Die FAZ hat ihre Leser aufgerufen, Essays zum Thema "Wieviel Zeit braucht die Kunst?" einzusenden. Ich fand die Frage herausfordernd - und habe mich unter Bearbeitung alter Manuskripte drangemacht, einen Beitrag zu liefern. Gestern wurde die Shortlist der Beiträge veröffentlicht, die es in die Endrunde geschafft haben. Das sind sehr gute Beiträge. Ich bin nicht dabei. Aber meinen eigenen will ich Euch deshalb nicht vorenthalten. Unter Freunden.
(Unterhalb der Bilder steht der Text in besser lesbarer Form.)
Im Wurmloch der Kunst
1961: „Ich bin für die Kunst des Wurms im Apfel.“
Claes Oldenburg (1929-2022), amerikanischer Pop-Art-Künstler in seinem Stück „Am For…“
Düsseldorf im Frühjahr 1970. Wir trafen uns vor dem Landgericht, einem mächtigen Gebäude am Rande der Altstadt, in der Nähe der Kunsthalle. Wir, eine Handvoll Oberstufenschüler, fasziniert von der Zeit, in der wir lebten, die uns umgab und überwältigte, einer Zeit, die in sich selbst verstrickt und verliebt war.
Wunderbar.
So war es bisher. Doch an diesem Morgen nahm die Zeit das Wurmloch zwischen Kunst und KZ.
Du erinnerst dich. 50 Jahre später. Mal vage. Mal klar.
Da war die geliebte Kunsthalle, schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite. Gerade einmal drei Jahre alt war dieses Zeugnis brutalistischer Architektur. Ein Habenichts. Ohne eigene Sammlung. Leer. Frei schwebend in wechselnder Kunst. Aber die hat es in sich! Es ist Kunst, die dich fasziniert. Es ist Kunst, die in dem Moment lebt, in dem und indem du sie siehst. Kunst braucht keine Zeit, sie füllt sich selbst.
Augenglück?
Die Kunsthalle war ein Haus im Glück. Für dich.
Dort hatte just der Amerikaner schwedischer Abstammung, Claes Oldenburg, seine „gigantischen Alltagsobjekte“ präsentiert – und du, du warst zusammen mit Freunden, ohne Lehrer, aus eigener Neugier, staunend durch die Ausstellung gegangen, vorbei an überdimensionierten Lichtschaltern und Kuchenstücken, alles eingehüllt in weiches Sackleinen und glattem Latex. Für einen Augenblick glaubtest du sogar, ihn selbst in der Kunsthalle gesehen zu haben.
Es war der Tag der Eröffnung, der 15. April. Klar war er da. Er war es, der da gerade dynamischen Schrittes die Treppe hinaufstieg und sich kurz umdrehte. Nicht dir, sondern seinem Kurator galt sein fröhlicher Blick.
Claes Oldenburg, 1929 in Stockholm geboren, in den USA aufgewachsen, deren Staatsbürger er wurde. Zeit für seine ureigene Art der Kunst. Der Zeitgeist selbst wird Kunst – durch Übertreibung, durch plastische Zitate. Bigger than life.
Ein Meister der Popart und des Frohsinns. Er repräsentierte das Amerika, das seine Wurzeln hier hatte, in Europa. Ein Superstar. Ohne Allüren. Er war einmal Polizeireporter gewesen. Ganz unten. Nur Andy war berühmter. Auch dessen Familie stammte aus Europa. Aus den Karpaten.
Einige von Warhols Werken, seine Konserven, seine Monroe, waren ein Jahr zuvor in der Kunsthalle zu sehen gewesen. Du erinnerst dich gut an die überwältigende „Sammlung Karl Ströher“, gefüllt mit Ikonen der Pop-Art, die damals auf Tournee durch die Bundesrepublik gingen. Du sahst Comics von Roy Lichtenstein, Ikonen von Tom Wesselmann. Sensationell. Der leibhaftige Joseph Beuys, der überall mitfilzte, konnte jederzeit um die Ecke kommen.
