Drei Jahre später immer noch aktuell?
Eine unzeitgemäße
Betrachtung von Raimund Vollmer
ERSTER AKT
1990: „Wir gehen jetzt einer Zeit entgegen, in der der Frieden gefährlicher wird als der Krieg.“
Friedrich Dürrenmatt (1921-1991), Schweizer Schriftsteller und Dramatiker
Erstveröffentlichung am 6. Mai 2022. unterder Überschrift "Jetzt reicht's"
Ich
bin nur ein ganz kleiner Staatsbürger, längst verschwunden im
Rentnerdasein, im Nichts des Nichtstun und des Nichtsnutz. So bin ich
natürlich voll darauf angewiesen zu hören und zu denken, was die, die
denken, dass sie klug und weise denken, so denken. Und deshalb studiere
ich demütig Emmas Brief an unseren Bundeskanzler, der vor allem ihr
Bundeskanzler wird, wenn er denn so denkt wie sie und nicht wie die
anderen, die Frieden schaffen mit schweren Waffen. So jedenfalls lautet
die Absicht. Ihnen reicht's.
Doch
Emmas Freunde halten dagegen: Zwei Grenzlinien seien JETZT erreicht,
schreiben die 28 Unterzeichner des Briefes, der mit größter Inbrunst
verfasst wurde – voller edlen, vornehmen Gemüts, dass es einem, der sich
bis zum 29. April 2022 traute, es anders zu sehen, ganz mulmig wird.
Da
sei „erstens das kategorische Verbot, ein manifestes Risiko der
Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen.“
Das klingt sehr intellektuell, das ist es wohl auch. Sehr vernünftig
und getragen. Auch das Zweitens, das „Maß an Zerstörung und menschlichem
Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung“, dem ein Ende gesetzt
werden müsse, markiert eindeutig eine Grenzlinie, die uns einzäunen
soll. Was will man dagegen sagen!
Ja,
es reicht. Es ist schon viel zu viel Leid geschehen. Auf beiden Seiten,
hallt es aus dem Emma-Tal: „Selbst der berechtigte Widerstand gegen
einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen
Missverhältnis“. Das ist schön gesagt, all der Schriftsteller und
Feindenker würdig, die ihn unterschrieben haben. Edelmütig warnend.
Irgendwann – so lese ich in meiner Schlichtheit heraus – wird sich
ansonsten die Ukraine so sehr gewehrt haben, dass sie in die Rolle des
Aggressors zu fallen droht. Dann gilt fortan: Böser Selenskyj, armer
Putin!
Aber
wahrscheinlich habe ich das alles falsch verstanden. Ich sollte das
Denken den 28 Aufrechten überlassen! Sie denken klüger.
Wir
leben unter dem Diktat einer Bombe, deren paradoxe Funktion darin
besteht, dass sie nicht gezündet wird. In dem Augenblick, in dem dieses
Tabu gebrochen wird, ist alles vorbei. Wer immer den Finger am Trigger
hat, zerstört sich unweigerlich selbst.
So dachte ich bisher.
Als
ich noch lange kein Rentner war und der Kalte Krieg die Welt für immer
und ewig in das Reich des Bösen und in das des Ronald Reagan teilte, da
wagte ich mich an eine These heran, die so böse klang, dass sie fast
schon wieder gut war: „Die einzige Chance, die Atombombe abzuschaffen,
besteht darin, sie zu zünden.“ So formulierte und fabulierte ich vor
mich hin. Natürlich nur in der Duschzelle. Vierzig Jahre ist das her –
und ich war felsenfest davon überzeugt, dass niemand die Atombombe
abschaffen würde. Zum Glück. Für uns alle. Emma hatte Recht.
Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.
***
ZWEITER AKT
1990: „Mitunter habe ich den Eindruck, die Welt spielt ein noch verrückteres Theater.“
Friedrich Dürrenmatt (1921-1990), Schweizer Schriftsteller und Dramatiker, über seine eigenen Stücke
Vor
60 Jahren, am 21. Februar 1962, wurde in Zürich das Stück „Die
Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt uraufgeführt. Prominent besetzt. Es
spielt in einer Irrenanstalt, in der nur eine Person wirklich verrückt
ist: die behandelnde Ärztin (Therese Giehse). Zwei der drei Insassen,
der eine nennt sich Einstein (gespielt von Theo Lingen), der andere
Isaac Newton (Gustav Knuth), tun nur so, als seien sie diese Physiker,
deren Namen sie tragen. Sie sind in Wirklichkeit Geheimagenten und
wollen an das Geheimnis des dritten Physikers namens Möbius
(Hans-Christian Blech) heran: er allein besitzt – ebenfalls bei vollem
Verstand – die Formel, nach der sich die ganze Welt vernichten lässt.
