Dienstag, 28. Januar 2025

Die Macht und die Herrlichkeit (2)

Ein Versuch, die Welt zu verstehen - Von Raimund Vollmer

„Weltseele, komm, uns zu durchdringen!
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen,
wird unserer Kräfte Hochberuf.“

Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), deutscher Dichterfürst in seinem Gedicht „Eins und alles“

Das britische Wirtschaftsmagazin The Economist notierte am 25. Januar 2025: „Historiker reden über das lange 19. Jahrhundert, das 1914 endete. Man kann darüber streiten, wann genau das 20. Jahrhundert endete. Aber es ist vorbei.“[1] Und den Anlass für diese Aussage lieferte natürlich niemand anders als Donald Trump mit seiner Rückkehr ins Präsidentenamt der Vereinigten Staaten von Amerika.

Da thront er nun im Weißen Haus und dekretiert die Neue Welt, die er um die Grönländer erweitern will und für die er den Panamakanal zurückerobern möchte. Die alte Seemacht USA rüstet wieder auf – gegen die beiden Landmächte Russland und China, die danach gieren, sich die Ukraine und Taiwan einzuverleiben. Was für ihn ein Deal wäre, bedeutet für die beiden anderen Krieg und Sieg.

Ist es wirklich das neue Jahrhundert, das nun endlich das 20. Jahrhundert hinter sich gelassen hat? So lautete ja auch vor einer Woche meine vorlaut vorgebrachte These. Die Frage ist nun:

-   Springen wir zugleich zurück in das ultralange 19. Jahrhundert, das 1789 mit der Französischen Revolution begann und erst 1914 mit dem Beginn des Weltkrieges zu Ende ging,

-   oder entwickelt dieses 21. Jahrhundert seinen eigenen Charakter, wird es – 1989 mit dem Fall der Mauer erwacht – ähnlich lang werden?

Es ist eine Frage, die eigentlich viel zu groß ist für einen Schreiberling – zumal dessen eigene Lebenszeit sich dem Ende zuneigt.

Doch zieht sie mich an – auch auf die Gefahr hin zu dilettieren. Irgendwie möchte ich ein Gefühl für eine Zeit entwickeln, die vielleicht ganz anders ist als die, in der ich gelebt habe, die geprägt war von der Macht und Herrlichkeit großer, expansiver Institutionen und Bürokratien. Und ich kann mir vorstellen, dass die wenigen, aber treuen Leser und Kommentatoren der Journalyse ähnlich denken: Was ist, was wird anders – irgendwann dann auch ohne uns.  

***

Du fühlst dich besonders herausgefordert, weil letzte Woche, am Dienstag, 21. Januar 2025 morgens um 8.00 Uhr, dein Schwiegersohn Roland das tödliche Opfer eines Arbeitsunfalls wurde, der wenige Stunden später sogar die „Tageschau“ beschäftigte. Und du konntest im Laufe der Woche sehen, dass wir – die Familie, vor allem meine, vom Schicksal unmittelbar getroffene Tochter mit ihren zwei Kindern, vier und neun Jahre alt – keineswegs allein sind. Die Reaktion war und ist überwältigend. Vielleicht bekam ich da einen ersten Eindruck von der Dynamik  dieses 21. Jahrhunderts. So wie es ist, ohne das Erbe des 20. Jahrhunderts. Allen Autokraten, allen Donalds, Vladimirs und Xis zum Trotz – diese Welt baut sich von unten ganz neu auf. Das ist die stille Hoffnung, der wiederum Goethe Ausdruck gab in seiner Dichtung „Hermann und Dorothea“, als er über die Französische Revolution, die ja auch von unten kam, schrieb:

„Als man hörte vom Rechte der Menschen, das allen gemein sei,
Von der begeisternden Freiheit und von der löblichen Gleichheit!
Damals hoffte jeder sich selbst zu leben; es schien sich
Aufzulösen das Band, das viele Länder umstrickte;
Das der Müßiggang und der Eigennutz in der Hand hielt.“

Johann Wolfgang von Goethe (17491832), deutscher Dichterfürst in seiner Dichtung „Hermann und Dorothea“

 

Nie zuvor habe ich in dieser einen Woche so unmittelbar erfahren dürfen, was Solidarität – zumeist stillschweigende – wirkliche Solidarität bedeutet. Der schönere, auch emotional weiter fassende Ausdruck ist Brüderlichkeit. (Es heißt übrigens DIE Brüderlichkeit).

