Montag, 1. Januar 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 1)

 DER ZUKUNFTSSCHOCK

Von Raimund Vollmer 

Am 2. Juni 2019 hatte ich das hier vorliegende Kapitel verlassen, jetzt habe ich es, bis auf wenige redaktionelle Korrekturen, eigentlich nur um ein einziges Wort ergänzt: ChatGPT. Irgendwie ist das der vorerst letzte Zukunftsschock, der uns im November 2022 ereilte. Das gesamte Manuskript, das längst die Marke von 1000 Seiten übersteigt und aus dem ich dieses Kapitel herausgegriffen habe, steht unter der Überschrift "Ohne uns - Gibt es ein Leben nach dem Jetzt?" Diese Frage hat so viele Aspekte in mir geweckt, dass ich mich in immer mehr Themen regelrecht hineinlas und hineinfraß. Ein Leben ohne die Gedanken, die mir bei meinen Ausflügen begegneten, kann ich mir gar nicht mehr vorstellen. Es gibt so viele faszinierende Menschen mit so anregenden Gedanken und Phantasien, dass ich darüber mehr staune als über die gesamte Technik.

Im ersten Kapitel des Manuskripts, das ich in einen 20 minütigen Film verwandelt habe, stelle ich die These voran, dass jedes Jahrhundert immer schon 25 Jahre zuvor begann (Aussage von Peter F. Drucker/Tom Wolfe u.a.). Ja, dass man sogar sagen kann, dass dieses Jahrtausend in Wahrheit auch schon um 1750 (mit der Aufklärung, der französischen, der amerikanischen und der industriellen Revolution) begonnen hat. Deshalb ist vielleicht der 1. Januar 1975, mit dem ich heute beginne, besonders interessant...

Zu meiner Person: Mein Name ist Raimund Vollmer (Jahrgang 1952, geboren in Dortmund) Ich habe vor 50 Jahren, im Sommer 1973, als Volontär bei der Westdeutschen Zeitung/Düsseldorf Nachrichten begonnen. Zwei Jahre später wurde ich Redakteur bei der "Computer Zeitung" ohne auch nur die geringste Ahnung von diesem Titel-Gerät zu haben. Manchmal habe ich den Eindruck, dass dies noch heute stimmt, allerdings auf sehr viel höherem Niveau. Wahrscheinlich haben wir auch keine Ahnung von uns Menschen, was ich nach inzwischen 71 Jahren Lebenszeit bestätigen würde. Aber das macht es gerade so spannend. Ich bin - trotz aller Kritik - immer noch fasziniert von dieser Technik. 

1978 wurde ich Chefredakteur des Computer Magazins (das ich ebenso überlebt habe wie die CZ). Seit 1981 lebe ich als freier Journalist in Reutlingen bei Stuttgart, verheiratet, drei Töchter, vier Enkelinnen, zwei Enkel. Ich bin seit mehr als vier Jahrzehnten Mitglied im Deutschen Journalisten-Verband, der mir aber zunehmend fremd wird. - Ich habe meine Texte nicht gegendert.

 

1989: »Nichts verändert die Gesellschaft in all ihren Äußerungsformen und auf allen Ebenen so sehr wie die Technik.«

Bernd Guggenberger (*1949), deutscher Politikwissenschaftler



Am 1. Januar 1975 erschien auf der Titelseite der amerikanischen Fachzeitschrift ‚Popular Electronics‘ ein Bild des ersten Heimcomputers der Welt. Sein Name: Altair. Wie der ferne Stern. Und die, die ihn als erste sahen und richtig deuteten, waren die beiden Amerikaner Paul Allen und Bill Gates. Inspiriert von dieser Titelgeschichte starteten sie am 4. April 1975 das bald mit seinen Befehlssätzen auf nahezu allen Computern präsente Projekt Microsoft.

Der Altair war gelandet. „Das Jahr 1975 markiert einen Wendepunkt“, schrieb die kluge Soziologin Sherry Turkle (*1948) neun Jahre später in ihrem Bestseller „Die Wunschmaschine“, in dem sie uns „Vom Entstehen der Computerkultur“ berichtet. Und der Wendepunkt war diese kleine „Wunschmaschine“. [1]

Das neue Jahrhundert hatte begonnen, der Start einer neuen Ära. Gerade rechtzeitig. Denn es herrschte Endzeitstimmung, wenngleich aus höchst unterschiedlichen Beweggründen. Der Journalist Alvin Toffler (1928–2016), der bald der meistzitierte Zukunftsforscher der Welt wurde, hatte 1970 seinen Weltbestseller „Der Zukunftsschock“ veröffentlicht. Darin meinte er: Was sich momentan vor unseren Augen abspiele, sei „nichts weniger als die zweite große Trennungslinie der Menschheitsgeschichte“. Mit dem Übergang vom „Natur- zum Kulturzustand“ habe die Menschheit den „ersten großen Bruch“ vollzogen. Nun aber befänden wir uns in einer Epoche, die „weit umfassender, tiefgreifender und bedeutsamer sei als eine industrielle Revolution“. Alles verändere sich nicht nur viel zu schnell, sondern obendrein mit steigender Geschwindigkeit.[2] Ein Gefühl, das uns bis heute immer wieder beschleicht, egal, ob es nun objektiv stimmt oder nur subjektiv wahrgenommen wird.

Toffler griff mit seinem fast 400 Seiten starken, mit Beispielen prall gefülltem Buch weit in die Zukunft. Selbst der deutsche Zukunftsforscher Robert Jungk (1913–1994) war beeindruckt von diesem Werk: „Noch nie ist mit einer solchen Überfülle von Fakten gezeigt worden, wie technischer Fortschritt, der über den Produkten die Produzenten vernachlässigte, zu einer kollektiven Erkrankung führte, für die der Autor den Terminus 'Zukunftsschock' fand“, urteilte Jungk in einer Buchbesprechung im 'Spiegel', das noch Nachrichtenmagazin genannt wurde.[3]

Um uns zu zeigen, was mit uns passiert, reiste Toffler weit zurück in die Vergangenheit und rechnete uns vor: Rund 800 Lebensspannen zu jeweils 62 Jahren umfassen die letzten 50.000 Jahre der Menschheit. 650 Lebensspannen haben wir in Höhlen verbracht, doch erst in den letzten 150 Lebensspannen haben wir so richtig Fahrt aufgenommen – in einem Maße, dass wir uns fragen müssen, ob wir intellektuell und konstitutionell überhaupt für eine solche Beschleunigung geschaffen seien.

