Dienstag, 20. Oktober 1987

Der Crash von 1987 (Teil 2)



1986: »Durch den Einsatz von Computern können sich Störungen auf einem Markt wie eine Springflut binnen Stunden über den ganzen Erdball ausbreiten.«
Karl Miesel, Vorstandssprecher der Schweizerischen Kredit-Anstalt Deutschland AG

Der Ausverkauf der Gegenwart

New York. Donnerstag, 9. Januar 1987. Das neue Bör­sen­jahr begann mit einem Paukenschlag. Der Dow Jones hatte erst­mals in seiner Geschichte die 2000er Marke überschritten. Mit dem Schluß­stand von 2005.91 hatte er die nächste große Hürde ge­nommen. Der Jubel war groß. »Von der Empore regnete es Konfetti und vor dem Börsengebäude wurden dicke Zigarren geraucht«, schrieb die FAZ.[1]
Sy­ste­matisch hatte die Börse 1986 daraufhin ge­arbeitet. Sie hatte sogar verkraftet, dass IBMs Börsen­ka­pi­ta­li­sie­rung im Jahr zuvor um 24 Pro­zent oder 22,5 Milliarden Dollar gefallen war ‑ der größte Ver­lie­rer des Jahres. Da­bei hatte Big Blues am 3. Juni 1986 zur Stabilisierung ih­res Kurses zehn Millionen ihrer eigenen Aktien gekauft. Doch ihre Aktie war seitdem von 151,325 Dollar auf 122 Dol­lar gefallen. Voller Pessimismus waren die Analysten, ob­wohl Big Blue verkündet hatte, 10.000 Mitarbeiter in den vorzei­­tigen Ru­he­stand zu entlassen, die Kapitalausgaben um 1,5 Milliar­den zu senken und weitere 15 Millionen eigene Aktien zu kaufen.[2] Doch nach dem Erreichen des 2000ers nahm die Börse Big Blue wieder in ihre Arme und trieb den Kurs in den fol­gen­den Monaten zu un­ge­ahn­­­ten Höhen. Vergessen war, dass IBM mit dem Ausverkauf ihrer Miet­basis in der ersten Hälfte der achtziger Jahre mächtig an Substanz verloren hatte. Noch einmal wurde die Alte IBM gefeiert, der Ak­tien­­kurs bis August 1987 auf mehr als 170 Dollar hochgetrieben. Dann allerdings sollte der Crash kommen, der diese Firma in die größte Krise des Computerzeitalters stürzte.
Nein, die Zukunft schlägt sich ihre Bahn nicht gradlinig durch die Geschichte ‑ auch wenn die historischen Zahlenvergleiche, in denen sich Preis und Leistung der Rech­ner in atemberaubender Weise wi­der­spiegeln, eine Gesetzmäßigkeit suggerie­ren möchten. Ge­wal­tige Frik­tionen, Crashs, begleiten die Computer­bran­che auf ihrem Weg. Diese sind sogar ent­scheidend.
IBMs Desaster begann mit dem Sturz der Computergötter bei ihren Kunden. Die DV‑Profis waren die er­sten, die es in den achtziger Jahren erwischte. Sie hatten es sich wunderbar bequem in der IBM‑Welt eingerichtet. Gerade noch waren sie eine elitäre Zunft für sich ge­we­sen. Eine Techno­lo­gie‑Gene­ra­tion nach der anderen hatten sie ge­meinsam mit Big Blue grandios ge­­mei­stert. Relais, Röh­ren, Tran­si­storen und Integrierte Schalt­kreise. Mit jedem Wech­sel wuchs die Macht der Computer und der IBM als Ord­nungs­fak­tor. Pro­gram­­­mierer waren so begehrt, dass ihnen zu Beginn der achtziger Jah­re die Anwenderfirmen eine Drei‑Tage‑Woche bei vollem Lohn­aus­gleich anboten, Einstel­lungs­gespräche nicht sel­ten auf den Bermudas statt­fanden und Head­hunter die Edelpro­fis von einem Job zum näch­sten wei­­terver­mit­tel­ten. Der Personal­markt für die Informatikgilde boom­te. Jeder Wunsch wurde den Hohe­priestern des High‑Techs von den Lip­pen ab­gelesen. Und die Krönung war ein Job bei IBM.
