Samstag, 15. November 2025

Drei Jahre später immer noch aktuell?
  

Eine unzeitgemäße 
Betrachtung von Raimund Vollmer

ERSTER AKT

1990: „Wir gehen jetzt einer Zeit entgegen, in der der Frieden gefährlicher wird als der Krieg.“
Friedrich Dürrenmatt (1921-1991), Schweizer Schriftsteller und Dramatiker
 
 
Erstveröffentlichung am 6. Mai 2022. unterder Überschrift "Jetzt reicht's"
 
Ich bin nur ein ganz kleiner Staatsbürger, längst verschwunden im Rentnerdasein, im Nichts des Nichtstun und des Nichtsnutz. So bin ich natürlich voll darauf angewiesen zu hören und zu denken, was die, die denken, dass sie klug und weise denken, so denken. Und deshalb studiere ich demütig Emmas Brief an unseren Bundeskanzler, der vor allem ihr Bundeskanzler wird, wenn er denn so denkt wie sie und nicht wie die anderen, die Frieden schaffen mit schweren Waffen. So jedenfalls lautet die Absicht. Ihnen reicht's.
Doch Emmas Freunde halten dagegen: Zwei Grenzlinien seien JETZT erreicht, schreiben die 28 Unterzeichner des Briefes, der mit größter Inbrunst verfasst wurde – voller edlen, vornehmen Gemüts, dass es einem, der sich bis zum 29. April 2022 traute, es anders zu sehen, ganz mulmig wird.
Da sei „erstens das kategorische Verbot, ein manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen.“ Das klingt sehr intellektuell, das ist es wohl auch. Sehr vernünftig und getragen. Auch das Zweitens, das „Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung“, dem ein Ende gesetzt werden müsse, markiert eindeutig eine Grenzlinie, die uns einzäunen soll. Was will man dagegen sagen!
Ja, es reicht. Es ist schon viel zu viel Leid geschehen. Auf beiden Seiten, hallt es aus dem Emma-Tal: „Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis“. Das ist schön gesagt, all der Schriftsteller und Feindenker würdig, die ihn unterschrieben haben. Edelmütig warnend. Irgendwann – so lese ich in meiner Schlichtheit heraus – wird sich ansonsten die Ukraine so sehr gewehrt haben, dass sie in die Rolle des Aggressors zu fallen droht. Dann gilt fortan: Böser Selenskyj, armer Putin!
Aber wahrscheinlich habe ich das alles falsch verstanden. Ich sollte das Denken den 28 Aufrechten überlassen! Sie denken klüger.
Wir leben unter dem Diktat einer Bombe, deren paradoxe Funktion darin besteht, dass sie nicht gezündet wird. In dem Augenblick, in dem dieses Tabu gebrochen wird, ist alles vorbei. Wer immer den Finger am Trigger hat, zerstört sich unweigerlich selbst.
So dachte ich bisher.
Als ich noch lange kein Rentner war und der Kalte Krieg die Welt für immer und ewig in das Reich des Bösen und in das des Ronald Reagan teilte, da wagte ich mich an eine These heran, die so böse klang, dass sie fast schon wieder gut war: „Die einzige Chance, die Atombombe abzuschaffen, besteht darin, sie zu zünden.“ So formulierte und fabulierte ich vor mich hin. Natürlich nur in der Duschzelle. Vierzig Jahre ist das her – und ich war felsenfest davon überzeugt, dass niemand die Atombombe abschaffen würde. Zum Glück. Für uns alle. Emma hatte Recht.
Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.
***
ZWEITER AKT
1990: „Mitunter habe ich den Eindruck, die Welt spielt ein noch verrückteres Theater.“
Friedrich Dürrenmatt (1921-1990), Schweizer Schriftsteller und Dramatiker, über seine eigenen Stücke
 