Sieben Jahre später sollte Paul Virilio (1932–2018), französischer Philosoph, in seinem Essay „Vitesse et Politique“ davon sprechen, dass der die Macht habe, der die Geschwindigkeit kontrolliere. „Lebendig sein heißt Geschwindigkeit sein“, hatte er offenbar Tofflers Thesen weiter getrieben.[4] Und 2002 meinte er, dass „Schnelligkeit keine Frage der Zeit zwischen zwei Punkten“ sei, sondern eine eigene Form von Herrschaft darstelle. Sie sei „eine Gewalt an sich“.[5]

Aber sind wir dieser Gewalt überhaupt gewachsen? Das Internet der rasenden Dinge sagt Nein. Und nur etwas ganz anderes sollte uns viele Jahre später stoppen können: ein Virus namens Corona. Full stop. 

2001: »Wir sind Menschen, keine Maschinen«

Didier Sicard (*1938), Präsident des Nationalen Beratungskommitees für Ethik in Frankreich



Damals wie heute wird sichtbar: Der Mensch erscheint als eine Fehlkonstruktion. Er ist viel zu schwach, um seine eigene Zukunft überhaupt meistern zu können. Er kommt mit sich selbst nicht mehr mit. Ganz anders die robusten Roboter, „die Funktionen ausüben, die normalerweise dem Menschen zugesprochen werden oder als das erscheinen, was man fast schon als menschliche Intelligenz bezeichnen könnte“, formulierte das populäre englischsprachige Wörterbuch „Webster's“ in den siebziger Jahren.

Ist der schwache Mensch also dazu verurteilt, sein Schicksal an ein künstliches Gehirn abzugeben? „Ein populäres Thema der Science–fiction ist die Story von einem gigantischen Computer, der die ganze Welt übernimmt“, meinte 1980 der Wissenschaftler Thomas B. Sheridan (*1929) in der vom amerikanischen Massachusetts Institute of Technology (MIT) herausgegebenen Zeitschrift „Technology Review“.[6] Von „modernen Digitalrechnern“ sprach bereits 1964 der IBM–Wissenschaftler Arthur L. Samuel (1901–1990). Und er war sicher, dass im Jahr 1985 „fast jeder seine eigene Rechenanlage besitzen wird“. So würde dies zumindest in der „kapitalistischen Welt“ sein, die nun einmal dezentral organisiert sei. Im zentralistisch geplanten Kommunismus hingegen würde „jedermann über einen eigenen Anschluss an eine oder mehrere große, regierungseigene Rechenanlagen“ verfügen, so dass die Regierung auf keinen Fall die Kontrolle über die Nutzung der Maschinen verliere. Er sah auch schon das Handy voraus, das dem Menschen nicht nur zum Telefonieren diene, sondern auch als Instrument, um auf diese Weise „mit seinem Rechner Verbindung“ aufnehmen. zu können. Er träumte mit Blick auf das Jahr 1985 von automatischen Übersetzungsprogrammen, die als Synchrondolmetscher selbst dem gesprochenem Wort gewachsen seien. „Bibliotheken mit richtigen Büchern“ würde es nur noch in öffentlichen Bibliotheken geben – und er sah vor sich das papierlose Büro.[7]

 

1992: »Der Held des 20. Jahrhunderts ist eine Null.«

Überschrift in der Frankfurter Allgemeine Zeitung am 20. Juni 1992

Auch wenn die Prognosen 1985 noch längst nicht erfüllt waren (und zum Teil auch heute noch nicht sind), war der Glaube an den technischen Fortschritt nach wie vor ungebrochen – zumindest bei den technisch interessierten Intellektuellen. Diese machten sogar unglaublichen Druck – wie zum Beispiel 1983 die beiden Amerikaner Edward A. Feigenbaum (*1936) und Pamela McCorduck (*1940) in ihrem Buch „Die fünfte Computer-Generation“. Hier bauten sie das Thema Künstliche Intelligenz zu einem erbarmungslosen Wettlauf zwischen den USA und Japan auf ­– so wie es heute zwischen China und dem Rest der Welt diagnostiziert wird. Es ging damals wie heute um die „Wissenssysteme“, die – mit artifizieller Intelligenz ausgestattet – das Merkmal einer „postindustriellen Gesellschaft“ werden sollten, einem Begriff den 1973 der amerikanische Journalist und Soziologe Daniel Bell (1919–2011) zwar nicht erfunden, aber berühmt gemacht hatte. 

1984: »Wir sind offenbar unfähig,
die Natur unserer eigenen Denkvorgänge zu verstehen.«

Douglas R. Hofstadter (*1945), amerikanischer Kognitionswissenschaftler


„Nun sind wir auf dem Weg zur nächsten Stufe – dem Zeitalter intelligenter Maschinen“, schrieben Feigenbaum und McCorduck mit der Atemlosigkeit, die allen technisch getakteten Zukunftsforschern eigen zu sein scheint. Im selben Jahr, 1983, prophezeite der deutsche Fernseh-Journalist Dieter Balkhausen (1937–2018) mit ähnlichem Pathos, dass „der Großcomputer, der das gesamte Wissen der Menschheit zu speichern in der Lage ist, keine Utopie“ mehr sei.[8] Ja, er sah eine Fülle von Novitäten mit Blick auf das Jahr 2000 auf uns zurollen. So erwartete er das Aufkommen von Biochips, „die in den menschlichen Körper eingepflanzt würden und deformierte und untüchtige Sinnesorgane ersetzen sowie defekte Nervenbahnen überbrücken könnten.“

Taube, die wieder hören, Stumme, die wieder sprechen, Blinde, die wieder sehen, Lahme, die wieder gehen, und Demente, die nichts mehr vergessen – was für eine Zukunft! Der amerikanische Molekularbiologe Joshua Lederberg (1925–2008), immerhin Nobelpreisträger, meinte in den siebziger Jahren, dass wir die Gehirnhöhle des Menschen vergrößern müssten, damit unsere grauen Zellen genügend Platz zum Wachsen hätten, um mit den neuen Anforderungen an das Leben zurecht zu kommen.

