Freitag, 28. Februar 2025

Alle Macht den Ohnmächtigen

 Wie die AfD das Erfolgsgeheimnis des Joschka Fischer nutzt
und andere steile Thesen
 

 

 

 

 

Von Raimund Vollmer

Wir schreiben das Jahr 1998. Und doch hätte es auch das Jahr 2025 sein können. 1998 lag irgendwie in der Mitte. Das Jahr 1998  war nur einen Steinwurf von jener Zeit entfernt, die wir Nachkrieg und Wirtschaftswunder nennen. Dieser Steinwurf traf in Bonn aus heiterem Himmel einen sehr prominenten Mann. Auf alten Fotos, die sich aus der Tiefe eines Archivs nach oben geschlichen hatten, war er als Randalierer identifiziert worden, als behelmter Rebell oder Rabauke bei einer deftigen Straßenschlacht mit der Polizei. Ein Mann der Straße, der seine Ohnmacht genoss.

Ja, es war das Jahr 1973 gewesen, das 1998 plötzlich wieder aktuell wurde.

Es war irgendwie mein Jahr, aber das auch nur für mich. Ich wurde volljährig und hochschulreif. Und ich wurde Journalist. Ein etwas aufmüpfiger Volontär, der die Macht des Wortes kosten wollte. Kein Rebell, kein Rabauke, unbedeutend. Aber ich hatte keine Ahnung von meiner Ohnmacht. Sie interessierte mich auch gar nicht. Auch 1998 war sie für mich kein Thema. Warum auch?

Ganz im Gegensatz zu dem Menschen, der 1968 zum Marsch durch die Institutionen angetreten war, in Turnschuhen und der nun im Bundestag saß und der sich jetzt wegen seiner Vergangenheit rechtfertigen musste. Das tat er. Erst zögerlich, dann souverän. Seine Vergehen lagen hinter ihm. Sie waren Geschichte.

Ihm wurde verziehen, klammheimlich wurde er sogar bewundert. Ein einst renitenter, nunmehr geläuterter 68er, der längst begonnen hatte, sich in die Demokratie zu wagen und sogar, mit Verlaub, seinen Spaß daran hatte. Im Grunde genommen war er einer aus einer anderen Zeit. Einer, der sich von der rohen Straßengewalt zur hohen Staatsmacht gewandelt hatte – eine andere Art von ‚Clockwork Orange‘. Ein Hierarch, der wusste, was es heißt an der Spitze zu stehen, weil er von ganz unten kam, aus den Sphären bodenloser Ohnmacht. Nun war er hoch oben. Er, der in extremen Minderheiten gekämpft hatte, musste fortan bei den Grünen nicht minder extreme Mehrheiten verteidigen, die er – der Realo – gar nicht teilte. Fünf Mark für den Liter Sprit zum Beispiel. Ein völlig deplatzierter Parteitagsbeschluss. Eine mutige und törichte Demonstration der intellektuellen, spekulativen Macht über die Zukunft.

Deutschland zürnte. Deswegen. Wie kann man nur! War die Wahl jetzt verpatzt? Aus einem einzigen, dummen Augenblick heraus? Er kämpfte weiter. Tapfer. Taff. Topfit. Er war der Star seiner Partei, der Grünen. Und in Deutschland herrschte vor allem die Parteiendemokratie.

So stand er im Frühjahr 1998, er, der zukünftige Außenminister, auf dem Bonner Bahnsteig und wartete auf den Zug. Seit dem verkorksten Parteitag in Magdeburg hatte er immer ein Fünfmarkstück dabei. „Die Hostie der Grünen“, sagte er, der frühere Ministrant,  und hielt grinsend das Geldstück hoch. Der Journalist Heribert Klein (1957-2005) notierte es im Mai 1998 für das FAZ-Magazin, schrieb eine tolle Story über ihn: über den Grünen-Politiker Joschka Fischer (*1948).

