Von Raimund Vollmer (2003)
Der Billionen-Bulle
Einher mit dieser technologischen
Aufrüstung ging eine kolossale Belebung der Kapitalmärkte. Die Inflation, das
große Schreckgespenst der siebziger und achtziger Jahre, schien im New Age
endgültig besiegt. Mit 2700 Punkten war der Dow Jones-Index in das letzte
Jahrzehnt des zweiten Jahrtausends gestartet. Als dann das dritte Millennium
problemlos seine rundum erneuerten Maschinen über die Datumsgrenze gebracht
hatte, hatte der Index bereits die 11.000er Marke überschritten. Ein neues Rekordhoch,
viermal höher als bei dem letzten Jahrzehntwechsel. Allein im letzten Jahr der
goldenen Dekade war der Index um 25 Prozent gestiegen.[1]
Überall herrschte Zuversicht. Nach dem
Crash vom 19. Oktober 1987, bei dem die Computer unter der Last der Panikverkäufe
zusammengebrochen waren, hatte sich die Börsenlandschaft in ein
hocheffizientes, weltumspannendes System gewandelt. Nie wieder sollten die
Rechner ausfallen, erst recht nicht wegen des Y2K-Bugs.
Während die Börsen technologisch
aufrüsteten, lieferten sich die Nachrichtenagenturen wie Reuters oder Bloomberg
einen heißen Kampf um News und Kurse, Facts & Figures. In Sekundenschnelle
boten sie ihren Kunden umfassende Analysen – mit einer Fülle und Präzision, wie
sie noch zu Beginn der neunziger Jahre unvorstellbar gewesen waren. Noch im
Februar 2000 hatte Reuters angekündigt, in den kommenden vier Jahren 800
Millionen Dollar in das Internet zu investieren. 65 Millionen neue Kunden
wollte man damit gewinnen, die dem Großmeister der Wirtschaftsnachrichten im
Jahr 2003 eine Milliarde an zusätzlichen Umsätzen bescheren sollten.[2]
Schon jetzt kontrollierten die beiden Giganten 85 Prozent des 6,7 Milliarden
Dollar schweren Geschäfts mit Finanzinformationen.[3]
Und das Internet würde ihnen mehr und mehr Kunden zuführen.
Derart mit Details über jeden und alles
versorgt, konzertierten sich die Börsen zu einer 24-Stunden-Sinfonie des
permanenten Aufstiegs. Jeder konnte mitmachen, Anteile an Firmen erwerben, die
zehn Jahre zuvor kaum jemand auf seinem Kurszettel hatte. Das Ergebnis:
Newcomer wie der Internetzulieferer Cisco ereichte auf dem Höhepunkt der Hausse
einen Börsenwert von 550 Milliarden Dollar. Und es gab nicht wenige, die in dem
Shooting-Star bereits die erste Firma sahen, die eine Kapitalisierung von einer
Billion Dollar, also 1000 Milliarden, erreichen würde.[4]
Nahezu alle Amerikaner, die zwischen 20.000 Dollar und mehr im Jahr verdienten,
besaßen nach einer Umfrage der Meinungsforschung Pew Research Center am Ende
des vergangenen Jahrzehnts Wertpapiere.[5]
In Deutschland, wo es 1998 so gut wie keine Onlinedepots gab, würden es nach
Berechnungen Fox Pitt, Kelton in 2010 zwölf Millionen sein, die jährlich knapp
500 Millionen Transaktionen an den Börsen anstoßen würden.[6]
Im Rausch der Merger
Auch die Unternehmen, die Objekte der
Begierde an den Börsen, hatten in den neunziger Jahren ihre Geschäftsprozesse
auf den neuesten Stand der Technik gebracht. So erschlossen sich die
Unternehmensführer mit Enterprise Resource Planning (ERP) den gesamten
betrieblichen Wertefluss und den Zugriff auf bislang brachliegende
Kosteneinsparungen. Sie meinten in ERP den Quell ewigen Gewinnwachstums
gefunden zu haben. Wo z.B. amerikanische Wirtschaftsdaten historisch eindeutig
belegten, dass mehr als sieben Prozent Profitsteigerung pro Jahr nicht drin
sei, so glaubte man noch im August 2000 auf Dauer pro Jahr 18,7 Prozent
herauszuholen. Dies ergab jedenfalls damals der Consensus unter den von der
Marktforschung First Call befragten Analysten.[7]
Doch angesichts der immensen
Skaleneffekte, die man aus dem Einsatz der Informations-Technologien
erwartete, galten historische Vergleiche
längst als Makulatur. Stattdessen waren die Unternehmen nun untereinander vergleichbarer
geworden. Dafür stand ERP, dafür stand aber auch die Angleichung der
Buchhaltungsvorschriften. Man organisierte sich nach US-GAAP oder nach IAS. Und
wo Transparenz herrscht, da wächst der Wunsch zusammen zu bringen, was zusammen
gehört. Eine gigantische Fusionswelle schwappte über die Weltwirtschaft. So
kombinierte sich im Lauf der Dekade die globale Geschäftswelt in einer 9.000
Milliarden Dollar schweren Übernahmewelle zu neuen Giganten, die sich aus ihrer
Verschmelzung bislang ungeahnte Synergie-Effekte erhoffte.[8]
Eins griff ins andere. Vorstände,
Analysten. Medien bestätigten sich auf ihren Konferenzen der gemeinsamen
Zuversicht. Jeder sprach mit jedem. Jeder glaubte jedem. Jeder kaufte jeden.
Auf dem Höhepunkt der Merger-Mania, im Jahr 2000, fand zum Beispiel alle 17 Minuten
eine neue Fusion auf dem Globus statt.[9]
Börsen, Banken, Märkte, Merger, Technologien, Strategien, Prozesse. Es war eine
wohlgeschmierte Achse des Guten, um die sich ein Weltwirtschaftsvolumen von
31.400 Milliarden Dollar drehte.
[1] The Economist, January 8, 2001: »Goldilocks, pursued
by a bear«
[2] Fortune, March 6, 2000,Richard Tomlinson: »Reuters $800
Million Web Bet«
[3] Financial Times, October 17, 2002, Carlos
Grande: »How a media organisation famed for being first with the news ist
struggling to keep pace with the market«
[4] Business Week, August 27, 2001, David Henry: »Wall
Street Risks«
[5] Business Week, August 27, 2001, Lee
Walczak: »America`s future - The mood now«
[6] The Economist, May 20, 2000, Simon Long: »The
virtual threat – A survey of online finance«
[7] The Economist, October 5, 2002: »American corporate
profits – Damned if you do«
[8] Newsweek, July 8, 2002, Karen Lowry Miller: »The
giants stumble«
[9] Newsweek, July 8, 2002, Karen Lowry Miller: »The
giants stumble«
1 Kommentar:
Wohl geschmiert, die Achse des Guten - ähm, bösen Kapitalismus!
Was ist geblieben aus dieser Zeit - außer Schulden???
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