Vielleicht werden wir aber größere Schädel aus einem ganz anderen Grund benötigen. Der Wissenschaftsautor Johannes von Buttlar hatte bereits 1979 in seinem Buch „Der Supermensch“ von Vorschlägen berichtet, unsere Gehirnleistung durch Chips zu verstärken. „Der im Kopf implantierte Computer wäre so natürlicher Teil des menschlichen Gehirns“, schrieb er.[9]

Die meisten Erwartungen gingen noch nicht so weit, waren dafür aber näher an der Lebenswelt von heute. Sheridan z.B. leitete damals das Mensch-Maschine-Labor am MIT. Computer würden „unser alltägliches Leben durchdringen und uns auf mannigfaltige Weise von ihnen abhängig machen.“ Heinz Zemanek (1920–2014), österreichisches Computer–Genie, sprach – man staune – 1980 wortwörtlich von einer „Zukunft der verwobenen Netze der Netze“, bei dem die „Dichte des Energie–und Fernsprechnetzes um Größenordnungen überholt werde“ und jeder „Zugriff zu gigantischen Datenbanken“ haben werde.[10] Er nannte sie „digitale Informationsader“, lange bevor die Lobbyisten der IT und die Politiker uns mit dem Begriff „Digitalisierung“ zu schockinstrumentalisieren versuchten. Zemanek erwartete bei dem, was auf uns zukäme, „ein Bild von ungeheurer Tiefe und Vielfalt“.

Er sah wie Sheridan aber auch die Bedrohungen, von denen der Amerikaner sieben auflistete, Bedrohungen, mit denen uns die Allgegenwart der Computer konfrontieren werde. Die siebte dieser Bedrohungen sei auch die größte, denn sie bestehe in der Angst davor, dass die Maschine intelligenter werden könne als wir.

Es ist eine Angst, der dann 1973 der Harvard–Professor Lawrence H. Tribe (*1941) die Krone aufsetzte, als er in einer 44seitigen Schrift die drei Zukunftsschocks beschrieb, die die Menschen in den vergangenen 500 Jahren zu meistern hatten – und auf die nun mit der Künstlichen Intelligenz eine vierte Disruption (Tribe nannte es „Diskontinuität“) lauerte.[11]

·        Erst war es Nikolaus Kopernikus (1473–1543), der mit seinen astronomischen Erkenntnissen unsere Erde aus dem Zentrum des Universums katapultierte. 

·        Dann war es Charles Darwin (1809–1882), der mit seiner Evolutionstheorie unser nächstes Weltbild zerstörte.

·        Den dritten Zukunftsschock versetzte uns Sigmund Freud (1856–1939) mit seiner Psychoanalyse, die unser Seelenleben in die Abgründe unserer Triebwelten schmetterte.

·        Nun stünde die vierte Kränkung ins Haus – der Sturz vom Thron der Erkenntnis.

Schon der Brite Alan Turing (1912–1954), der Mann, der für die Entwicklung der Informatik bahnbrechend wirkte, hatte sich sehr intensiv und sehr systematisch mit diesen Themen beschäftigt. Er gilt mit seiner Frage „Können Computer denken?“ als einer der Begründer der Künstlichen Intelligenz. „Er beantwortete seine Frage nicht, sondern entwarf eine Simulationssituation, in der ein Computer die Aufgabe hat, einen Menschen über seine wahre Natur zu täuschen“, erläutert der Informatikprofessor Bernd Radig (*1944), dessen Spezialgebiet die Künstliche Intelligenz ist.[12] Um die Existenz künstlicher Intelligenz nachweisen zu können, erfand Turing einen nach ihm benannten Test, bei dem die Maschine im Dialog so überzeugend wirkt, dass Menschen die Antworten ihres künstliches Gegenüber für menschlich halten. Bluffen gehört da momentan immer noch zum Geschäft.

Ob Turing selbst die immer wieder vorgestellten Testergebnisse akzeptiert hätte, ist fraglich, ob die Maschinen vor ihm selbst bestanden hätten, noch mehr. Er war umfassender interessiert. „Kann echte Intelligenz in jeder Art von Substrat – sei es organisch, elektronisch oder sonst wie beschaffen – enthalten sein?“, startete der amerikanische Informatik–Denker Douglas R. Hofstadter (*1945) in seinem Buch „Metamagicum“ einen ganzen Strauß von Fragen, mit denen sich das Superhirn Turing beschäftigt haben muss.[13] Im Internet der Dinge, wie es sich nun herausbildet, wird genau das gefordert sein – und jeder Fortschritt gefeiert. Von uns Menschen.

 

»Bevor wir es überhaupt wert sind Menschen genannt zu werden,
hat uns die Wissenschaft bereits zu Göttern gemacht.«

Jean Rostand (18941977), französischer Schriftsteller

Diese Themen lassen uns nicht mehr los, eigentlich begleiten sie uns schon seit der Zeit René Descartes (1596–1659) – und je mehr wir uns damit beschäftigen, desto verwirrter sind wir. Denn wir sind uns plötzlich selbst nicht mehr unser sicher. „Ist unser Gehirn eine Illusion?“ fragte sich 1991 Daniel Dennett (*1942), ein amerikanischer Philosoph und Kognitionswissenschaftler, und antwortete selbst mit einem klaren Ja. Der menschliche Verstand ist für ihn eine „virtuelle Maschine“, die sich einer parallelen Hardware bedient, „die uns die Evolution beschert hat.“ Sein britischer Kollege Gilbert Ryle (1900–1976) hatte schon 1949 ein ähnliches funktionales Verständnis von unserem Verstand entwickelt und den Ansatz von Descartes („Cogito ergo sum“) als ein „Gespenst in der Maschine“ veralbert.[14] Aber damit waren wir dieses Gespenst noch lange nicht los.

Im Gegenteil: wir suchen geradezu den Geist in der Maschine, ja, wir wollen es vielleicht sogar selbst sein. Das wäre dann sogar ein fünfter Zukunftsschock – diesmal allerdings für die Maschine. Wir erobern sie zurück.

