"Nichts ist so schwer vorherzusagen wie die Vergangenheit."
Russische Weisheit nach dem Fall der Mauer, 1989, dem Jahr, in dem IBM damals 75 Jahre alt wurde.
Eine Gegendarstellung
zu einem erfundenen Jubiläum
Wer in diesen Tagen in Netzen und Gazetten recherchiert, wird mit bemerkenswerter Penetranz darauf hingewiesen, dass IBM 2011 hundert Jahre alt wird. Hätten die Journalisten ein wenig in ihren eigenen Archiven (und nicht im Internet) recherchiert, dann hätten sie deutliche Hinweise dafür gefunden, dass dieses Datum für alles mögliche stehen kann - nur nicht als Gründungsdatum der IBM.
Die Süddeutsche Zeitung schreibt in ihrer IBM-Chronik: »1911 - IBM wird am 16. Juni unter dem Namen Computing Tabulating and Recording Company (C-T-R) in New York gegründet. Neben der Lochkarten-Technik bietet das Unternehmen kommerzielle Waagen und Uhren an.«
Tatsache ist, dass am 16. Juni 1911 ein Merger dreier Unternehmen vollzogen wurde. Mehr nicht. Und wer's nicht glaubt, dem sei die Lektüre der hochoffiziellen IBM-Festschrift "75 Jahre IBM Corporation" empfohlen, die übrigens 1989(!) erschien und nicht 1986, dem nach heutiger Zeitrechnung richtigen Datum. In der Jubiläumsschrift heißt es über die CTR:
"Es war ein Unternehmen mit Bindestrichen im Namen, und es sah so aus, als würde es nur eine kurze Zukunft haben. Es hieß Computing Tabulating Recording Cp. (C-T-R) und war aus Firmen zusammengewürfelt, die zum Teil aus dem späten neunzehnten Jahrhundert stammten. Seine Produkte reichten von Waagen, Fleisch- und Käseschneidern sowie Zeiterfassungsgeräten für die Industrie bis zu Tabelliermaschinen und Lochkarten. Es hatte organisatorische Probleme und schmale Erträge. Doch Thomas J. Watson sen. beschloss 1914, in dieses Unternehmen einzutreten."
Und dann feiert sie in dieser bildreich dokumentierten Schrift, deren Original natürlich in englischer Sprache verfasst ist, ihren Gründer Thomas Watson. Aber den Gründer gab es 1911 noch gar nicht - jedenfalls nicht bei dem IBM-Vorläufer C-T-R. Er kam erst 1914 dazu, wobei das ansonsten so äußerst korrekte Wirtschaftsmagazin The Economist das Eintrittsdatum von Watson sogar auf das Jahr 1915 verlegte. Dies suggeriert auch ein Kurzfilm, mit dem IBM ihre 100 Jahre feiert. Tatsache ist, dass Watson 1915 Präsident des Unternehmens wurde, dem er seit dem 1. Mai 1914 als Defacto-Chef angehörte. So wird das Geburtsdatum 1914, das 1989 noch galt, nach und nach verfälscht. Wie passt das zu einer Firma, die seit 2005 ihre Zukunft mehr und mehr mit dem Thema "Business Analytics" verbindet und rund 14 Milliarden Dollar in den Aufkauf von Firmen zu diesem Thema investiert hat?
Natürlich wird nirgendwo behauptet, dass Watson jetzt abgedankt habe. Niemand sagt, dass nun der Konzerschmied von 1911, der Investor Charles Flint, der Gründer sei. Im Gegenteil. Im Dezember 2010 gibt Big Blue bekannt, dass sie einen Computer namens Watson kreiert habe, der nach dem Gründer benannt worden sei und nun in der Quiz-Show Jeopardy gegen menschliche Gegner antreten werde.
Als Beleg dient hier die IBM-Pressemitteilung vom 14.12.2010. Da heißt es: "Watson, genannt nach dem IBM Gründer Thomas J. Watson, wurde von einem IBM Forschungsteam mit dem Ziel gebaut, ein Frage-Antwort-Computersystem zu entwickeln, das sich mit Menschen in der Beantwortung von in natürlicher Sprache gestellten Fragen messen kann." (Übrigens nennt IBM ihre Pressemitteilungen jetzt Medienmitteilungen.)
Warum jetzt das Jahr 1911 als Gründungsdatum genannt wird, ist unklar. Jedenfalls widerspricht sie damit der Tradition, die spätestens seit 1964 gilt, als der Sohn des Gründers, Watson jun., am 7. April 1964 die Vorstellung der IBM /360 "die wichtigste Produktankündigung in der Geschichte des Unternehmens" nannte. Diese Ankündigung wurde im Zusammenhang mit dem Jubiläum "50 Jahre IBM" gesehen, das ja dann auch mit der pompösen Teilnahme an der Weltausstellung in New York gefeiert wurde. Wie gesagt: das Jubiläumsjahr war 1964 und nicht 1961.
Den Versuch, die Geschichte der IBM in weiten Teilen neu zu schreiben, spürt man in vielen anderen Medienschauplätzen. So wird mit unglaublicher Hartnäckigkeit die Meinung insinuiert, dass Lou Gerstner den Service erfunden habe. Mal abgesehen davon, dass Watson jun. schon immer der Meinung gewesen sei, dass die 1949 erschienene Anzeige "IBM MEANS SERVICE" schlichtweg "unsere allerbeste Anzeige" gewesen sei, weil "sie unmissverständlich ausdrückte, wofür wir einstehen", war es in erster Linie der Vorgänger von Gerstner, der IBMer John Akers, der dieses Thema seit Mitte der achtziger Jahre wieder in den Mittelpunkt des Unternehmens gestellt hatte. In der Festschrift von 1989 wird Akers mit der Forderung zitiert, dass die IBM "Weltmeister im Dienst am Kunden werden" müsse. Offensichtlich hatte sie genau diesen Titel in den Jahren zuvor verloren. Schon der alte Watson hatte in einer auf Tonband festgehaltenen Rede Jahren gewarnt: "Service ist etwas, das Firmen vergessen." Genau das war Big Blue in den siebziger Jahren passiert. Und es war Akers gewesen, der das herrschsüchtige und zunehmend dienstuntaugliche Biest IBM wieder auf die richtige Spur bringen wollte. Gerstner hat diese Strategie nur vollstreckt.
Warum also feiert IBM jetzt, 2011, ihr 100jähriges Bestehen? Es gibt für mich nur eine plausible Antwort. Sam Palmisano wird 2014 nicht mehr Boss der IBM Corp. sein - und ein solches Fest gönnt er ganz einfach seinem Nachfolger nicht. Weil mit ihm wohl eine ganze Riege von Managern das Unternehmen altershalber verlassen wird, war sie gerne bereit, die Geschichte ein paar Jahre vorzuverlegen. Vielleicht werden sich im Jahr 2039, wenn IBM nach ursprünglicher Rechnungsart 125 Jahre feiert, die Mitarbeiter fragen, warum die Company 2011 und nicht 2014 jubiliert hat. Wäre schön, wenn man schon heute wüsste, welche Argumente dann angeführt werden.
Eins ist sicher: 2014 wäre das angemessenere Datum gewesen. 50 Jahre IBM /360, dem bislang unübertroffenen Meisterstück des Computings. Mit ihr müsste übrigens auch Thomas Watson Jr. gefeiert werden, der Mann, der es an unternehemrischer Größe mit jedem in der IT-Branche aufnehmen kann - auch mit seinem Vater. Er hätte am 14. Januar 2014 seinen hundertsten Geburtstag gefeiert.
Raimund Vollmer
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