Er war vielleicht der letzte Grüne, der noch aus der Tiefe kam – und nicht aus einem Lehreramt oder einer sonstigen behaglichen Behörde. 1994 hatte Fischer ein Buch geschrieben. Titel: „Risiko Deutschland“. „235 Seiten Text enthielt das Buch“, erzählt Klein, „häufig gedeutet als versuchter Nachweis seiner Befähigung zum Außenminister – doch dem Text folgen gut hundert Seiten Anmerkungen. Soll doch jeder wissen, wo seine Quellen liegen, woher er sein Wissen hat.“ So der Journalist Klein. Fischer war souverän. Er zeigte, was er gelernt hatte.

Bravo, kann man da nur sagen. Ein Buch, das unsere Geschichte kennt, das in die Tiefe geht. In die Vertikale. Von einem, der aber das Leben nicht nur aus den Büchern kannte, sondern auch von der Straße, nicht nur von dem Kommandohöhen, sondern auch von dem direkten Kampf. Höhen und Tiefen. Macht und Ohnmacht.

„Das Leben in seinen ganzen Abgründigkeiten und Herrlichkeiten ist etwas Wunderbares, und wir haben es nur einmal“, meinte Joschka nicht ohne Pathos in diesem Porträt.[1] Und er, der die Abgründe auch in sich gesehen hatte, erlebte jetzt die Herrlichkeiten. Er wurde belohnt und rettete seine Fünf-Mark-Partei in die Bundesregierung. Joschka wurde Außenminister. Sein Buch programmierte seine Karriere. Sogar Vizekanzler wurde er nach der Wahl am 28. September 1998.[2] Große Ehre. Herrlich. Aufgestiegen von ganz, ganz unten. Ohne Abi, ohne Studium. Ein Madman, ein Selfmademan, wie kein Buch es beschreiben kann.

Irgendwie war dieser Typ ein Anachronismus – ein Auslaufmodell. Entwicklung ist heute Anpassung an die mediale Breite, nicht Auseinandersetzung mit der unprogrammierbaren Tiefe der Gedanken. Niemand ist mehr, mit Verlaub, ein Arschloch. Jeder ist bestens geschult und geschniegelt, bestens präpariert.  Immer vernetzt. Immer gelindnert. Immer gerscholzt. Immer gehabeckt. Immer gemerzt. Immer präsent. Immer perfekt. Immer medial. Und im Grunde genommen sind sie alle unausstehlich. Echt langweilig.

Hassbotschaften prallen an den Polit-Profis ab. Sie sind teflonbehaftet. Denn sie  wissen, wie man gegensteuern muss – durch Ignorieren, durch Strafanzeigen. Der Rechtsstaat soll schützen. Nicht die Menschen, sondern vor den Menschen, die sich abgrundtief ohnmächtig fühlen und das auf hässlichste Weise zum Ausdruck bringen. Sie geben ihrer Ohnmacht eine Stimme des völlig unreflektierten, barbarischen und abscheulichen Hasses.

Und irgendwie ist man da als Bürger ohne Parteibuch sprachlos und entsetzt, weil auf diese Weise jede Form von Kritik entmachtet wird. Man fühlt sich als Journalist kaltgestellt. Denn vor diesem Hintergrund gerät jede Kritik in den falschen Hals. Am besten äußert man sie gar nicht mehr.

Eigentlich gibt es nur noch eine Form der akzeptierten Kritik. Es ist die Kritik an den Hassboten. Und diese Kritik ist auch nur noch ein Ausdruck der Resignation, des eigenen Gefühls der Ohnmacht. Überhaupt: Da kann man noch so oft auf die Straße gehen, ebenso inbrünstig wie fromm gegen rechts protestieren. Letzten Endes endet es in einer Demonstration der eigenen Ohnmacht. Es ist ein Pfeifen im Walde.