Jeremy Rifkin (*1945), amerikanischer Zukunftspapst schlechthin, nahm 1983 ebenfalls Anleihen bei Nobelpreisträger Lederberg und meinte, dass wir nun in das Zeitalter der „Algeny“ einträten – einem Kunstbegriff in Analogie zur Alchemie, die beseelt war von der Vorstellung, durch pyrotechnische Zauberkunst Materie wie Blei in Gold zu verwandeln. Nun begänne die biotechnische Zauberkunst, das Spiel mit den Genen. Daraus würde ein Biocomputer entstehen, über den wir erstmals unsere Vorstellungen direkt in die Natur hineinprojizieren könnten. „Mit der Gen–Maschine ist es möglich, lebendes Material in neue Designs und Produkte zu übertragen – und zwar in ausreichender Stückzahl und mit genügend Geschwindigkeit, um einen kostenwirksamen Startpunkt für die biotechnische Wirtschaft zu haben“, meinte er 1983 in der Fachpublikation Datamation.[15]

Natürlich würden wir damit auch den Menschen optimieren, wobei es letztlich egal wäre, ob organisch oder anorganisch. Virilio sah eine Zeit, in der wir unsere Existenz mehr und mehr an technische Prothesen heften werden. Wir würden gleichsam unsere Lebensumstände an die der Behinderten anpassen.[16] Einer dieser Behinderten, der 2018 verstorbene Physiker Steve Hawking, meinte zwei Jahre vor seinem Tod: „Theoretisch ist es möglich, ein Gehirn auf einen Computer hochzuladen und auf diese Weise ein Leben nach dem Tode zu ermöglichen.“[17]

Wir verlassen also unsere Biosphäre und materialisieren uns in Silizium.

Dass dies oder eine andere Form des ewigen Lebens in absehbarer Zeit möglich sei, davon sind vor allem mittelalte Milliardäre überzeugt, Menschen, die wie Google-Gründer Sergey Brin oder Amazon–Schöpfer Jeff Bezos mit ihren Imperien gigantische Organisationen geschaffen haben, die immer mehr unserer Lebensbereiche beherrschen – durch Geschwindigkeit, Allwissenheit und Allgegenwart. Warum sollten sie nicht auch die Ewigkeit erreichen – nicht nur als System, sondern auch als Mensch? Sind wir nicht geradezu dazu verurteilt, auf diese Art und Weise die Macht über das Geschehen  zurückzugewinnen, indem wir selbst zur Maschine werden, ihr das geben, was ihr auf absehbare Zeit fehlen wird: ein Bewusstsein?

Schon zuvor, in den Jahrzehnten nach der Industriellen Revolution, haben wir uns mächtige Organisationen des Staates, der Wirtschaft und der Wissenschaft geschaffen. Es sind Organisationen, Systeme, denen wir mehr und mehr unsere Zukunft überlassen haben, denen wir zugleich eine Ewigkeitsgarantie gegeben haben. Sie sind mehr als nur Prothesen. Sie bestimmen heute fast alle unsere Bewegungen. Werden diese aufgeblähten und aufgeblasenen Institutionen in der Lage sein, auch in den kommenden Jahrzehnten unser Schicksal zu bestimmen,  oder werden wir selbst die Herrschaft wieder übernehmen?

Zweifel daran, dass wir die Macht über unser Schicksal zurückgewinnen würden, waren schon 1970 angebracht, als Toffler uns den 'Zukunftsschock“ verpasste. Der Mensch selbst – so hatten Ärzte nachgewiesen – sei in seiner Anpassungsfähigkeit begrenzt. Und zwar sowohl psychisch als auch physisch. Schockstarre ist das Ergebnis. Die Folgen lassen sich dabei auf drei Verhaltensmuster reduzieren:

·        Totale Verdrängung aller Ängste und Bedenken durch zwangsprogessives Agieren.

·        Spezialisierung und Expertentum, indem wir immer mehr über immer weniger wissen.

·        Rückzug ins Retro–Denken, also Flucht in die gute alte Zeit, in der vermeintlich alles besser war.

Vielleicht läuft es aber auch ganz anders. 1986 hatte Kim Eric Drexler (*1955) unter dem Titel „Engines of Creation“ den Begriff der Nanotechnologie ins Spiel gebracht und dabei die Vision entwickelt, dass eines Tages programmierbare Molekular–Effektoren (PMEs) in unsere Umwelt entlassen werden würden, um dann mehr oder minder systematisch das natürliche Leben durch künstliches zu ersetzen.[18] Eine bedrückende Vorstellung. Wir bereiten uns selbst den Garaus. Lapidar ausgedrückt könnte man sagen: Entweder übernehmen wir die Maschine, oder die Maschine übernimmt uns.

Im Grunde genommen stehen wir immer noch unter Zukunfts-Schock mit der Tendenz  zur Zwangsprogressivität.  Bis heute sind wir nicht in der Lage, uns das Unvorstellbare vorzustellen – eine Welt, in der wir uns endlich um uns selbst kümmern. Wir finden 1000 Ausreden, um genau dies nicht zu tun. Die größte Ausrede ist dabei das Streben nach einem ewigem Leben, das wir nicht mehr nur als Species in übermenschlichen Institutionen, sondern als Individuum in technischen Systemen erlangen wollen. Werden wir uns wirklich als Individuen erhalten können, oder werden uns nicht vielmehr die Maschinen einverleiben, uns dabei das stehlen, was ihnen bis auf weiteres fehlt: ein eigenes Bewusstsein. Werden sie es sich – so paradox das klingt – dieses Bewusstsein unbewusst aneignen? Turings Geniestreich bestand darin, dass er die Frage nach einem eigenen Bewusstsein als Voraussetzung für künstliche Intelligenz ganz einfach ausklammerte. Und beim Blick auf unsere mächtigen, allzu groß geratenen und anonymen Institutionen könnte man den Eindruck gewinnen, dass diese auch reibungslos funktionieren, ohne ein eigenes Bewusstsein zu haben. Ein gefährliches Spiel.

Toffler vermutete jedenfalls, dass wir bereits zu sehr die Organisationen pampern, denen wir die Daseinsfür- und -vorsorge überantwortet haben. Sie avancieren zu einem „Superindustrialismus“, ohne dass wir merken, dass dessen ausschließliches Motiv nur noch die Selbsterhaltung ist. Es geht ihnen nicht um uns, sondern nur noch um sich selbst. Es ist nicht so, dass sich diese Superorganisationen dessen bewusst sind, sie folgen einem Gesetz, das aus sich selbst existiert – wie die Natur. Aus eigener Kraft.