Vor 60 Jahren, am 21. Februar 1962, wurde in Zürich das Stück „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt uraufgeführt. Prominent besetzt. Es spielt in einer Irrenanstalt, in der nur eine Person wirklich verrückt ist: die behandelnde Ärztin (Therese Giehse). Zwei der drei Insassen, der eine nennt sich Einstein (gespielt von Theo Lingen), der andere Isaac Newton (Gustav Knuth), tun nur so, als seien sie diese Physiker, deren Namen sie tragen. Sie sind in Wirklichkeit Geheimagenten und wollen an das Geheimnis des dritten Physikers namens Möbius (Hans-Christian Blech) heran: er allein besitzt – ebenfalls bei vollem Verstand – die Formel, nach der sich die ganze Welt vernichten lässt. Die drei Physiker sind sich am Ende einig, dass nicht die Welt vernichtet werden sollte, sondern das Wissen darum – doch die Ärztin hat die Formel längst kopiert…
Das Stück spielt in einem einzigen Raum – so, als sei es die Ukraine. Und wenn man nun meint, dass alle, die in diesem Raum sind, hier bleiben wollen, dann dehnt er sich zu einer Welt unter dem Schutz der Atombombe, die zwar der komplette Irrsinn ist, aber unter der wir es uns fast schon gemütlich gemacht haben.
Gemordet wird sowieso.
Bei Dürrenmatt sind es Einstein und Newton, in der Ukraine Putin und Selenskyj, der eine Geheimagent, der andere Schauspieler. Verrückter geht’s kaum. In seiner Ausbildung zu dem, was er war, ein KGB-Offizier, wurde Putin einem strengsten psychologischen Training unterzogen. Ja, er lernte, wie man inmitten eines Irrenhauses seinen Verstand behält.
Würde er mit den Mächtigsten der Welt in einem Raum eingesperrt sein, dann - so ein Szenario - würde sich Putin absolut still verhalten, um jeden der Anwesenden genau zu studieren. Andererseits könne er auch, um sich vor den Gedanken der anderen zu schützen, stundenlang damit beschäftigen, seine Schuhe zu putzen, um sich auf keinen Fall von irgendjemandem beeinflussen zu lassen.
Zweiundzwanzig Jahre später wissen wir, dass er beides getan hat: Er hat alle um sich genau studiert und zugleich stur seine Schuhe geputzt.
Er hat erkannt, was die Welt ist: ein Irrenhaus. Es ist ein Tollhaus, das unter dem Schutz der Atombombe steht. Ungestraft können wir hier unsere Verrücktheiten, unsere Kriege und Terrorakte begehen. Die Bombe alle, schützt auch ihn. Denn es steht in seiner Macht, die Bombe NICHT zu nutzen, also das Gegenteil von dem zu tun, was Emmas Freunde befürchten.
Ist das nicht der pure Wahnsinn? Die Bombe ist der Schutz, unter dem er seine ganzen Greueltaten entfachen kann. Vor diesem Hintergrund wirkt der Emma-Appell wie ein Freibrief. Verhandeln ist für Putin wie Schuhe putzen.
„Nur im Irrenhaus sind wir noch frei“, behauptet Möbius. Er ist jener Physiker, der die Weltformel zur totalen Zerstörung der Erde gefunden hat. Aber er hat sie vorsorglich vernichtet. Er sagt: „Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff.“
Der Emma-Brief ist diese Art von Sprengstoff nicht, keine Befreiung. Im Gegenteil: seine Absicht ist es, das Irrenhaus zu schützen. Geht das gut? „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat, wird Dürrenmatt im Nachrichtenmagazin ‚Der Spiegel‘ zitiert. Das war am 28. Februar 1962.
Sechzig Jahre treibt die Geschichte genau auf diese Wendung zu. Und sie wird uns überraschen. Dürrenmatt hat es vorausgesehen: „Tritt die atomare Selbstvernichtung nicht ein, gerät die Menschheit in eine noch nie geahnte geopolitische Zwangslage, Eingriffe in die Wirtschaft und in die Persönlichkeitsrechte werden notwendig, politische Umwälzung.“ Das wäre die schlimmstmögliche Wendung.
Es wäre der Verlust unserer Würde, es wäre der Verlust von allem, was wir in den letzten 250 Jahren mühsam errungen haben.
Solche Appelle wie dieser Emma-Brief sind nichts anderes als der Aufruf dazu, den Schlüssel wegzuwerfen, der uns aus dem Irrenhaus befreien könnte. Dann - allerdings - haben wir tatsächlich den Verstand verloren.
Wir müssen handeln, nicht verhandeln. So hart das ist. Wir haben schon zu lange gewartet. Übrigens ein Argument, das auch Putin für sich reklamiert.


18 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Niemand soll sich kleiner machen, als er/sie/es ist. Das ist entweder Selbstverzwergung, Koketterie oder Fishing for Compliments.

Analüst hat gesagt…

Europa

Am Rhein, da wächst ein süffiger Wein –
der darf aber nicht nach England hinein –
Buy British!
In Wien gibt es herrliche Torten und Kuchen,
die haben in Schweden nichts zu suchen –
Köp svenska varor!
In Italien verfaulen die Apfelsinen –
laßt die deutsche Landwirtschaft verdienen!
Deutsche, kauft deutsche Zitronen!
Und auf jedem Quadratkilometer Raum
träumt einer seinen völkischen Traum,
Und leise flüstert der Wind durch die Bäume . . .
Räume sind Schäume.