„Ohne die Ohnmächtigen wären die Mächtigen ohnmächtig“, hat der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger einmal in den sechziger Jahren formuliert. So ist es. Unsere Ohnmacht stärkt die Macht der Mächtigen. Keiner hat die Macht der Ohnmächtigen so sehr genutzt wie dieser Joschka Fischer. Er war ein Held der Straße, der aus dem Nichts des Protestes ins Zentrum der Macht vorrückte, mit den Weltmächten verhandelte und den ganz Großen auf Du-und-Du stand.

Nur arme Amateure leiden wirklich und ehrlich unter Hassbotschaften. Profis zählen ihre Hasskommentare und kategorisieren sie. Dann stellt man fest: Der Hass ist in überwältigenden Maße männlich. Und so scheidet sich gut & böse auch noch geschlechtsspezifisch. Der Hass. Aber die Empörung. Deutlicher geht es nicht mehr. Damit ist aber auch schon viel darüber gesagt, wohin Macht und Ohnmacht tendieren. Der Hass ist vor allem männlich und ohnmächtig. Die Empörung ist mehr und mehr weiblich und mächtig.

Stimmt das wirklich? Es ist komplizierter, raffinierter.

Vielleicht ist diese Entwicklung auch ganz gut so – nach Jahrhunderten der Männerherrschaft. Vordergründig scheint das auch genauso zu kommen. Hintergründig gedacht könnte es ganz anders sein – könnte sich dahinter das Geheimnis verbergen, warum „Alice für Deutschland“ so erfolgreich ist. Alice Weidel war – laut Berliner Tagesspiegel – 2024 die einzige Frau im 14köpfigen Vorstand ihrer Partei, in der nur jedes fünfte Mitglied weiblich ist. Natürlich ist dies ein jederzeit hinterfragbares und auch ein bisschen provokativ herausgestelltes Indiz dafür, dass sie vor allem die Macht der Ohnmächtigen hinter sich versammelt, die Macht ohnmächtiger Männer. Aber sie zeigt damit zugleich, dass ohne die Macht der Ohnmächtigen die Mächtigen, das Establishment, ohnmächtig sind – das Berliner Establishment.

Natürlich lässt sich das als steile These abtun. Doch im Hinterkopf sollte man sie schon behalten und eine weitere steile These hinterher setzen.  

Das Ganze funktioniert nämlich deshalb so gut, weil die AfD ihr Erfolgsgeheimnis absolut geheim hält. Aber man wird den Verdacht nicht los, dass es das BSW und Die Linke wohl auch kennen. Abgeschaut haben sie es indes von Joschka Fischer. Nur ist der längst Vergangenheit.

Die Brandmauer schützte vor allem die Mächtigen vor den Ohnmächtigen. Nun wundern sich die Mächtigen über ihre Ohnmacht. 

6 Kommentare:

Besserwisser hat gesagt…

Trump ist nicht ohnmächtig, leider

Analüst hat gesagt…

Ohnmächtig steht der Mensch, ist er allein.

Ernst Raupach (1784 - 1852), deutscher Dramatiker

Anonym hat gesagt…



"Die Brandmauer schützte vor allem die Mächtigen vor den Ohnmächtigen. Nun wundern sich die Mächtigen über ihre Ohnmacht." 👍
Das gleiche gilt für die "Unvereinbarkeit", die sich die CDU gegenüber der Linken auferlegt.
Die vermeintlich Mächtigen sind miese Schachspieler!

Rüdiger hat gesagt…

„Ohne die Ohnmächtigen wären die Mächtigen ohnmächtig“ - das ist eine vom Inhalt befreite Variante
des B.Brecht-Zitats:
„Reicher Mann und armer Mann standen da und sahen sich an. Da sagt der Arme bleich: Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“

Besserwisser hat gesagt…

Trump ist nur bewusstlos

Analüst hat gesagt…

Joschka beherzigte offenbar Winston Churchills Rat: "Es ist ein großer Vorteil im Leben, die Fehler, aus denen man lernen kann, möglichst früh zu begehen." Er ist ein Paradebeispiel für erfolgreiche Resozialisierung. Mehr geht kaum...