Der Philosoph Helmut Kuhn (1899–1991) forderte 1971: „Die technologische Apparatur der modernen Massengesellschaft erzwingt eine Verschiebung des Gewichts politischer Aktion auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Wie viel Staat wir brauchen? Jedenfalls viel mehr als vor hundert Jahren, sehr viel mehr als in der Blütezeit des modernen Nationalstaates.“ Und dann: „Die Komplexität der technologischen Massengesellschaft fordert eine Verwaltung im Riesenmaßstab. Unter einem solchen Zwang wurde der moderne Staat – Überstaat im Osten, Unterstaat im Westen – zu einem Verwaltungsstaat sondergleichen.“ Natürlich missfällt dem Bürger diese Entwicklung. „Allseitig vom Staat bedrängt, möchte er am liebsten vom Staate nichts wissen“, diagnostiziert Kuhn die Ausbreitung von Staatsverdrossenheit.[19] Zwischen all den Mächten, die uns wunderbar umsorgen, möchten wir doch für uns selbst sein, zu uns selbst kommen.

1961: »Das Zeitalter der ‚denkenden Maschinen‘ und der Automation hat begonnen.«

Irving Adler (19132012), amerikanischer Mathematiker und Buchautor

Im Prinzip wollen wir, dass dieser „Superindustrialismus“, um diesen Tofflerschen Begriff zu benutzen, unsichtbar ist – so wie es Software par excellence ist. Sie bildet eine eigene Sphäre, sie ist gleichsam ein Zwischenreich, eine Bezugsebene, in der sie sich selbst spiegelt und damit mehr und mehr die Wirklichkeit, über die sie wacht, zu der sie wird. Damit ist sie wie geschaffen für Bürokratien. Beide sind unglaublich selbstbezüglich, autoreferentiell. Sie beziehen alles auf sich und durch sich hindurch. Insofern sind auch Facebook und Google nichts anderes als Bürokratien. Sie sind nicht nur dabei, unser Leben in sich abzubilden, sie wollen es auch durchdringen. Sie wollen uns leben, sie wollen unser Leben, indem sie unsere Wünsche noch vor uns kennen. Und die Künstliche Intelligenz, die Krone aller Software–Entwicklung, wird diesen Systemen ein menschliches Antlitz geben. ChatGPT.

Software frisst uns auf, zieht uns in ihren Schlund. Ganz still. Ganz leise. Im Hintergrund allen Geschehens. Eigentlich erfüllt sich damit ein „Klassiker des Marxismus“, wie es 1973 der Soziologe Helmut Schelsky (1912-1984) formulierte: „Die Ablösung der Herrschaft von Menschen über Menschen durch 'Verwaltung von Sachen'„.[20] Wir selbst sind auch nur noch Sache. Mit verheerenden Folgen: „Die Gesellschaft ist dem Zufall überlassen worden“, zitiert Toffler den britischen Politiker Raymond Fletcher.

Das war der Blick der siebziger Jahre auf die Zeit, in der wir heute leben. Ein sehr scharfer Blick. Die siebziger Jahre wirkten wie eine Zäsur, eine Epoche war zu Ende, eine neue begann. Ob sie unseren Beifall verdient, ist die ganz, ganz große Frage...

Prost Neujahr

Sonntag, 31. Dezember 2023

Kurzporträt

Raimund Vollmer, Rheinstraße 40, 72768 Reutlingen, 07121-67511
Jahrgang: 1952
Geburtsort: Dortmund
Abitur: 1973 (Düsseldorf)
Volontariat: Westdeutsche Zeitung/Düsseldorfer Nachrichten (1973-1975)
Redakteur: 1975-1978: Computer Zeitung / Computermagazin
Chefredakteur: 1978-1980 Computer Magazin
Selbständig: seit 1981, auch mit dem Ziel, ein persönliches Archiv der Zeitgeschichte zu errichten
Bücher: Der Markt sind wir (1978), Das blaue Wunder (1984), Die Technociety (1985), Mythos IBM, drei Bände (1987, 1988, 1989), Das Milliarden-Mandat (1991), BlueLand (1997), Unsere Zeit (2017) 

Preise: 2004 PR-Award, LACP-Auszeichnungen für Geschäftsberichte der USU Software AG

Ich bin seit 50 Jahren im Journalisten-Beruf - durch alle Höhen und Tiefen, Mitglied im DJV.  

 Diesen Blog betreibe ich seit 2008  - mit Unterbrechnungen. 

Wiederaufnahme am 1. Januar 2024


 


Donnerstag, 21. Dezember 2023

Ich hoffe, dass ich die Kraft und Geduld aufbringe...

 ... diesen Blog im kommenden Jahr wieder aufleben zu lassen. In meinem realen Leben war soviel los, dass ich gar nicht mehr die Konzentration fand, mich auf die Online-Welt einzustellen und hier etwas einzustellen. Nichts Schlimmes, viel Turbulentes, sehr viel Nachdenkliches und noch mehr Experimentelles (jedenfalls für mich) hat sich 2023 und auch davor ereignet. Ich habe versucht und versuche es immer noch, die Welt, in die wir uns transformieren, zu verstehen. Mehr als tausend Seiten Manuskript und zwei Stunden vorzeigbaren Films, die meine Erkundungen in die Ungewissheit begleiten, sind inzwischen entstanden. Immer wieder kamen Anregungen von innen und außen dazu, immer wieder neue Konstellationen und Perspektiven. Manches verwarf ich, um es dann doch wieder hervorzuholen. Es war eine Reise im Gehirn und durch Archiv, das zu digitalisieren jeden Abend meine Aufgabe ist. Es ist eine Sisyphus-Arbeit. Aber ich denke, dass ich so schon ein paar hundert Ordner in meine elektronischen Speichern habe transferieren können. Viele Anregungen habe ich beim Sichten des Materials bekommen, die mich immer wieder haben staunen lassen - nicht über KI und andere Wissensmachinen, sondern über uns. Es gibt so wundervolle Denker und Dichter, dass man manchmal richtig stolz darauf ist, Mensch sein zu dürfen und diese Gedanken in sich aufnehmen zu können. 

Im kommenden Jahr möchte ich hier, in diesem Blog, kontinuierlich - und sei es nur einmal in der Woche - auf diese Gedankenströme aus Jahrzehnten und Jahrhunderten aufmerksam machen. Über Eure, über Ihre Kommentare freue ich mich dann ganz besonders. 