Die drei Physiker sind sich am Ende einig, dass nicht die Welt
vernichtet werden sollte, sondern das Wissen darum – doch die Ärztin hat
die Formel längst kopiert…
Das
Stück spielt in einem einzigen Raum – so, als sei es die Ukraine. Und
wenn man nun meint, dass alle, die in diesem Raum sind, hier bleiben
wollen, dann dehnt er sich zu einer Welt unter dem Schutz der Atombombe,
die zwar der komplette Irrsinn ist, aber unter der wir es uns fast
schon gemütlich gemacht haben.
Gemordet wird sowieso.
Bei
Dürrenmatt sind es Einstein und Newton, in der Ukraine Putin und
Selenskyj, der eine Geheimagent, der andere Schauspieler. Verrückter
geht’s kaum. In seiner Ausbildung zu dem, was er war, ein KGB-Offizier,
wurde Putin einem strengsten psychologischen Training unterzogen. Ja, er
lernte, wie man inmitten eines Irrenhauses seinen Verstand behält.
Würde
er mit den Mächtigsten der Welt in einem Raum eingesperrt sein, dann -
so ein Szenario - würde sich Putin absolut still verhalten, um jeden der
Anwesenden genau zu studieren. Andererseits könne er auch, um sich vor
den Gedanken der anderen zu schützen, stundenlang damit beschäftigen,
seine Schuhe zu putzen, um sich auf keinen Fall von irgendjemandem
beeinflussen zu lassen.
Zweiundzwanzig
Jahre später wissen wir, dass er beides getan hat: Er hat alle um sich
genau studiert und zugleich stur seine Schuhe geputzt.
Er
hat erkannt, was die Welt ist: ein Irrenhaus. Es ist ein Tollhaus, das
unter dem Schutz der Atombombe steht. Ungestraft können wir hier unsere
Verrücktheiten, unsere Kriege und Terrorakte begehen. Die Bombe alle,
schützt auch ihn. Denn es steht in seiner Macht, die Bombe NICHT zu
nutzen, also das Gegenteil von dem zu tun, was Emmas Freunde befürchten.
Ist
das nicht der pure Wahnsinn? Die Bombe ist der Schutz, unter dem er
seine ganzen Greueltaten entfachen kann. Vor diesem Hintergrund wirkt
der Emma-Appell wie ein Freibrief. Verhandeln ist für Putin wie Schuhe
putzen.
„Nur
im Irrenhaus sind wir noch frei“, behauptet Möbius. Er ist jener
Physiker, der die Weltformel zur totalen Zerstörung der Erde gefunden
hat. Aber er hat sie vorsorglich vernichtet. Er sagt: „Nur im Irrenhaus
dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken
Sprengstoff.“
Der
Emma-Brief ist diese Art von Sprengstoff nicht, keine Befreiung. Im
Gegenteil: seine Absicht ist es, das Irrenhaus zu schützen. Geht das
gut? „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre
schlimmstmögliche Wendung genommen hat, wird Dürrenmatt im
Nachrichtenmagazin ‚Der Spiegel‘ zitiert. Das war am 28. Februar 1962.
Sechzig
Jahre treibt die Geschichte genau auf diese Wendung zu. Und sie wird
uns überraschen. Dürrenmatt hat es vorausgesehen: „Tritt die atomare
Selbstvernichtung nicht ein, gerät die Menschheit in eine noch nie
geahnte geopolitische Zwangslage, Eingriffe in die Wirtschaft und in die
Persönlichkeitsrechte werden notwendig, politische Umwälzung.“ Das
wäre die schlimmstmögliche Wendung.
Es wäre der Verlust unserer Würde, es wäre der Verlust von allem, was wir in den letzten 250 Jahren mühsam errungen haben.
Solche
Appelle wie dieser Emma-Brief sind nichts anderes als der Aufruf dazu,
den Schlüssel wegzuwerfen, der uns aus dem Irrenhaus befreien könnte.
Dann - allerdings - haben wir tatsächlich den Verstand verloren.
Wir
müssen handeln, nicht verhandeln. So hart das ist. Wir haben schon zu
lange gewartet. Übrigens ein Argument, das auch Putin für sich
reklamiert.

18 Kommentare:
Niemand soll sich kleiner machen, als er/sie/es ist. Das ist entweder Selbstverzwergung, Koketterie oder Fishing for Compliments.