***

Es geschieht tatsächlich etwas anderes, vielleicht nicht Neues, weil wir immer noch dieselben Menschen sind. Aber wir fangen an, unsere Welt auf neue Art wahrzunehmen, diesen Weltgeist, von dem Goethe sprach und wahrscheinlich an Hegel dachte.

Wir verlassen uns nicht mehr auf die Institutionen und deren Mechanismen. Wir stellen uns selbst dem Weltgeist.

Mit ihm zu ringen wird unser Hochberuf. Und so traue ich mich. 

Fortsetzung folgt



[1] The Economist, January 25, 2025: „Project 1897“

14 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

"Was ist, was wird anders – irgendwann dann auch ohne uns."
Hier schwingt unsere zeitgenössische Eitelkeit mit,
die stille Sehnsucht nach etwas Unsterblichkeit.
Der Kern der Frage ist: was wird anders?
Dass es höchstwahrscheinlich nicht besser wird, lehren uns die vergangenen Jahrhunderte und das derzeitige und die handelnden Personen im derzeitigen.
Es wird immer nur anders! Immer schneller anders.
In der stillen Hoffnung aller Menschen, dass es besser wird, treiben wir das anders werden an, im Kleinen und im Großen.
Wir mühen uns, erfinden, entdecken, kämpfen, führen Kriege, dass es am Ende besser werde - seit wir aus dem Paradies sind.
Es wird immer nur anders!
Mit uns - und dann auch ohne uns.
Finden wir uns damit ab.
Außerdem: die Welt kommt gut ohne uns zurecht und die Menschheit auch.

Analüst hat gesagt…

Ich will reisen, weit fort! In die weite, weite Welt! Der Druck auf meinem Gehirn wird weichen. [...] Die kleine Hausfrauenseele loswerden, einen Schimmer erhaschen von der großen Weltseele.

Hedwig Dohm (1831 - 1919), deutsche Schriftstellerin und Frauenrechtlerin

Besserwisser hat gesagt…

Das Weltall erst recht

Besserwisser hat gesagt…

Der Edle strebt nach Harmonie, nicht nach Gleichheit.
Der Gemeine strebt nach Gleichheit, nicht nach Harmonie.

Konfuzius

Anonym hat gesagt…

Lass uns über etwas anderes sprechen!
Deepseek

Anonym hat gesagt…

Sleep Sheep! Alles Spekulatius…

Anonym hat gesagt…

Wer will das nicht?
Aber Neckermann Reisen gibt es nicht mehr und der CO2 Fußabdruck drückt auf's Gehirn.

Anonym hat gesagt…

Wir stellen uns selbst dem Weltgeist?
Den wir in Tiktok, fb, X, den Fernsehquizshows und den (Dschungel)Camps finden?
Der mal bei den Linken Zuhause war und den Miss Piggy verströmte.
So lächerlich und unnütz war die Menschheit noch nie.

Anonym hat gesagt…

"Wenn das alles ist?
Wenn das alles ist? "
Lied
Hildegard Knef

Anonym hat gesagt…


Paulus schrieb den Irokesen,
euch schreib ich nichts. Lernt erst mal lesen.

Robert Gernhardt  Gedichte 1954 - 1997
Zweitausendeins

Analüst hat gesagt…

Wo es Hände braucht, sind Worte völlig unnütz.

Aesop (um 550 v. Chr.)

Anonym hat gesagt…

Paulus schrieb nach Altenburg,
Es ist nicht unnütz, wenn zum TÜV ich gurk

Besserwisser hat gesagt…

Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft
Joseph Weizenbaum

Anonym hat gesagt…

Es gibt kein richtiges Leben im falschen, Herr Merz.