In diesem Simnne wünsche ich all meinen Freunden (und an die wendet sich dieser Blog vor allem) ein besinnliches und auch behagliches Weihnachtsfest wünschen. Vielleicht ist dann auch die Neujahrsnacht, in der ich mit meiner Reise durch die Gedanken anderer beginne. Ich bin jedenfalls in den Vorbereitungen. 

Herzlichst

Euer/Ihr Raimund Vollmer

Donnerstag, 1. September 2022

Wer es wagt, der nicht gewinnt - Über unsere Unfähigkeit, mit der Zukunft umzugehen

Der alte Schwabe Hegel wusste es lang vor uns. Wir sind unfähig, über unsere eigene Epoche hinauszudenken. Und wenn man es dennoch versucht, wird man ausgelacht, verhöhnt, verschmäht. Aber dann, wenn eine neue Epoche tatsächlich eintritt, haben es alle schon lange vorher gewusst.

So sind wir, die Deutschen auf jeden Fall, nun einmal gebaut. Wir wissen nachher immer alles besser. Übrigens, unsere Unfähigkeit, über uns selbst hinauszudenken, können Sie täglich in Politsendungen beobachten.

Da war dieser Tage der Herr Plasberg, der so gerne hart und fair ist, mit seiner Politsendung „Die Jahrhundert-Dürre: Erleben wir gerade unsere Zukunft?“ Ich habe sie mir über die Mediathek der ARD angesehen und war – wie wahrscheinlich jeder, der es sah – von der Eloquenz der Klimaaktivistin Carla Reemtsma beeindruckt. Es wurden - vor allem von ihr - permanent Studien genannt, ohne deren Autoren – mir ist es jedenfalls nicht aufgefallen - zu nennen oder sie gar zu zitieren, die alles, was sie zu Klimawandel und dessen Meisterung zu sagen haben, wohl bestätigen. So konnte sie, der man ein intensives, höchst professionelles Medientraining in allem, was sie von sich gab und wie sie sich verhielt, zwar durchaus anmerkte, stets im Muster ihrer selbst bleiben. Sie blieb sich selber treu. Sehr diszipliniert. Da konnten die anderen nur von ihr lernen – inklusive des Herrn Moderators von Wetter, Sven Plöger, oder der harten Fainess, Frank Plasberg. 

Nur – die Frage, ob das Wetter von heute das Klima von morgen ist, und wir somit unsere dürre Zukunft jetzt bereits haben, wurde eigentlich nicht beantwortet. Denn noch ist es ja nicht zu spät oder allzu spät. Nehmen wir einmal an: Wir schaffen die Klimaziele in absehbarer Zeit, wie sieht dann diese Welt aus? So wie heute? Kaum. So wie gestern? Dann hätte Putin gewonnen, dessen Kriegspolitik und imperialistisches Denken keiner ernsthaft nachvollziehen kann.

Vielleicht irre ich mich ja, aber in den bundesdeutschen Medien habe ich bislang nichts wahrgenommen, geschweige denn von einer Studie erfahren, die sich mit einer Welt beschäftigt jenseits eines gemeisterten Klimawandels? Der frühere Bundespräsident Walter Scheel hat 1979 sinngemäß gesagt, dass wir nur noch in der Gegenwart leben. So ist es. Zehn Jahre später wurden wir durch den Fall der Mauer vollkommen überrascht. Unser Realitätssinn, dessen Fehlen wir unseren Diskussionsgegnern so gerne vorwerfen, ist das Totschlagargument gegen alle dynamisch formulierte Zukunft. So haben wir in den vergangenen 30 Jahren eine Zukunft nach der anderen verpasst.

Nehmen wir die Globalisierung – diesem Thema, bei dem unsere Manager ihre ganze Dynamik unter Beweis stellen konnten und wir heute sehen, dass dahinter nur eine einzige Effizienzgier stand. Jetzt stehen sie vor ihren zerstörten Lieferketten und bekommen Humpty-Dumpty nicht mehr zusammen. Sie hatten – wie das unsere Bundeskanzlerin so schön formulierte – „alternativlos“ gehandelt. Der Spruch „Wandel durch Handel“ erweist sich jetzt als ein Freibrief dafür, selbst mit den schlimmsten Diktaturen ins Geschäft kommen zu können.

In Wirklichkeit hat das Thema Globalisierung, das von uns Journalisten in alle Richtungen zelebriert wurde, niemals eine neue Epoche eingeleitet, sondern die, die vor 250 Jahren mit der Bibel des Kapitalismus, mit dem Buch „Wealth of Nations“ von Adam Smith angestoßen wurde, prolongiert.

Eigentlich möchte man diese Epoche, die so deutlich zeigt, dass sie sich im Endstadium befindet, irgendwie in die Verlängerung schicken – eben auch durch die gewaltige Konzentration auf die Meisterung des Klimawandels. Wir klammern uns geradezu daran.

Dabei müssen wir dringend anfangen über ein Thema zu reden, das ebenso wichtig, vielleicht sogar noch wichtiger ist, über Arbeit – und deren Wert in einer Zeit jenseits des Klimawandels. Das ist nämlich die eigentliche Zukunft jener jungen Menschen, zu der ich hier Frau Reemtsma rechne, vor allem aber meine eigenen Kinder und Enkel.

Aber das ist ein Thema, über das das Management nicht gerne redet, die Politik ebenso gerne schweigt, auch die Gewerkschaften hinwegsehen wollen und wir, die stets von Arbeit lebten und nichtvon Verfügungsgewalt, keine Idee haben.

Wir können halt doch nicht über unsere eigene Epoche hinausdenken – und wer es wagt, der nicht gewinnt.

Raimund Vollmer

Sonntag, 5. Juni 2022

Die Zukunft war schon längst da...

Wahrscheinlich klingt das, was ich jetzt schreibe, wie Angeberei. Aber das nehme ich in Kauf. Denn mir geht es darum, an einem persönlich erlebten Beispiel aufzuzeigen, warum wir Deutschen seit der Gründung von SAP vor 50 Jahren so wenig zu sagen haben in der digitalen Welt.