Aber niemand verhinderte, dass sich die Sammlung schließlich mehr oder weniger auflöste. „Kein Happy End“ schrieb 2013 die FAZ. Die Sammlung wurde entleert zu profanem Zeitgeist, aus dem sich dann der ein oder andere bediente. Erbärmlich. Der Name entschwand in die Wikipedia.
Wer hat da versagt? Der Zeitgeist? Die Kunst?
Schlimmer: Kein gemeinsamer Wille-Geschehe. Kein innerer Sinn.
Doch dieses Gefühl, einmal im Leben etwas sehen zu dürfen, das Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart zugleich war – das blieb. In dir. Als ein Jetzt für die Ewigkeit.
Kunst war Leben in deinem eigenen Leben. Du musstest deshalb kein Künstler sein. Du warst mittendrin. Die Kunst umhüllte all deine Zeit. So wandertest du damals durch und zwischen die Nanas der Niki de Saint Phalle. Toll. Im Hintergrund wartete auch noch Edward Kienholz, der letzte übrigens, dessen Kunstwerke, begehbare Installationen, du in der Kunsthalle besuchtest. Im Juni 1970. Dort würdest Du durch sein Roxys spazieren, der künstlerischen Aufarbeitung eines Bordells der vierziger Jahre, in der er das Leben von Prostituierten anprangerte.
Kienholz war – wie viele – ein Autodidakt. Kein Studierter. Kein Schüler. Selbstkünstler in seiner eigenen Zeit. Besessen. Wütend.
Du hast sie nicht verehrt. Du hast sie nicht einmal verstanden. Doch berührten sie etwas in dir, was blieb. Geborgen und verborgen. In dir.
So lebe ich mich zurück in das Jahr 1970, in eine Zeit, in der mein Leben erst gerade richtig begann – und zutiefst erschüttert wurde. Denn ich wurde komplett aus meinem Leben geworfen, aus meiner Zeit.
Lebensschock.
Für Kunst hatte ich fortan keine Zeit mehr.
Dieser Mai-Morgen führte uns Schüler in die schlimmste Vergangenheit – nicht in das Gedenken an das Ende des 2. Weltkrieges, 25 Jahre zuvor, an die „Befreiung“, kein „Portable Memorial Day“, wie ihn Kienholz 1968 schuf. Nein, zurück in eine Zeit, in der es keine Zeit mehr gab – kein Glück, keine Freude, keine Kunst.
Nur Tod. Finsternis. Leere. Die einzige Überlebensgröße war hier das Überleben selbst. Leben als Überleben. Sechs Millionen Menschen blieb selbst dies verwehrt.
Du stehst vor dem Landgericht, ein mächtiges, säulenbewehrtes, Recht-strotzendes Gebäude. Zwischen Historismus und Klassizismus angesiedelt. 1921 errichtet. Die dritte Gewalt in überdehnter Gestalt.
Kein weicher Oldenburg. Nein. Eine Festung.
1961: „In unserer heutigen
Zeit kann man nur
noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken.“
Michel Foucault (1926-1984), französischer Philosoph
Da thront Macht über sich selbst. So muss es sein. Nur in Diktaturen haben andere die Macht über diese dritte Gewalt.
An diesem Frühlingstag war pures Entsetzen angesagt, durch keine Kunst vermittelt. Schieres Grauen – verpackt in einer kümmerlichen, jämmerlichen Gestalt – wartete auf dich und deine Freunde. Seit dem 13. Mai 1970 wurde am Landgericht einem unscheinbaren, harmlos wirkenden Ungeheuer der Prozess gemacht. Seine Name: Franz Stangl, 1908 geboren, Österreicher, Polizist. Er war 1942 Lagerführer des KZ Treblinka in Polen gewesen, verantwortlich für den Mord an Hunderttausenden von Menschen, vornehmlich Juden. Ein Nazi. Schlimmer als ein Nazi.