Da liegt Europa. Wie sieht es aus?
Wie ein bunt angestrichnes Irrenhaus.
Die Nationen schuften auf Rekord:
Export! Export!
Die andern! Die andern sollen kaufen!
Die andern sollen die Weine saufen!
Die andern sollen die Schiffe heuern!
Die andern sollen die Kohlen verfeuern!
Wir?
Zollhaus, Grenzpfahl und Einfuhrschein:
wir lassen nicht das geringste herein.
Wir nicht. Wir haben ein Ideal:
Wir hungern. Aber streng national.
Fahnen und Hymnen an allen Ecken.
Europa? Europa soll doch verrecken!
Und wenn alles der Pleite entgegentreibt:
daß nur die Nation erhalten bleibt!
Menschen braucht es nicht mehr zu geben.
England! Polen! Italien muß leben!
Der Staat frißt uns auf. Ein Gespenst. Ein Begriff.
Der Staat, das ist ein Ding mitm Pfiff.
Das Ding ragt auf bis zu den Sternen –
von dem kann noch die Kirche was lernen.
Jeder soll kaufen. Niemand kann kaufen.
Es rauchen die völkischen Scheiterhaufen.
Es lodern die völkischen Opferfeuer:
Der Sinn des Lebens ist die Steuer!
Der Himmel sei unser Konkursverwalter!
Die Neuzeit tanzt als Mittelalter.

Die Nation ist das achte Sakrament –!
Gott segne diesen Kontinent.

Kurt Tucholsky (1890 - 1935 (Freitod)), Pseudonyme: Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel; dt. Schriftsteller, Journalist, Literatur- und Theaterkritiker der Zeitschrift "Die Schaubühne" (später umbenannt in "Die Weltbühne")

Quelle: Tucholsky, Werke 1907-1935. In: Die Weltbühne, 12.01.1932, Nr. 2 (Theobald Tiger)

Anonym hat gesagt…

Das hat jetzt nichts mit dem Thema oben zu tun, aber:
Wir alle werden von ein paar Irren immer kleiner gemacht, weil Therese Giese es versäumt hat, diese unterzubringen.
Es ist längst nicht mehr angebracht, uns selbst kleiner zu machen.

Anonym hat gesagt…

Die gute Sache, jede gute Sache wird falsch, sobald wir sie zu Ende denken. Hans Magnus Enzensberger

Hans Magnus Enzensberger hat gesagt…

"Ohne die Ohnmächtigen sind die Mächtigen ohnmächtig."

Analüst hat gesagt…

👍👍👍

Indiana Jones hat gesagt…

Weiser alter Mann nix nutzlos. Kann denken, kann schreiben, kann posten!
Beware of ChatGPT. Kann nix - nur klauen und kopieren...

Anonym hat gesagt…

Was machen Trump und Putin anderes als klauen und kopieren?
Denken tun sie jedenfalls nicht. Trump liest gar nichts, sitzt vor dem Fernseher oder spielt Golf.
Und weise alte Männer sind beide schon mal gar nicht. Trump ist nicht einmal weiß, sondern Orange. Orange Utan.

Indiana Jones hat gesagt…

Ich meinte den Journalysten, der sich in dem Beitrag selbst als nutzloser Rentner bezeichnet hat.
Unverständlicherweise.

Anonym hat gesagt…

.....wenn er das so meint! Er kennt sich doch selbst am besten.
Man muss ihm dochnicht immer seine Geschichte kaputtmachen. Grins

Oscar Wilde hat gesagt…

Kunst ist vollkommen nutzlos.

Anonym hat gesagt…

Sorry dass ich das nicht richtig eingeordnet habe. Wenn ich einmal auf ChatGPT verzichte .....

Jean Paul hat gesagt…

Man ist dem andern, den man tadelt, ähnlicher und dem, den man lobt, unähnlicher, als man glaubt.

Provinzpoet hat gesagt…

Es spricht der Mensch im Sprachgebrauch
nicht so wie's Herz sich's denkt.
Mach' dir nicht draus, du selber auch.

Barthold Heinrich Brockes hat gesagt…


„Man höret niemand fast mehr plaudern und erzählen, als Leute, denen Witz, Verstand und Klugheit fehlen.“

Anonym hat gesagt…

Ja! Sag das Emma und sag das Raimund

Anonym hat gesagt…

Man verteidigt oft eine Sache mit schwachen Gründen, weil man die stärksten sich nicht zu sagen getraut.
Jean Paul
Bemerkungen über uns närrische Menschen
2. Bändgen

Juliane Werding hat gesagt…

Wenn du denkst du denkst