Vor 23 Jahren wurde ich von der Nürnberger DATEV beauftragt, ein Konzept für einen Internet-Auftritt zu entwickeln. Ich fühlte mich sehr geehrt und angespornt, dieser von mir hochgeschätzten Genossenschaft für den steuer- und rechtsberatenden Beruf etwas Gutes zu präsentieren. In Zusammenarbeit mit dem PR-Chef Peter Willig entwickelten wir die Idee der DATEV-Stadt, die – auf der Basis von 56-K-Modems (!!!) – genau das liefern sollte, was nun der Vorstandsvorsitzende Dr. Robert Mayr in der aktuellen Ausgabe des DATEV-Magazin (03/2022) nicht nur als realisiert, sondern als Zukunftsmusik bezeichnete. Auf der Basis eines im Vergleich zu damals blitzschnellen Internets.

Unsere DATEV-Stadt, ein Metaverse der selben Ideen, die nun Mayr vorstellte, wurde zwar realisiert, aber dann eingestampft – es fehlte dem Management schlichtweg an Phantasie. Es war nicht die Technologie, die uns behinderte, es war das Management.

Und wenn man nun den Ausführungen des aktuellen Vorstandsvorsitzenden Dr. Robert Mayr folgt (ein guter „Doktor“ benutzt – wie er – nicht inflationär seinen Doktor-Titel), dann fehlt es dem Management immer noch an Phantasie. Man kauft sie in den USA ein - dann, wenn sie längst von amerikanischen Unternehmern besetzt sind. 

Vielleicht sollte ich Doktor Mayr das Konzept von damals mal zusenden. Übrigens: die Idee des DATEV-Magazins haben Peter Willig und ich auch damals entwickelt – in der Vorstellung, die Zukunftsströme zu präsentieren. Es wurde ein sehr biederes Blatt.

Damit das klar ist: Ich will hier nicht klagen, sondern nur ein Beispiel dafür liefern, wie unser Management die Zukunft verpennt und dann ihr hilfeschreiend hinterherrennt. Die Ideen sind längst alle da. Was fehlt, ist der Mut. 

Raimund Vollmer

 

Freitag, 6. Mai 2022

JETZT REICHT'S

 Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer

ERSTER AKT

1990: „Wir gehen jetzt einer Zeit entgegen, in der der Frieden gefährlicher wird als der Krieg.“
Friedrich Dürrenmatt (1921-1991), Schweizer Schriftsteller und Dramatiker
 
 
Ich bin nur ein ganz kleiner Staatsbürger, längst verschwunden im Rentnerdasein, im Nichts des Nichtstun und des Nichtsnutz. So bin ich natürlich voll darauf angewiesen zu hören und zu denken, was die, die denken, dass sie klug und weise denken, so denken. Und deshalb studiere ich demütig Emmas Brief an unseren Bundeskanzler, der vor allem ihr Bundeskanzler wird, wenn er denn so denkt wie sie und nicht wie die anderen, die Frieden schaffen mit schweren Waffen. So jedenfalls lautet die Absicht. Ihnen reicht's.
Doch Emmas Freunde halten dagegen: Zwei Grenzlinien seien JETZT erreicht, schreiben die 28 Unterzeichner des Briefes, der mit größter Inbrunst verfasst wurde – voller edlen, vornehmen Gemüts, dass es einem, der sich bis zum 29. April 2022 traute, es anders zu sehen, ganz mulmig wird.
Da sei „erstens das kategorische Verbot, ein manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen.“ Das klingt sehr intellektuell, das ist es wohl auch. Sehr vernünftig und getragen. Auch das Zweitens, das „Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung“, dem ein Ende gesetzt werden müsse, markiert eindeutig eine Grenzlinie, die uns einzäunen soll. Was will man dagegen sagen!
Ja, es reicht. Es ist schon viel zu viel Leid geschehen. Auf beiden Seiten, hallt es aus dem Emma-Tal: „Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis“. Das ist schön gesagt, all der Schriftsteller und Feindenker würdig, die ihn unterschrieben haben. Edelmütig warnend. Irgendwann – so lese ich in meiner Schlichtheit heraus – wird sich ansonsten die Ukraine so sehr gewehrt haben, dass sie in die Rolle des Aggressors zu fallen droht. Dann gilt fortan: Böser Selenskyj, armer Putin!
Aber wahrscheinlich habe ich das alles falsch verstanden. Ich sollte das Denken den 28 Aufrechten überlassen! Sie denken klüger.
Wir leben unter dem Diktat einer Bombe, deren paradoxe Funktion darin besteht, dass sie nicht gezündet wird. In dem Augenblick, in dem dieses Tabu gebrochen wird, ist alles vorbei. Wer immer den Finger am Trigger hat, zerstört sich unweigerlich selbst.
So dachte ich bisher.
Als ich noch lange kein Rentner war und der Kalte Krieg die Welt für immer und ewig in das Reich des Bösen und in das des Ronald Reagan teilte, da wagte ich mich an eine These heran, die so böse klang, dass sie fast schon wieder gut war: „Die einzige Chance, die Atombombe abzuschaffen, besteht darin, sie zu zünden.“ So formulierte und fabulierte ich vor mich hin. Natürlich nur in der Duschzelle. Vierzig Jahre ist das her – und ich war felsenfest davon überzeugt, dass niemand die Atombombe abschaffen würde. Zum Glück. Für uns alle. Emma hatte Recht.
Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.
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ZWEITER AKT
1990: „Mitunter habe ich den Eindruck, die Welt spielt ein noch verrückteres Theater.“
Friedrich Dürrenmatt (1921-1990), Schweizer Schriftsteller und Dramatiker, über seine eigenen Stücke
 