Wir Schüler waren im Rahmen eines Rechtskundeunterrichts eingeladen worden, an diesem Morgen den Prozess gegen den Meister des Todes zu verfolgen. Vor Beginn der Sitzung hatte uns der Staatsanwalt an die Seite genommen. Er berichtet, dass doppelt so viele Menschen in Treblinka umgekommen seien wie bisher angenommen. Irgendwie fiel da wohl die Zahl 800.000. Es war eine Zahl, die dein Vorstellungsvermögen überstieg, die dich so sehr überwältigte, dass dein Gefühltleben plötzlich abstarb. Du tratest zur Seite.
„Die Toten von Treblinka
sind nicht dazu da, dass sich die
Deutschen eine neue Identität beschaffen können.“
Wolfgang
Sofsky (*1952), deutscher Soziologe, 2005 in der FAZ
Da war nur noch eine Leere, die durch nichts gefüllt werden konnte. Auch später nicht. Durch keine Staatsräson. Nicht einmal durch nichts.
Du konntest dir nicht einmal die Tötung eines einzigen Menschen vorstellen und schon gar nicht, dass dieser Mann, der just in den Gerichtssaal schlich, für die Ermordung so vieler Menschen verantwortlich war.
Ein Monster, das noch immer tötete. Deinen Glauben.
Franz Stangl. Ein Katholik. Wie du.
Ihm hatte deine eigene Kirche noch nach dem Krieg zur Flucht nach Brasilien verholfen. Er saß nun da in einem Beichtstuhl, einem hölzernen Verhau, errichtet wie eine Bühne im Vordergrund des großen Gerichtssaales. Aber keine Beichte kam, nur Sensationen. Als ginge es allein darum – um die Höhe der Zahlen, zu Schlagzeilen vorbereitet. Ohne Hoffnung. Ein Zwerg in seinem Käfig.
Die Sitzung beginnt. Du hast nur noch Augen für diesen Mann, der lange Zeit unsichtbar gewesen war, verschwunden – in seiner eigenen Leere.
Keine Kunst kann diese unerträgliche Leere erfassen, egal, wie viel Zeit sie bekäme. Sie schweigt. Selbst Mahnmale scheitern, ob sie wollen oder nicht. Das Scheitern ist vielleicht sogar das letzte Ausdrucksmittel einer Kunst, deren zentrale Aufgabe es ist, ganz persönlich Verantwortung zu zeigen.
„Uns trägt überhaupt nichts“, hat Anselm Kiefer einmal über die Kunst gesagt. Kunst nach 1945.
Einer war noch fürchterlicher als Stangl: Adolf Eichmann, die Endlösung an ihrem wichtigsten und gefährlichstem Platz, dem Schreibtisch, dem Ort, der sich über alles erhebt. Er beansprucht alle Zeit. Auch die der Kunst.
Jetzt saß der Kommandant von Treblinka in diesem Schaukasten. Wie Teil einer Kienholz-Installation. Aber es war absolut keine Kunst. Er hockt da, stumm und reglos, in einem braun-beigen Anzug, innerlich tot – als wolle er genau die Willenlosigkeit und Verantwortungslosigkeit demonstrieren, die aus ihm einen Massenmörder gemacht hatte.
Er habe auf höheren Befehl gehandelt. Er sei unschuldig. Denn ihm habe der „freie Wille“ gefehlt. Nur ein Vollstrecker, nicht einmal ein williger Vollstrecker. Willenlos.
Eine zynische Verteidigungslinie. Eine Todesmaschine innerhalb einer noch größeren Todesmaschine.
Maschinen haben keinen Glauben, keine Hoffnung, keine Liebe, keine Verantwortung.
Er war das banale Böse, die totale Antithese zu jeder Art von Kunst, die sich immer zu ihrer Verantwortung bekennt.
Eichmann erstellte die Fahrpläne der Todeszüge, sorgte für den Input. Stangl steuerte den Output. Eichmann füllte die Züge, Stangl leerte sie. Ein unendlicher, logistischer Prozess, eine Aufgabe für Hollerith-Maschinen. Sie wurden auch tatsächlich eingesetzt. Programmierte Vollstrecker.
