Nach langer, langer Zeit der Enthaltsamkeit von Politsendungen jeglicher Art habe ich es gestern, am Wahlsonntag, gewagt, mir gleich stundenlang unsere gewählten und ausgezählten Politiker anzuhören und anzuschauen. Das Ergebnis war eher ernüchternd: die Damen und Herren an den Sets kreisten in erster Linie um sich selbst und ihre Partei. Da war nichts, was einen inspirierte, nichts, was irgendeiner Hoffnung ein wenig Hoffnung gab. Eigentlich war da gar nichts. Im Grunde genommen hätte man jede Partei wählen können. Es gab keine Perspektive. Ich blickte und horchte in eine komplette Leere hinein. Da war nichts Neues, da war nichts Altes, da war nichts.
„Der intellektuelle Ertrag war“ – um eine Formulierung von Hans-Magnus Enzensberger aus den sechziger Jahren zu benutzen – „gleich null.“
Wir verbleiben, wir verharren im Zustand einer Transformation, die immer nur sich selbst zum Ziel hat. Der deutsche Kunsthistoriker und Medientheoretiker Hans Belting (1935-2023) meinte 1995: „Heute ist der Mensch mehr mit den Spiegeln als mit sich selbst beschäftigt. Die Medienspiegel entleeren sich von gespiegelter Realität und füllen sich im gleichen Maße mit virtuellen, im Spiel erzeugten Bildern, ohne noch die Benutzer im Bild festzuhalten.“ [1]
Es ist so, als hätten wir gar nicht gewählt, als wären wir gar nicht da, als würden wir noch nicht einmal mehr zuschauen. Die Medien flimmern vor sich hin und spiegeln sich von Sender zu Sender selbst. In der ARD antworteten die Politiker auf Fragen, die das ZDF zuvor stellte, und umgekehrt kommentiert das ZDF die Grafiken, wie wir sie bereits bei der ARD gesehen haben. Jörg Schönenborn grinst uns in gestellter Freundlichkeit an, während er, der Säulen-Eilige, vor uns seine Koalitionskombinatorik im Halbstundentakt abwickelt.
In den Privatsendern, in die ich mich erst gar nicht einschaltete, war es garantiert nicht besser. Ein ungenießbares Einheitsgebräu der Meinungen entstand angesichts der Ungewissheit über das Endergebnis, das niemand kannte und somit von jeder Positionierung befreite. So blieb alles in der Schwebe – nur eins war sicher: der nächste Kanzler heißt Friedrich Merz. Ansonsten tat man so, als wolle man etwas sagen – und doch führte alles zu nichts.
Der Sieger selbst stand also vor dem Nichts. Irgendwie bezeichnend für dieses westliche Europa, dessen Schicksal von zwei Ausländern bestimmt wird – von Trump und Putin. Erschütternd für alle, die sich jetzt fragen, ob wir unsere Souveränität jahrzehntelang nur simuliert haben. Sind wir jetzt die Kolonien, die zur Ausbeutung freigegeben sind?
Alles sehr ernüchternd. Und irgendwie haben wir es wohl geahnt.
Durfte man überhaupt mehr erwarten? Nein. Aber darauf hoffen durfte man schon. Nun ist auch diese Hoffnung begraben.
Wir steuern auf eine Zukunft hin, in der man uns nicht mehr braucht. Das Wahlergebnis spiegelte unseren letzten verzweifelten Versuch, sich noch einmal mit all unseren diffusen und divergierenden Ansprüchen zu Wort zu melden. Da fehlte jegliche Kohärenz. Das, was im Fernseher gesagt wurde, enthielt keine Antwort auf das, was wir uns vor dem Fernseher fragten. Und es ist auch nicht zu erwarten, dass sich dies ändert – trotz aller Möglichkeiten der Interaktion. Zu narzisstisch sind die Parteien, zu pseudokritisch die Medien.
Die Linke, vor 35 Jahren auferstanden aus höchst selbstverschuldeten Ruinen, projiziert sich inzwischen in Sphären höchster und unerreichbarer Moral und edlen Anstands – derart, als sei sie seit jeher das Reine und Gute gewesen. So umfängt sie alle, die reinen Herzens sind. Die SPD wusste auch nichts mit der - für sie „katastrophalen“ (Pistorius) - Realität anzufangen und scholzte sich durch den Abend. Die CDU gab sich wirtschaftskompetent, weil sie sich für wirtschaftskompetent halten darf – ohne dafür einen Beweis liefern zu müssen. Die FDP kann fortan nur noch liberal zu sich selbst sein. Das BSW hat seine Namensgeberin liliputinisiert, die sich damit zufriedengeben muss, dass sie nur dort gewählt wird, wo sie gar nicht kandidiert hat. Und die AfD triumphiert, weil zu ihrem großen Glück niemand ihre ausgestreckte Hand ergreifen will. Den Grünen – so scheint es – ist schon längst alles „egal“ (Habeck), womit sie vielleicht die aufgeklärteste Position bezogen hat.