Vor 60 Jahren, am 21. Februar 1962, wurde in Zürich das Stück „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt uraufgeführt. Prominent besetzt. Es spielt in einer Irrenanstalt, in der nur eine Person wirklich verrückt ist: die behandelnde Ärztin (Therese Giehse). Zwei der drei Insassen, der eine nennt sich Einstein (gespielt von Theo Lingen), der andere Isaac Newton (Gustav Knuth), tun nur so, als seien sie diese Physiker, deren Namen sie tragen. Sie sind in Wirklichkeit Geheimagenten und wollen an das Geheimnis des dritten Physikers namens Möbius (Hans-Christian Blech) heran: er allein besitzt – ebenfalls bei vollem Verstand – die Formel, nach der sich die ganze Welt vernichten lässt. Die drei Physiker sind sich am Ende einig, dass nicht die Welt vernichtet werden sollte, sondern das Wissen darum – doch die Ärztin hat die Formel längst kopiert…
Das Stück spielt in einem einzigen Raum – so, als sei es die Ukraine. Und wenn man nun meint, dass alle, die in diesem Raum sind, hier bleiben wollen, dann dehnt er sich zu einer Welt unter dem Schutz der Atombombe, die zwar der komplette Irrsinn ist, aber unter der wir es uns fast schon gemütlich gemacht haben.
Gemordet wird sowieso.
Bei Dürrenmatt sind es Einstein und Newton, in der Ukraine Putin und Selenskyj, der eine Geheimagent, der andere Schauspieler. Verrückter geht’s kaum. In seiner Ausbildung zu dem, was er war, ein KGB-Offizier, wurde Putin einem strengsten psychologischen Training unterzogen. Ja, er lernte, wie man inmitten eines Irrenhauses seinen Verstand behält.
Würde er mit den Mächtigsten der Welt in einem Raum eingesperrt sein, dann - so ein Szenario - würde sich Putin absolut still verhalten, um jeden der Anwesenden genau zu studieren. Andererseits könne er auch, um sich vor den Gedanken der anderen zu schützen, stundenlang damit beschäftigen, seine Schuhe zu putzen, um sich auf keinen Fall von irgendjemandem beeinflussen zu lassen.
Zweiundzwanzig Jahre später wissen wir, dass er beides getan hat: Er hat alle um sich genau studiert und zugleich stur seine Schuhe geputzt.
Er hat erkannt, was die Welt ist: ein Irrenhaus. Es ist ein Tollhaus, das unter dem Schutz der Atombombe steht. Ungestraft können wir hier unsere Verrücktheiten, unsere Kriege und Terrorakte begehen. Die Bombe alle, schützt auch ihn. Denn es steht in seiner Macht, die Bombe NICHT zu nutzen, also das Gegenteil von dem zu tun, was Emmas Freunde befürchten.
Ist das nicht der pure Wahnsinn? Die Bombe ist der Schutz, unter dem er seine ganzen Greueltaten entfachen kann. Vor diesem Hintergrund wirkt der Emma-Appell wie ein Freibrief. Verhandeln ist für Putin wie Schuhe putzen.
„Nur im Irrenhaus sind wir noch frei“, behauptet Möbius. Er ist jener Physiker, der die Weltformel zur totalen Zerstörung der Erde gefunden hat. Aber er hat sie vorsorglich vernichtet. Er sagt: „Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff.“
Der Emma-Brief ist diese Art von Sprengstoff nicht, keine Befreiung. Im Gegenteil: seine Absicht ist es, das Irrenhaus zu schützen. Geht das gut? „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat, wird Dürrenmatt im Nachrichtenmagazin ‚Der Spiegel‘ zitiert. Das war am 28. Februar 1962.
Sechzig Jahre treibt die Geschichte genau auf diese Wendung zu. Und sie wird uns überraschen. Dürrenmatt hat es vorausgesehen: „Tritt die atomare Selbstvernichtung nicht ein, gerät die Menschheit in eine noch nie geahnte geopolitische Zwangslage, Eingriffe in die Wirtschaft und in die Persönlichkeitsrechte werden notwendig, politische Umwälzung.“ Das wäre die schlimmstmögliche Wendung.
Es wäre der Verlust unserer Würde, es wäre der Verlust von allem, was wir in den letzten 250 Jahren mühsam errungen haben.
Solche Appelle wie dieser Emma-Brief sind nichts anderes als der Aufruf dazu, den Schlüssel wegzuwerfen, der uns aus dem Irrenhaus befreien könnte. Dann - allerdings - haben wir tatsächlich den Verstand verloren.
Wir müssen handeln, nicht verhandeln. So hart das ist. Wir haben schon zu lange gewartet. Übrigens ein Argument, das auch Putin für sich reklamiert.

Dienstag, 22. Februar 2022

Am Beispiel China: Moralismus statt Journalismus

Von Raimund Vollmer

 

ARTE: Cybermacht China

Sie schauen immer wieder voller Besorgnis auf ihren Bildschirm, sie sind ja so kritisch - auch bei ihrer Pressereise mit Huawei. Sie sind unbestechlich, so investigativ, dass man als Zuschauer versucht ist, sich selbst des Fremdschämens zu schämen. Ja, stimmen wir zu, den chinesischen Netzausrüster Huawei muss man kritisch sehen, sehr kritisch. Das hatte ja schon unser aller Lieblingspräsident Barak Obama gemacht - in aller Öffentlichkeit hat er Chinas Rolle an den Cybermärkten angemahnt, vor allem bei der Spionage, zu der - so der Vorwurf - Huawei von der Partei "gebeten" wird. Aber richtig ernst machte 2019 erst der von uns besonders gehasste Donald Trump. Und weil er so verpönt ist, wurden zwar im Film immer wieder Sequenzen mit unserem Obama gezeigt, aber keine einzige mit dem von uns weitaus weniger geschätztem Trump. Da wurde sogar stillschweigend so getan, als sei das Trumpsche Justizministerium nichts anderes als eine Obama-Fortsetzung. Das hat mich aber nun wirklich geärgert.In diesen von hochmoralischen Qualitäten gekennzeichneten Zeiten möchte ich vorbeugend erklären, dass mir Trump immer suspekt war, ich hatte sogar ihm in meinem Archiv einen Extraordner gewidmet - zu Zeiten, als nicht einmal er wusste, dass er Präsident werden wollte, so dass ich darum bitten möchte, mich hier nicht als Trump-Fan zu identifizieren. Aber ich wäre als Journalist niemals auf den Gedanken gekommen, Trump in diesem Beitrag einfach zu ignorieren. Kann ja sein, dass ich mich irre. Ich habe deshalb den Film mir bis zur Hälfte noch einmal angeschaut. Nein, da war wirklich nix von Trump, obwohl meine Aufmerksamkeit beim zweiten Mal Gucken nachließ. Danach hatte ich keine Lust mehr, diesen Film weiterzuschauen. Es ist ein verdammt gutes Thema, das die beiden Journalisten da verarbeiten, aber der Wunsch, den Zuschauern zu zeigen, wie toll, ernst und unerschrocken sie selbst sind, ging mir beim zweiten Anschauen so auf den Keks, dass ich mich verabschiedet habe. Vielleicht hat ja jemand Lust, meine Vorurteile zu überprüfen. Hier ist der Link:

https://www.arte.tv/de/videos/092189-000-A/chinas-neue-cybermacht/