Nichts, kein Computer, hätte indes die Täter ihrer Verantwortung entheben können. „Ganz im Gegenteil nimmt diese Verantwortung im Allgemeinen zu, je weiter wir uns von dem entfernen, der das tödliche Werkzeug mit seinen eigenen Händen benutzt hat“, urteilte das Gericht in Jerusalem 1961 über Eichmann.
Computer und KI hingegen vergrößern diese Distanz ins Unendliche – und lassen am Ende die persönliche Verantwortung verschwinden. Dann gibt es kein Gericht mehr, das sie wiederherstellt. Sie wird unfassbar, die Justiz machtlos. Schon Stangl wurde im Grunde ignoriert. Der Prozess war der Prozess, der nur noch über sich selbst urteilte. Wie der Markt. Der Täter war unwichtig. Nur die Zahl zählt, der Preis, die Sensation. Wie bei einer Auktion. Wer bietet mehr? Schnell. Zeit ist Geld, nicht Kunst.
Ein Jahr später war Stangl tot. Herzversagen. Wenigstens das Herz hatte seinen eigenen Willen.
An diesem Tag im Mai 1970 verlorst du deine Sprache, dein Interesse für Kunst schwand ins Nichts. In einer längst vergessenen Kladde von damals hast du noch versucht, dieses Ereignis festzuhalten, als Erzählung, als Stilübung. Auf der Suche nach deiner eigenen Kunst, deiner eigenen Sprache. Stümperhaft. Als du die Kladde im Juli 2025 wiederentdeckst, siehst du, dass du das Experiment einfach abgebrochen hast. Gescheitert. Ohnmächtig.
Du wurdest Journalist, lerntest eine andere, fremde Sprache. Als Technik. Eine neue Welt erfasste dich, die Welt der technischen Sensationen. Nur einer zerrte dich ab und zu zurück ins Wurmloch: Paul Schwietzke, Meisterschüler von K.O. Götz. Klassenkamerad. In Gesprächen mit ihm ist wieder 1970, wieder Kunst. Sofort. Seine Bilder sind selten dekorativ, aber voller Glaube, Hoffnung, Liebe – auch, wenn sie einem manchmal verloren erscheinen. Stille Gedankensammlungen. Paul hat weitergemacht. Volle Verantwortung.
Ich betrat vor 50 Jahren, 1975, als Journalist die Welt der siegreichen Computer, die heute alles verdrängen, was Kunst und Kultur bedeuten – um sich selbst an die Stelle von Kunst und Kultur zu setzen. Blitzschnell. Gedankenlos. Ohne Zeitverlust. Ohne Verantwortung. Sie sind das banale Gute, ohne Menschen. Algorithmen vertreten uns. Nur wollen wir das nicht wissen, verdrängen es. Wir unterliegen einer „Barbarisierung der Beziehungen zwischen den Menschen“, schrieb 1990 der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski. Er meinte damit die damalige Entwicklung in seiner Heimat – und in Europa. Wir werden zu einem „in die Welt der Computer, Laser und kosmischen Abenteuer geworfenen primitiven Stamm“. Zu Würmern. Unterirdisch.
Du beginnst mit dem Schreiben dieses Textes in Zeiten von Corona. Die Einsamkeit brachte dich zurück zu deiner eigenen Sprache. Im Computer. Mehr als 1000 virtuelle Gedanken-Seiten kamen so zusammen. Überdimensioniert. Voller Lichtschalter und Tortenstücke. Transformiert in deine Stimme, in deine Kurzfilme, mit deinen Mitteln. Du fühlst dich verstanden, denkst du – zumindest von denen, über die du schreibst, auch wenn viele längst gestorben sind.