Was war der Grund? Zwar ein Kind unbändiger Dynamik und Inno­va­tions­freude, war der Computer letztlich das Instrument einer sta­tisch konditionierten Wirtschaft, die sich selbst nach der Ölkrise nicht grundlegend ändern woll­te. Die Datenverarbeitung sollte vor allem die bestehen­den Organisationen schützen & stützen. Nur die Mächtigen konnten sich bis dahin diese teuren Rechner und die noch auf­wen­di­gere Soft­ware leisten. Mit dieser Strategie hatten sie bis­lang al­le Krisen sauber überstanden ‑ und das hatte das Ver­trau­en in die institutionelle Macht der Computer und der IBM ins Uner­meß­liche stei­gern las­sen. Backlogs von drei Jahren waren in der An­wen­dungsent­wicklung keine Seltenheit. Im Vergleich zu dem, was eine völ­li­ge Re­organisation und Restrukturierung ihrer Betriebe gekostet hätte, war jeder Preis gerechtfertigt. Das galt auch für die überzogenen Gehaltswün­sche der Compu­ter­leu­te. Die Effizienz­steigerungen, die sie er­ziel­ten, waren einfach sen­sationell. Es war die Hochzeit der Ra­tio­na­li­sie­rung. Aber es war auch eine geschlossene Welt. Der Genius des Computers hatte sich noch nicht auf die äußere Welt, die Märkte, übertragen. Das war einer der Gründe gewesen, dass sich in den sieb­ziger Jahren die Börse so schlapp entwickelt hatte.
Mit dem 12. August 1981, der Ankündigung des PCs durch IBM, sollte sich dies alles ändern. Von die­sem Tag an wurde die Geschichte der Datenverarbeitung in zwei Zeit­alter auf­geteilt: davor & danach. Genauso könnte man auch die Wirt­schafts­geschichte dividieren. IBM, die Hochburg des in­sti­tu­tio­nellen & pro­fes­sionellen Computereinsatzes, war von diesem Um­schwung selbst am mei­sten überrascht. Mit dem PC veränderte sich un­­wi­derruflich das Soziogramm der DV‑Leute.
Die schnell wach­sende Zahl der preiswerten Rechner über­stieg die Fä­hig­keit der Pro­­fis, sie zu beherrschen und organi­sa­to­risch einzu­bin­den. Die Effi­zienz­gewinne schmolzen dahin, je mehr dieser Dinger eingesetzt wur­den. Die Be­nut­zer hatten den Computer ent­deckt. Sie waren zum Ent­set­zen der Profis die neuen Helden. Sie kümmerten sich nicht um die be­trieb­liche Effizienz, sondern um ihre ganz persön­li­che Effek­ti­vi­tät. Endlich besaßen sie selbst ein solches Wunderding auf ihrem Schreib­­tisch, mit dem sie ihren persönlichen Wert erhöhen konn­ten. Sie wurden ihre eigenen Experten der neuen Technologie, die sie mitunter bes­ser verstanden als das DV‑Esta­blishment ‑ und als IBM. Die alte, starre Ord­nung, die in ihrer Reichweite alle Un­ter­neh­mensteile zu integrieren suchte, trieb ihrem Ende ent­gegen.
Vie­len Firmen, so meinte Randy J. Gold­field, Präsident der New Yorker Be­ra­tungsfirma Omni Group Ltd., bliebe nichts anderes übrig als »neue Organisationen zu er­richten, die das neue Gerät unter­stüt­zen«.[3]
Aber eine neue Organisation war nun wirklich das Al­ler­letzte, was die Unternehmen wollten. Auch IBM nicht. Ihre PC‑Truppe, die sich anfangs völlig losgelöst von Armonk im Markt aus­gebreitet hatte, war längst zurückgepfiffen worden. Nun bestimmten die alten Mo­nopol‑Strategen, wie ein PC zu vermarkten sei.
