1991: »Die fremdbestimmte Art und Weise, wie wir uns heute an das Arbeitstempo des Computers und des technischen Umfeldes anpassen mussten und müssen, grenzt an den eines unsichtbar ausgeübten Zwanges, eines aufgepfropften Zwangsverhaltens.«
Marie-Yvonne Bogacki, französische Ärztin, in der Süddeutschen Zeitung
Von Raimund Vollmer
(Habe ich wahrscheinlich während der Corona-Isolation geschrieben)
Raymond Kurzweil, der Mann, dessen Visionen weit in dieses Jahrhundert hineinragen, schrieb 1986: „Während des 18. Jahrhunderts wurden Wirtschaft und Gesellschaft durch die Einführung der Maschinen komplett umgestellt.“ Das war die erste Transformation. Überall tauchten Maschinen auf, „die unsere natürlichen Begabungen erweitern, multiplizieren und aushebeln konnten. Daraus ward die Industrielle Revolution.“ Mit ihr durchdrang die Technologie fürderhin alles: Kapital und Arbeit, Wirtschaft und Wissenschaft, Recht und Staat, Gesellschaft und Individuum. Uns bliebt nichts anderes übrig, als uns permanent der Technologie in ihrer Fortentwicklung anzupassen – und unterzuordnen.
Menschenpflicht statt Menschenrecht.
Es ist die Technologie, die über uns bestimmt. Was aber ist Technologie?
In Deutschland war es der Göttinger Professor Johann Beckmann, der 1777 erstmals mit seiner Schrift „Anleitung zur Technologie“ den Begriff in die Welt setzte und darunter die „Summe aller Kenntnisse“ verstand, die sich „auf eine gewerbliche Arbeit“ bezogen, also auf das Know–how, auf das Wissen der Experten, der Profis. Diese bestimmten denn auch unsere ersten 250 Jahre im neuen Jahrtausend. Sie machten aus der Welt einen Computer. „Wenn wir heute beispielsweise von Bürokratie, Universität oder irgendeinem anderen gesellschaftlichen oder politischem Gebilde sprechen, so ist die damit verbundene Vorstellung fast unweigerlich die eines selbständigen, maschinenähnlichen Vorgangs“, bemerkte Weizenbaum 1976.
Gegen diese Profis stellen sich – von Frankreich ausgehend – mit ihren Protesten die „Gelbwesten“, Menschen, die einmal die Normalbürger gewesen waren und sich nun an den Rand gedrängt fühlen. So richtig ernst genommen werden sie bislang kaum. Gegen sie ist allerdings auch noch keine Software gewachsen, die sie von der Straße verbannt.
Tränengas, Wasserwerfer und Gummigeschosse – das sind ziemlich rabiate und vor allem alte Mittel, deren Einsatz sich in Frankreich der Staat bedient und über seine Hierarchien sanktioniert. Die Gelbwesten hingegen organisieren sich in aller Beliebigkeit über Software, über die Social Media. Wenn die 'Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung' 2019 in dem Protest der Gelbwesten eine „historische Neuigkeit“ sah, dann lag die Novität genau hier. Durch Software entsteht eine Welt, die offenbar jederzeit außer Kontrolle geraten kann.
Wenn sie es nicht schon ist! Klaus Segbers, Direktor des
Center for Global Politics an der Freien Universität Berlin, beschäftigte sich mit
dem zunehmenden Populismus, der eine Spaltung der Gesellschaft billigend in
Kauf nimmt. „Beschrieben wird sie als eine Auswirkung der Globalisierung, die
in Zukunft durch Automatisierung und Künstliche Intelligenz noch beschleunigt
werden dürfte“, heißt es 2019 in seinem Aufsatz in der 'FAZ'.