So kam es mir gestern vor – eine Welt, in der wir gar keine
Bedeutung mehr haben, auch nicht unsere Parteien. Mit der hohen Wahlbeteiligung,
der höchsten – wie es heißt – seit der
Wiedervereinigung, haben wir wohl versucht, vor allem der Migrationspolitik
eine überragende Bedeutung zukommen zu lassen.Wenigstens das, wobei diese Fixierung schon fast wieder bedrohlich wirkt, als sei es das letzte Thema, auf das wir noch Einfluss nehmen können.
Vielleicht hatte der Politologe Dolf Sternberger (1907-1989) Recht, als er – wie kürzlich in der FAZ zitiert – 1946 sagte: „Ich habe nicht gewählt. Ich habe nur meine Stimme abgegeben.“
Und diese meine Stimme, die ist am 23. Februar 2025 nun auch vor dem Fernseher verklungen…
Raimund Vollmer
24 Kommentare:
Die Wahlbeteiligung macht Hoffnung, die gewählten lassen uns irritiert zurück
In der Tat - eigentlich ignorieren sie uns. Sie sehen uns ja nicht, die Gewählten. Und sie hören uns nicht.
Super Kommentar, einer der Besten!!
Dem ist nichts hinzuzufügen
Fühlen sie uns wenigstens?
Eigentlich haben wir doch unsere Fürsprecher gewählt - die Volksvertreter
Dem ist wirklich nichts mehr hinzuzufügen. Bester Kommentar ever!
Rudi Ratlos
Die 3 gescheiterten Ampelleithammel sind zu aller Verwunderung wieder angetreten.
3 sind waidwund gewählt und erledigt. Der 4. wird Fraktionschef dazu und die Edelfäule Saskia grimmt weiter.....
...von solchen Wahlabendtragödien schreibt Herr Vollmer nichts.
Das hat es vergleichbar noch nicht gegeben.
Und Phönix die Linke wird im Bundestag links außen lärmen und rechts die Nahkampftruppe AfD schreien. Das ist die einzige messbare Veränderung: der Bundestag wird lauter.
Nur die 1-Mann-Schweige SSW wird für uns wieder unhörbar sein.
Und Karin Goering Eckard,
der protestantische Erbschaden der Reformation? Hat in ihrem Thüringer Wahlkreis 3 Prozent bekommen.
Die MdB sprechen nur für sich und ein Staubsaugervertreter verkauft Staubsaugervertreter, ein Volksvertreter verkauft das Volk.
....verkauft Staubsauger ...
Oh je. Ihr Restwert ist auf den einer Rabattmarke gesunken.
Sie ist doch über die Landesliste abgesichert und kommt für 4 Jahre ins Abklingbecken auf die hinteren Plätze im Bundestag
...ich fühl nichts
👍
Sie meinen Katrin Göring-Eckardt? Dann haben Sie zwei Ts geschludert. Nix besser als der schludrige Habeck bei seinen Gesetzen. Früher waren wir Deutschen präzise - jetzt geht alles den Bach runter wegen dieser Schlampigkeit auf allen Ebenen 🥴
Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen schmeißen
Er geigt uns grad nen Evergreen.
Krise ist das Thema - und German Angst. Wie immer…
Genau! SS und SA sind präzise marschiert!
Und Zyklon B ist präzise angewendet worden.
Sie haben gut gelernt!
Früher fuhr die Bahn auch noch präzise nach Fahrplan. Da waren die Loks auch noch unter Dampf und nicht unter Starkstrom. Die Weichen waren auch noch genauso mechanisch verstellbar wie die Signale. Heute machen Digitalisierung und Kurzschluss alles zunichte. Von den höchst sparsam gebauten Brücken wollen wir lieber gar nicht erst reden
Mein Vater war Eisenbahner — und stolz darauf. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen...
Ich weiß noch, wie ich als Kind in Ahaus (Münsterland) dabeiwar, als unsere Großeltern aus Dortmund vom Bahnhof abgeholt wurden. Ich stand vor den Rädern der Dampflok und staunte: Die Räder waren viel größer als ich.
Ich durfte als 8-jähriger mal von Legden nach Ahaus auf dem Führerstand der Dampflok mitfahren und zeitweise sogar einheizen. Das vergesse ich nie - diese Glut, diese Hitze!
So etwas wäre heutzutage völlig undenkbar!
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