Je mehr die PC‑Anwender die innere Ord­nung der Unternehmen be­setz­ten, desto stärker flüchteten die Computerprofis in scheinbar so eso­te­rische The­men wie Künstliche In­telli­genz, Expertensysteme, Netz­­topologien und Da­ten­mo­del­lierung. Immer raffinierter wurden die Programme, die sie aus­tüf­telten. Jeder suchte nach Theorien und Me­chanismen, mit der nicht nur Unternehmen, sondern die ganze Welt be­herrschbar wurden. Doch mit jedem Erkenntnisschritt verließen sie die Mauern ihrer alten Welt und begannen mit dem Aufbau einer neuen Infrastruktur. In ihr sollten sich al­le ‑ wie von einer un­sicht­ba­ren Hand gelenkt ‑ wieder­ver­einigt sehen.
Was die Computerprofis betrieben, war die Glo­ba­lisierung der Daten­verarbeitung, die Vernetzung der Welt. Aber sie begingen dabei ei­nen fatalen Fehler. Sie versuchten, diese Netze gleichförmig zu ge­stalten. Gesetzmäßigkeit war ihr professioneller Anspruch ‑ nicht dass er schei­terte, sollte ihre Glaubwürdigkeit erschüttern, sondern dass er ihnen zu gut ge­lang. Dafür ist der Börsenkrach von Oktober 1987  Bei­spiel & Beweis. Doch wohl jedes Unternehmen hat seitdem einen Mi­ni­crash erlebt.
Die Globalisierung war nicht das Verdienst der Benutzer. Diese setz­­ten auf Individualisierung. Nein, dahinter stand der Gegen­schlag der Computerprofis, die hier ein neues Terrain für Effi­zienz­gewinne gefunden hatten. Nun entfaltete sich eine Dia­lek­tik, die eine unglaubliche Wirkung auf die gesamte Wirt­schafts­welt haben soll­te: die Eskalation von Globalisierung & In­di­vi­dua­li­sierung. Sie ist die Ursache für den Crash ‑ auch der Alten IBM.
Je größer die Reichweite der Sy­ste­me wurde, desto kürzer wurden die Zeitzyklen, in denen Menschen agieren mußten. Nirgendwo war dies so zu spüren wie an den Kapital­märkten. Und dieser Wett­lauf mußte irgendwann einmal kol­la­bieren. Genau das geschah mit dem Crash vom 19. Oktober 1987. An diesem Tag erlebten die Com­pu­ter­profis und die Börsenprofis, die Broker, ein beispiel­lo­ses De­sa­ster: die Gleichschaltung von Glo­ba­li­sierung & In­divi­dua­li­­sie­rung. Das institutionelle Denken in immer größeren geogra­phi­schen Räumen kollidierte in einem globalen Kurz­schluß mit dem in­di­vi­du­el­len Agieren in immer kleineren Zeit­räumen. Anders formu­liert: die Profis in beiden Lagern zerstörten sich selbst. Was war geschehen?
Zwischen 1982 und 1987 war in den USA die Zahl der re­gi­strierten Broker von 240.000 auf 402.000 gestiegen, in New York al­lein stieg die Zahl der Beschäftigten von 150.000 auf mehr als eine viertel Million. Nie zu­vor konkurrierten landesweit soviele Händ­ler um das Geld der Anleger. Die Wer­be­bud­gets waren im selben Zeitraum um 120 Prozent auf 720 Millionen Dollar gestiegen, während gleich­zeitig der Wett­kampf um die Kondi­tionen immer hef­ti­ger wurde. [4] Die Folge: durch massiven Com­pu­ter­ein­satz wollten die Investment­häu­ser die Erosion ihrer Gewinne kompensieren. Eine Bran­che stand unter Dampf.