Aber ist es Kunst? 1970 bestimmt. Nur hättest du es nicht gekonnt. Und die Technik auch nicht. Jetzt kann sie es sogar ohne dich. Mit KI. Besser, schneller. Die Zeit überholt dich, überlebt dich. Die KI sammelt alles, sie speichert alles, sie zitiert alles. Sofort. Gedächtnis ohne Erinnerung.
Du bist zu spät.
„Wie viel Zeit braucht die Kunst?“, will die FAZ wissen. In der Kunst verschwindet die Zeit. Nur dann ist die Kunst auch Kunst. Ihre einzige Chance.
„Kunst hört auf Kunst zu sein, wenn sie zum Zeitgeist wird“, sagt mein Freund Paul. „Die Kunst selbst braucht keine Zeit. Man braucht allerdings Kunst, um den Zeitgeist herzustellen.“ Dann aber ist es ein Geschäftsmodell, keine Kunst, sondern Markt. Der hält derzeit wenig von Kunst, schon gar nicht von der Kunst derer, die nach 1970 (!) geboren wurden, von „ultrazeitgenössischer“ Kunst, heißt es in der Juli-Ausgabe des „Cicero“. Alte Meister und klassische Moderne seien noch gefragt, selbst Andy verliert an Wert.
Trumps Zollpolitik sei schuld. An der Kunst interessiert als Allerletztes die Kunst. Ihr Preis zählt, die Sensation. „Es entsteht im Moment nichts“, hat Anselm Kiefer 1992 über die Kunst gesagt, „jedenfalls nichts, das schon sichtbar wäre.“ So sei es bereits seit den fünfziger Jahren. Leere.
Es herrscht das Prinzip der Lieferkette, die alles liefert, nur keine Kunst. Aus Malerei wurde Design. Aus Literatur Bestseller, Preisträger. Aus Musik Spotify und Hitlisten. Aus Medien Quote und Egos. Man muss nur liefern. Zur rechten Zeit. Das Medium an sich, die Technik, ist die Message, die Marke. Alles ferngesteuert. Vom Schreibtisch, vom Computer, vom Handy, von der KI aus.
Ohne Sinn.
„Die Zeit ist nichts anderes als die Form des inneren Sinnes“, definierte Immanuel Kant. Diesen inneren Sinn gibt es nicht mehr. „Ich frage mich, worin der allgemeine Nutzen der Kunst besteht“, sagte jüngst der Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro im Gespräch mit der FAZ.
Kein Nutzen? Kein Sinn?
Es gab stets jede Menge Versuche. „Experimentelle Unruhe“, hatte es 1934 der Kunsthistoriker Henry Focillon genannt. Sie herrscht bestimmt auch heute. Diese Werke sind längst unter uns, über uns, zwischen uns. Wir sehen sie nur nicht. Sie sind ohne uns. Wir selbst verschwinden, unbemerkt.
Schon 1999 schrieb der französische Autor Michel Houellebecq in seinem Buch „Elementarteilchen“: „Es ist durchaus überraschend mitanzusehen, mit welcher Ruhe, welcher Resignation und vielleicht insgeheimer Erleichterung die Menschen ihrem eigenen Verschwinden zugestimmt haben.“
Der Komponist Udo Zimmermann meinte 1995, dass wir uns von dem „lebenserhaltenden Mythos, vom inneren Menschen“ verabschieden.
Wir haben aufgegeben, ohne es zuzugeben. Unser künstlicher Doppelgänger, die KI, übernimmt den Rest. Sie „wird schon bald in der Lage sein, die Emotionen der Menschen effektiv zu steuern“, meint Ishiguro, wenn sie auch selber keine Gefühle hat, Skrupel erst recht nicht. Sie ist ein willenloser Vollstrecker – ohne inneren Gerichtshof.
Und nun? Tertium non datur. Ein Drittes gibt es nicht.
