Montag, 28. Januar 2013

Die Herkunft von Big Data: Ein uralter Traum



Von Raimund Vollmer
Als 1890 der Ahnherr aller Mainframes, die Lochkartenmaschinen des Herman Hollerith, zum ersten Mal bei einer Volkszählung im Großeinsatz war, meldete der Superintendent des Census, Robert Porter nach dem Studium der Ergebnisse, dass nun auch der Westen der USA so dicht besiedelt sei, dass von einer Grenzlinie nicht mehr gesprochen werden könne. Für den Historiker Frederick Jackson Turner war dies ein Schock. Ohne eine New Frontier würde jetzt, hundert Jahre nach der Verabschiedung der amerikanischen Verfassung, der Pioniergeist der Pilgerväter untergehen. Doch justament hatten die USA ein völlig neues Grenzland betreten: die Welt der Computer. Deswegen und weniger wegen der Resultate sollte die Volkszählung von 1890 in die Geschichte eingehen. Heute ist die Zukunft der gesamten Welt von der Weiterentwicklung dieser Technolo­gie abhängig. Sie ist derart allgegenwärtig, dass niemand mehr wirklich weiß, wie viele Computer und elektronische Mobil-Geräte eigentlich die Erde bevölkern und auf die Netze zugreifen...

Mit dem Aufmarsch der ersten Computer Ende des 19. Jahrhunderts wurde überall nach bislang nicht gelösten Aufgaben gesucht - und eines der ergiebigsten Felder schien die Planung zu sein. Endlich schien sich die Wirtschaft einen Traum erfüllen zu können, der bislang immer an der Leistungsfähigkeit der Technik gescheitert war. Aber es waren nicht nur die Unternehmen, die frohlockten, sondern vor allem der größte Abnehmer von Computerleistung: der Staat. Er glaubte darin ein Instrument gefunden zu haben, mit dem er alles steuern konnte - vor allem den Markt. Ihn in den Griff zu bekommen, ist ein Wunsch, der älter ist als die Industriegesellschaft. Schon im 18. Jahrhundert hatten Sozialphilosophen an Modellen gewerkelt, mit denen sich die Ereignisse in der Welt in Zahlen ausdrücken und gestalten ließen.

Den ersten Durchbruch brachte Wassily Leontief, ein aus Petersburg stammender Mathematiker. Er war 1931 nach Studienjahren in Deutschland in die USA ausgewandert. Noch fehlten ihm die Computer, wie wir sie heute kennen. Doch er legte 1941 ein sensationelles Werk vor, das wie geschaffen war für die Welt der Informationstechnologien. Der Titel: »The Structure of American Economy 1919‑1939«. Erstmals war es in diesem Opus gelungen, die Beziehungen innerhalb der amerikanischen Volkswirtschaft in Form einer Matrix darzustellen. 
Nun konnte man genau sehen, wie der Wirtschaftskreislauf funktionierte ‑ gleichsam auf einem Spreadsheet.[1] Dieses Werk machte ihn weltberühmt und war einer der Gründe, daß er 1973 den Wirtschaftsnobelpreis erhielt. Aber eine Frage blieb: wie stabil war diese Wirtschaft? Denn in der Zeit zwischen 1919 und 1939 lagen mächtige Marktereignisse wie der Börsenkrach und die Große Depression.
Als dann 1959 die amerikanischen Ökonomen I. und F.L. Adelman eine brisante Studie unter dem unscheinbaren Titel »The dynamic properties of the Klein‑Goldberger Model« vorstellten, schien auch diese Frage beantwortet. Auf der Basis von statistischem Materialien hatten die beiden Forscher festgestellt, daß das Wirtschaftssystem in sich stabil sei. Konjunkturzyklen seien auf reine Zufallsschwankungen zurückzuführen.[2] Endlich hatte man einen Beleg dafür, daß man nur einen Computer brauchte, ihn mit allen verfügbaren Daten fütterte ‑ und schon war Wirtschaft nur noch ein Rechenexempel. Den Zufall brauchte man nicht weiter zu berücksichtigen. Leontiefs These konnte umgesetzt werden: »Die Ökonomie ist ein gigantischer Computer, der die numerische Lösung einer großen Anzahl von Preisgleichungen durch schrittweisen Vergleich errechnet.«

Wie aber bekam man die Daten in den Computer? Ganz einfach. Der österreichische Wirtschaftswissenschaftler Joseph A. Schumpeter hatte bereits 1918 festgestellt, daß »alles, was sich ereignet, sich im fiskalischen Bereich widerspiegelt.« In der Gestalt von Zahlen, der Urinformation des Bits.
Alle Wirt­schafts­sub­jek­te, die Bürger und Unternehmen, die Banken und die Behörden, lieferten mit ihren Steuererklärungen, Bilanzen und Haushaltsplänen die notwendigen Daten. Der Staat hockte längst auf einem riesigen Zahlenberg.[3] Man brauchte eigentlich nur genügend Rechenkapazität. Und so wurde die Datenverarbeitung in den sechziger und vor allem in den siebziger Jahren von Staat und Wirtschaft als eine Schlüsselindustrie entdeckt, die man nach Kräften zu unterstützen hatte.

So war der Staat bereits in den dreißiger Jahren der größte Kunde der IBM geworden - und er lockte mit weiteren Aufgaben nicht nur auf Bun­des­ebe­ne, sondern auch in den Kommunen. 
1960 hatten Wis­sen­schaft­­ler dem damaligen IBM-Chef Thomas J. Watson Jr. ein Vorschlag unterbreitet, der ein gewaltiges Simulationsprogramm für die detailgenaue Gestaltung von Städten zum Gegenstand hatte.[4] »Die innerstädtische und regionale Verkehr stellt eine der auffälligsten, aber nicht die bedeutsamste Planungslücke dar. Die schmerzlichen Folgen der fälschlichen Annahme, der Markt regle alles von selbst, sind auf dem Gebiet des Wohnungswesens in den Städten und Vororten sowie in der Grundstückerschließung für gewerbliche und andere Zwecke zu sehen«, schrieb 1968 Galbraith. [5] Wo der Markt nicht funktionierte, mussten Planung und Simulation her. Mit deren Hilfe ließe sich sogar trefflich gegen den Markt argumentieren. Das beste Beispiel dafür lieferte 1971 Bericht des Club of Rome über »Die Grenzen des Wachstums«, der auf Prognosemodellen basierte, die allesamt aus dem Computer kamen.
(Auf der Basis eines 1998 verfassten Artikels, geringfügig verändert)

[1] Die Zeit, 5.11.1993, Petra Pinzler: »Die ganze Wirtschaft auf einem Tableau«, danach zitiert
[2] Anton Rauscher (Hrsg), Köln 1973, Kapitalismus‑Kritik im Widerstreit, hier: Werner Meißner: »Inhalt und Tendenz der Kritik am `Spätkapitalismus'«, danach zitiert
[3] Joseph A. Schumpeter, Graz 1918: »Die Krise des Sozialstaates«
[4] William H. Rodgers, Hamburg 1971: »Die IBM Saga«, Seite 420
[5] John Kenneth Galbraith, München-Zürich 1968: »Die moderne Industriegesellschaft«, Seite 399

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