Der Höhenflug der Börse schien dabei jede Kapitalinvestition ebenso zu rechtfertigen wie die massive Aufblähung mit Personal. Der Dow Jones‑Index eilte von einer Rekordhöhe zur nächsten. Zwischen August 1982 und August 1987 legte er 1900 Punkte zu. Selbst wenn man nicht den absoluten An­stieg rech­nete, sondern nur relativ Maß nahm, dann war der Zuwachs des Indexes mit 246 Prozent immer noch beachtlich. Nur dreimal zu­vor in der Ge­schichte der New Yorker Börse hatte es ei­nen stärkeren Auf­wärts­trieb gegeben:
In den acht Jahren vor dem Crash von 1929 hatte der Dow Jones ein Anstieg um 496 Prozent gefeiert.
Zwischen 1933 und 1937 befreite sich Amerikas Wirtschaft von der großen Depression mit einem Steigflug des Indexes um 355 Prozent.
Zwischen 1949 und 1961 triumphierte der Dow Jones mit einer Zunahme um 288 Prozent über die Nachkriegswelt, die vol­ler Achtung auf das Wunderland USA schaute.
Waren diese historischen Höhenflüge jeweils ein Ausdruck gewesen für die in Schüben stattfindende Reindustrialisierung Amerikas, so stand die fünf Jahre dauernde Hausse unter einem völlig neu­en Zei­chen: die Deindustralisierung der USA hatte begonnen. Das zeigte sich im Konsumverhalten der Bevölkerung. Der Verbrauch war die trei­­bende Kraft, der jährlich um drei Prozent stieg. Dabei gewan­nen die Ausgaben für Dienstleistungen ein leichtes Übergewicht. 
Dieser Aufschwung war kredit ‑ und konsumfinanziert. Es herrschte eine Stimmung, die getragen war von der Erkenntnis, dass man an den Verhältnissen nur etwas verändern konnte, wenn man die ihnen zugrundeliegenden Werte ver­scher­belte. Im Prinzip spielten alle IBM, die in der ersten Hälfte der achtziger Jahre ihre Mietbasis verkauft hatte. 1984 erreichte die Ge­samt­verschuldung der Vereinigten Staa­ten, Haushalte, Firmen und Behörden, das Rekordvolumen von 7,1 Bil­lionen Dollar. Das war ein Anstieg um 14 Pro­zent. Zu meistern war dieser Schuldenberg, der das Bruttosozialprodukt um den Fak­tor 1,95 übertraf, nur da­durch, dass alle Vermögenswerte in immer schnellerer Abfolge hin und her transferiert wur­den. Ständig wurden neue Finanztricks aus­ge­dacht. »Wir sind Ex­perten im Handel mit al­len Finanzwerten und Fir­men­werten geworden, aber derweil fallen wir bei der Produk­ti­vi­tät zu­­rück«, klagte 1985 der damalige Präsident der Federal Reserve Bank, Paul A. Volcker. Der Chefvolkswirt der First Boston Corp., Albert M. Wojnilower, warnte: »Man kann einwenden, was man will, und erklären, dass dies ange­sto­ßen wird durch die Freiheit der Märkte, aber Tatsache ist und bleibt, dass wir nicht diese hohen Transaktionsvolumina benötigen, um damit unser Volkseinkommen zu steuern.«[5] Darum ging es auch gar nicht. Das Spekulationsfieber hatte Amerika erfaßt ‑ vor allem aber die Börsenpro­fis. Sie ermunterten, ja sie zwangen Konzernchefs, ihr Geld in wag­hal­si­ge Transak­tionen & Takeover hin­einzuwerfen, anstatt es langfristig in ihren Be­trieben anzu­le­gen. Die Wirtschaft kon­su­mierte Unternehmen, die Bevölkerung ihre Sparguthaben. 


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[1] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.1.1987: »Im Börsen­saal Jubel wie beim Football«
[2] Wall Street Journal, 13.1.1987, Dennis Kneale; »Some Analysts feat IBM's Blues only began with last year's setback«
[3] Business Week, 8.8.83: »Computer shock hits the of­fi­ce«
[4] Busi­ness Week, 23.11.87, Mark N. Vamos, David Zigas, Leslie Helm, Jeffrey M. Laderman, James E. El­lis: »Wall Street's cre­di­bi­lity gab«
[5] Business Week, 16.9.85, Anthony Bianco: »Playing with fire«

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