Genau darin liegt die Überraschung, also die Kunst – in der Kunst selbst. Sie kommt aus dem Nichts, aus der Leere. Sie ist das Dritte, das nicht gegeben wird, sondern sich selbst schafft. Über die Literatur von übermorgen schrieb in den sechziger Jahren der Schriftsteller Helmut Heißenbüttel: „In Wahrheit hilft nur eins, kann nur eins weiterführen, das ist der Versuch, den der einzelne schreibend macht.“ Ein Versuch, wie dieses Essay, das gar keins ist, sein Thema total verfehlt, weil schon die Frage ohne inneren Sinn ist. Kunst braucht keine Zeit, nur Versuche. Dafür gibt es keine Geschäftsmodelle, hinter denen man sich wie in einem Startup verstecken kann. Auch Berühmtsein, das einem durch das Gewinnen von Preisen vorgegaukelt wird, hilft nicht. Sogar ein Nobelpreisträger wird da auf sich selbst zurückgeworfen. Ishiguro: „Haben wir die nötige Strenge und Ehrlichkeit, die Kunst zu schaffen und zu rezipieren, die uns tatsächlich nützt?“
Uns. Nicht der KI. Kunst ist menschlich, nicht künstlich. Zimmermann 1995: „Liegt nicht in jedem Augenblick der Welt auch die Chance für den Uranfang neuer Entwicklungen?“ Andernfalls „bliebe nun wirklich nur noch das Verstummen“.
Kunst ist jederzeit. Punkt.
Otto Rank hat‘s geahnt. 1932! Einst der engste Mitarbeiter von Sigmund Freud beendete er sein Buch „Kunst und Künstler“ mit dem Satz: „Der schöpferische Typus, der diesem Schutz durch das Kunstwerk entsagen kann und seine volle Schöpferkraft dem Leben und der Lebensgestaltung zuzuwenden vermag, wird der erste Vertreter des neuen Menschentypus sein, der für die Entsagung das volle Glück der Persönlichkeitsschöpfung eintauschen kann.“
Die Kunst bist du selbst. Du bist der innere Sinn. Jeder von uns. Du allein bist die Zeit, die die Kunst braucht. Die Persönlichkeitsschöpfung. Du Apfelwurm.
Mein Freund Paul hat zu allem einen Gegenbegriff – Poesie.
Wie es war: Im Anfang…
13 Kommentare:
Sackleinen schreibt man/frau doch nicht, lieber Künstler. Das sollten Sie doch eigentlich wissen …
??? Warum nicht?
Wir wissen doch alle: Beauty is in the eye of the beholder.
Es ist übrigens erstaunlich, wenn man als "Künstler" (als der ich mich übrigens überhaupt nicht verstehe) die Meldung, dass man nicht auf der Shortlist steht, aus der Zeitung erfährt. Dabei war und ist meine Email-Adresse bei der FAZ hinterlegt.
3. Oktober 2025 um 09:56
Ergänzung: Und auch nur, weil man Abonnent ist, erfährt man von dieser Entscheidung.
Die Kunst braucht keine Zeit.
Sie ist Zeit.
Verstand sich die FAZ nicht schon immer als elitäres Medium? Entsprechend wird offenbar mit Mitarbeitern, Autoren und Lesern umgegangen. Gender –*bitte dazu denken. Kann, abstrahieren und setze das bei meiner Leserschaft voraus. Verwende das generische Maskulinum zur besseren Verständlichkeit meiner Texte ohne diskriminierende Absichten.
Lieber Besserwisser, das erinnert an das Adorno-Zitat: "Elite kann man sein, nur darf man sich nicht als Elite fühlen." Dass unter Elite auch Männer verstanden werden könne, setze ich bei meinen Lesern und Leserinnen voraus...
Wie schon der Fashion-Guide zu Öko-Mode feststellt: „Fair heißt nicht Sackleinen“…
Klar - und Kunst braucht auch kein FAZ. Die ist doch viel zu betulich
Warum in Teufels Namen soll ich bei * immer etwas dazu denken?
Reicht das normal entwickelte Denkerhirn nicht?
Wenn man die Kommentare hier liest, versteht man sofort:
Kunst hat keine Zeit.
Oder: jede Kunst hat ihre Zeit
Kommentar veröffentlichen