischen Friedens. Die Toten fand man indes in den Straßen – nicht im Brennpunkt der medialen Aufmerksamkeit, nicht auf dem Platz des Himmlischen Friedens.  

Doch die Empörung war weltweit. Sie änderte nichts.

Der Zwangs-Aufstieg ging weiter. China avancierte zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt. Jetzt will das Land, in dem vor Jahrtausenden in Gestalt der Mandarine die Bürokratie erfunden wurde, seine ganze Macht entfalten. Dafür steht seit November 2012 vor allem Präsident Xi Jinping (*1953). Er will über alles bestimmen. Über Staat, Wissenschaft, Gemeinschaft. Über Wirtschaft, Künste und Gesellschaft.

Er will das totale Jetzt. Er will – wie er es nennt – den großen „chinesischen Traum“.[4] Und er, der Herrscher über 1,4 Milliarden Menschen, will ihn mit uns allen teilen. Mit dem „American dream“ hat dieser chinesische Traum indes nichts zu tun. Im Gegenteil: Er will ihn ersetzen. Durch ein globales System der Kontrolle. Alles wird in die Pflicht genommen – in die der Partei.

Präsident Xi Jinping gilt als ein treuer Schüler Maos. Sein Ziel ist der „Sozialismus chinesischer Prägung für ein neues Zeitalter“.[5] So hatte es Xi Jinping am 18. Oktober auf dem 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas verkündet und ein Jahr später in der Verfassung verankert.

Die Botschaft ist klar: Sozialismus statt Individualismus. Das ist die neue Weltordnung. 2049 – wir, die Alten, werden es nicht mehr erleben – ist es soweit. Maos Volksrepublik wird hundert Jahre alt. Das Jetzt gibt sich einen Termin, setzt sich ein Datum. So kommt es. Ganz bestimmt. Denn es geht ums Ganze. Das ist bestimmt nicht nur im Reich der Mitte, sondern überall, wo Himmel ist.

Am Ende des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung wurde das anonyme Wir ganz allmählich durch das selbstbewusste Ich ersetzt. Am Ende des zweiten Jahrtausends sah es so aus, als hätte sich der Individualismus europäisch-amerikanische Prägung endgültig durchgesetzt. Doch just in dem Augenblick, in dem der Sozialismus am Boden lag, begann offenbar der Wiederaufstieg des Wirs. Wird das Wir nun erneut triumphieren – im Namen unserer Verantwortung gegenüber der Welt?

Was jetzt? Es gibt dieses Wir nicht. Es ist eine Illusion. Was zählt, ist die Sache. Der Apparat. Die Partei. Die Bürokrartie. Das System. Und was ist mit uns?

Der Dichter Heinrich von Kleist (1777-1811) gab uns 1801, gleichsam in den Anfängen unserer neuen Zeitrechnung für dieses Jahrtausend, den unumstößlichen Gegenbefehl:

„Aber in uns flammt eine Vorschrift, und die muss göttlich sein, weil sie ewig und allgemein ist; sie heißt: erfülle Deine Pflicht.“

Er sagt: Erfülle Deine Pflicht – und nur Deine! Nicht die einer Partei, einer Regierung, nicht eines Apparates oder eines Systems.

Ungeheuerlich. Fortsetzung folgt. Jetzt. Oder nie...


10 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

„Die Pflicht begleitet uns mithin durchs ganze Leben [...], als Pflicht gegen Obere, als Pflicht gegen Untergebene, als Pflicht gegen Gleichgestellte, als Pflicht gegen Menschen und als Pflicht gegen Gott. [...] Stetes Pflichtbewußtsein ist die wahre Krone des Charakters.“
Samuel Smiles (1812 - 1904), englischer Sozialreformer
Quelle: Smiles, Der Charakter (Character), 1871

Anonym hat gesagt…

Eine Gemeinschaft,
die durch Gewalt zusammengehalten wird,
ist keine Gemeinschaft
Gerald Dunkl (*1959)

Anonym hat gesagt…

.....ist eine Gesellschaft.
Haben wir hier doch schon gelernt.

Anonym hat gesagt…

Entengeile Glückwünsche zum 90. lieber Leidensbruder Donald Duck!

Anonym hat gesagt…

Von T'ing-chou nach Ch'ang-sha
1930 Juli
Im Juni: des Himmels Armee bekämpft den Verderber,
mit Tausendmeilenstricken will sie das Ungetüm fesseln.
Die Kan Wasser trüben, rotgefärbt
ihre Biegung;
die Flanke setzt ihr Vertrauen auf Huang Kung-lüeh.
Millionen Arbeiter, Bauern: alle im Sturmschritt,
wie Matten aufrollend Kiangsi, voran gegen Human und Hupei.
Die Internationale, tragischer Gesang;
ein Wirbelwind, den Unsern vom Himmel gefallen.
Mao Tse-tung. 37 Gedichte
München 1967

Anonym hat gesagt…

Da müsste sich mal eine deutsche Regierung ein Beispiel an China nehmen:
Einen klaren Plan zu haben,
einen langfristigen, strategischen, zukunftsfähigen und ihn durchsetzen zu wollen.
Dazu braucht man aber Köpfe!

Anonym hat gesagt…

Mao wollte einen demokratischen Sozialismus, nicht den von Xi

Analüst hat gesagt…

When the Music’s Over 😎
The Doors 1967

Anonym hat gesagt…

Schönes Stück! 🥁

Analüst hat gesagt…

Wegen des Zitates daraus: „We want the world, and we want it – now.”