„An die Stelle des verwerflich handelnden Menschen trete die herzlose Maschine und entscheide über das Wohl und Wehe ganzer Volkswirtschaften, wird behauptet“, konnte sich 1990 noch Rüdiger von Rosen, damals Chef der Frankfurter Börse, distanzieren. „Solche Anklagen sind jedoch haltlos.“
Da scheinen sich, wenn auch nur ansatzweise, die Verhältnisse umzudrehen. Der Italiener Aurelio Peccei (1908–1984), Mitbegründer des Club of Rome, hatte noch 1981 den Konflikt als einen Kampf zwischen den Verlierern, die „nur die unbewussten Sklaven der Zukunft“ seien, und den „kurzsichtigen Bürohengsten der Zukunft“ gesehen. Die Sklaven tragen nun Smartphones und die Bürohengste laufen Amok.
5 Kommentare:
Und Gott sprach: macht euch die Erde untertan!
Er meinte: inklusive alle Maschinen, Computer und künstlichen Intelligenzen
aller
Und sie laufen! Naß und nässer
Wird’s im Saal und auf den Stufen.
Welch entsetzliches Gewässer!
Herr und Meister! hör’ mich rufen! –
Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
Werd’ ich nun nicht los.
Warum sollten wir Sklaven sein?
Wir sind es, wenn wir uns dazu machen!
Gott hat nur das Wasser erschaffen, der Mensch aber den Wein. So hat halt jeder seine fließenden und flüssigen Ideen. Natürlich: Wir trinken Wein, weil wir unglücklich sind. Nur wer um den Daseinsekel weiß, kann Lebenshunger haben. Schon im 19. Jahrhundert meinte der große Theoretiker des Genießens Jean-Anthelme Brillat-Savarin, es sei wichtiger, ein neues Rezept zu entdecken, als einen neuen Stern in der Milchstrasse. Wenn der Himmel leer ist, tut ein voller Bauch wohl. Doch wo das Essen nur die materiellen Gelüste befriedigt, bildet der Wein den intellektuellen Teil des Mahls. Seine Farbe beschämt die Alten Meister. Der Duft seiner Blume ist ein erotisches Versprechen und der Inhalt der Flasche mehr als ein erotisches Genussmittel. Er ist geronnene Zeit, ein philosophisches Rätsel. "Ein Wein ist ein Porträt", schreibt der Philosoph Michel Onfray, "das sich niemals verkleiden kann." Deswegen kann man es beschreiben. Der Franzose ist ohne Zweifel der hedonistischste Philosoph der Gegenwart. Und so jemanden brauchen wir in solchen Zeiten. Seine Bücher besingen das flüchtige Dasein, den gemäßigten Rausch, die kultivierten Sinnenfreuden und ihre Stimulanzien, die wir mit einer Saskia Esken oder Ricarda Lang niemals haben konnten.
Wenn man schon sterben muss, schloss Onfray in seinem Buch 'Die genießerische Vernunft' sollte man wenigstens so oft wie möglich von den Äpfeln des Paradieses naschen, "damit Thanatos, wenn er schließlich den Sieg davontragen wird, nur einen bis zum letzten Feuer verbrannten Körper in seinem Quersack zu verstauen braucht ".
In seinem Essay 'Die Formen der Zeit' erzählt Onfray die Geschichte der Welt als Theorie des Sauternes-Weins. Sechs Tage nur braucht er, um - analog zur biblischen Schöpfungsgeschichte - von den Anfängen der Welt zur Weinprobe in die Gegenwart zu eilen.
Selten machte über Wein zu lesen soviel Spaß. Schon Platon hat in seinem 'Gastmahl' das Saufgelage philosophisch geadelt.
Natürlich ist solcherlei Sinnenfeier nicht jedermanns Sache. Aber das Fließen der Zeit auf solche Weise philosophisch kennenzulernen, ist nicht nur eine erkenntnisreiche sondern auch köstliche Sache.
Das ist meine Idee zum Maschinenzwang und Software-Strom.
Michel Onfray
Die Formen der Zeit Merve Verlag Berlin
..und unmenschlicher oder nicht menschlicher Intelligenzen, auch wenn sie sich in Kanada verstecken.
Gott könnte mit der Menschheit einen Deal machen am Freitag. 🛸
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