Europa
Am Rhein, da wächst ein süffiger Wein –
der darf aber nicht nach England hinein –
Buy British!
In Wien gibt es herrliche Torten und Kuchen,
die haben in Schweden nichts zu suchen –
Köp svenska varor!
In Italien verfaulen die Apfelsinen –
laßt die deutsche Landwirtschaft verdienen!
Deutsche, kauft deutsche Zitronen!
Und auf jedem Quadratkilometer Raum
träumt einer seinen völkischen Traum,
Und leise flüstert der Wind durch die Bäume . . .
Räume sind Schäume.
Da liegt Europa. Wie sieht es aus?
Wie ein bunt angestrichnes Irrenhaus.
Die Nationen schuften auf Rekord:
Export! Export!
Die andern! Die andern sollen kaufen!
Die andern sollen die Weine saufen!
Die andern sollen die Schiffe heuern!
Die andern sollen die Kohlen verfeuern!
Wir?
Zollhaus, Grenzpfahl und Einfuhrschein:
wir lassen nicht das geringste herein.
Wir nicht. Wir haben ein Ideal:
Wir hungern. Aber streng national.
Fahnen und Hymnen an allen Ecken.
Europa? Europa soll doch verrecken!
Und wenn alles der Pleite entgegentreibt:
daß nur die Nation erhalten bleibt!
Menschen braucht es nicht mehr zu geben.
England! Polen! Italien muß leben!
Der Staat frißt uns auf. Ein Gespenst. Ein Begriff.
Der Staat, das ist ein Ding mitm Pfiff.
Das Ding ragt auf bis zu den Sternen –
von dem kann noch die Kirche was lernen.
Jeder soll kaufen. Niemand kann kaufen.
Es rauchen die völkischen Scheiterhaufen.
Es lodern die völkischen Opferfeuer:
Der Sinn des Lebens ist die Steuer!
Der Himmel sei unser Konkursverwalter!
Die Neuzeit tanzt als Mittelalter.
Die Nation ist das achte Sakrament –!
Gott segne diesen Kontinent.
Kurt Tucholsky (1890 - 1935 (Freitod)), Pseudonyme: Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel; dt. Schriftsteller, Journalist, Literatur- und Theaterkritiker der Zeitschrift "Die Schaubühne" (später umbenannt in "Die Weltbühne")
Quelle: Tucholsky, Werke 1907-1935. In: Die Weltbühne, 12.01.1932, Nr. 2 (Theobald Tiger)
Das hat jetzt nichts mit dem Thema oben zu tun, aber:
Wir alle werden von ein paar Irren immer kleiner gemacht, weil Therese Giese es versäumt hat, diese unterzubringen.
Es ist längst nicht mehr angebracht, uns selbst kleiner zu machen.
Die gute Sache, jede gute Sache wird falsch, sobald wir sie zu Ende denken. Hans Magnus Enzensberger
"Ohne die Ohnmächtigen sind die Mächtigen ohnmächtig."
👍👍👍
Weiser alter Mann nix nutzlos. Kann denken, kann schreiben, kann posten!
Beware of ChatGPT. Kann nix - nur klauen und kopieren...
Was machen Trump und Putin anderes als klauen und kopieren?
Denken tun sie jedenfalls nicht. Trump liest gar nichts, sitzt vor dem Fernseher oder spielt Golf.
Und weise alte Männer sind beide schon mal gar nicht. Trump ist nicht einmal weiß, sondern Orange. Orange Utan.
Ich meinte den Journalysten, der sich in dem Beitrag selbst als nutzloser Rentner bezeichnet hat.
Unverständlicherweise.
.....wenn er das so meint! Er kennt sich doch selbst am besten.
Man muss ihm dochnicht immer seine Geschichte kaputtmachen. Grins
Kunst ist vollkommen nutzlos.
Sorry dass ich das nicht richtig eingeordnet habe. Wenn ich einmal auf ChatGPT verzichte .....
Man ist dem andern, den man tadelt, ähnlicher und dem, den man lobt, unähnlicher, als man glaubt.
Es spricht der Mensch im Sprachgebrauch
nicht so wie's Herz sich's denkt.
Mach' dir nicht draus, du selber auch.
„Man höret niemand fast mehr plaudern und erzählen, als Leute, denen Witz, Verstand und Klugheit fehlen.“
Ja! Sag das Emma und sag das Raimund
Man verteidigt oft eine Sache mit schwachen Gründen, weil man die stärksten sich nicht zu sagen getraut.
Jean Paul
Bemerkungen über uns närrische Menschen
2. Bändgen
Wenn du denkst du denkst
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