1999: „Im Zeitalter der Trance bewegen sich die Menschen mit den Dingen ausgeglichen. Halb Chip, halb Tiefe, bleibt ihnen kein Zwischenraum zu reflektieren. Die Dinge sind ihnen eingegeben wie im ersten Zeitalter der Trance die Götter.“
Botho Strauß (*1944), deutscher Schriftsteller
Von Raimund Vollmer
(Habe ich wahrscheinlich während der Corona-Isolation geschrieben)
„Jede durch Können, Ehrgeiz und Willensstärke erlangte Macht kann letztendlich übertroffen werden von der Macht des Kapitals“, hatte 1992 die amerikanische Journalistin Barbara Ehrenreich in ihrem Buch »Angst vor dem Absturz« formuliert. Lange bevor wir in Europa uns dieses Themas annahmen, hat sie am Beispiel der USA den Untergang der Mittelschicht exemplifiziert. Damals fühlte sie sich durch die Globalisierung bedroht, nun kommt noch die Digitalisierung hinzu. Fast möchte man sagen: die Mittelschicht wird ersetzt durch das „Mittelding“. Dieses Mittelding aber braucht die Mittelschicht, braucht uns nicht mehr – allenfalls noch als Lieferant von Daten, die über alle Grundverordnungen hinweg ihre eigene Realität bilden.
Mit der Mittelschicht verschwindet auch die Gesellschaft. „No Society“ nannte der Franzose und Kritiker Christophe Guilluy sein Buch, in dem er von „einer gigantischen Umwälzung“ spricht, ähnlich Weizenbaums phantastischer Transformation. „Unser Wirtschaftsmodell funktioniert“, sagte er im Gespräch mit der 'FAZ'. Ganz automatisch, möchte man hinzufügen „Wir werden immer reicher.“ Ganz automatisch. „Aber wir schaffen es immer weniger, die Gesellschaft zusammenzuhalten.“Wir sind ganz einfach zu viele, und wir wollen zu viel, während in uns das Gefühl wächst, immer weniger zu bekommen.
Was aber bringt uns wieder zusammen?
Maschinen, Marktwirtschaft, Menschenrechte – das waren die drei Kräfte, die sich in den vergangenen 250 Jahren immer wieder zusammenrauften und unsere Gesellschaft zumindest nach dem 2. Weltkrieg zusammenzuhalten schienen. Es sind die drei Themen, um die wir seit mehr als einem Vierteljahrtausend kreisen, von denen wir auch in den nächsten Jahrhunderten nicht loskommen werden. Mit diesen drei Themen identifizierte sich vor allem die Mittelschicht. Sie definierte sich durch den technischen Fortschritt, durch den Glauben an die Wirtschaftskraft und durch ihre Selbstbestimmungsechte. Heute stellt sich indes die Frage: Bilden Maschinen, Marktwirtschaft und Menschenrechte noch einen Dreiklang, eine Harmonie, eine „Balance of Power“, oder befinden sie sich inmitten eines dramatisch eskalierenden Wettkampfs um den Oberbefehl? Damit einher geht die bange, die entscheidende, die ewige Frage: Wofür steht der Staat mit all seiner Autorität? Wofür steht unsere Kultur mit all ihren Einrichtungen? Wofür steht unsere Religion mit all ihren Erscheinungsformen? Was passiert mit diesen Institutionen im Verhältnis zueinander und zu uns?
Ganz tief unten stellt sich zudem die bange Frage: Hat es überhaupt je eine heile Welt gegeben, in der sich die drei Urkräfte der Moderne zu einer Einheit vereinten? Sind wir nicht die ganze Zeit einer Illusion aufgesessen?
6 Kommentare:
Wofür steht .......?
Die Dinge stehen zunächst immer nur für sich.
Die Kultur, die Kirchen rufen nur nach dem Staat, wenn sie Geld brauchen, ihre Lage bedroht ist.
Und der Staat? L'etat et moi!
Geld regiert die Welt!
Das Orchester versetzt die Damen in Trance, aber schreiben tun's dann dem Tenor.
Indignez-vous!
Empören wir uns!
Jede Ära hat ihre Untiefen, und man erkennt sie umso klarer, je weiter man sich von ihnen entfernt. Die Bedeutung des Augenblicks in einer Vergangenheit lässt sich oft erst in der nächsten Epoche erfassen.
Die Unvereinbarkeit der Religion mit den Menschenrechten liegt so wenig im Begriff der Menschenrechte, daß das Recht, religiös zu sein, auf beliebige Weise religiös zu sein, den Kultus seiner besonderen Religion auszuüben, vielmehr ausdrücklich unter die Menschenrechte gezählt wird. Das Privilegium des Glaubens ist ein allgemeines Menschenrecht.
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