Montag, 19. Oktober 1987

Der Crash von 1987 (Teil 1)

1934: »Gentlemen, machen Sie keinen Fehler! Die Börse ist eine perfekte Institution.«

Richard Whitney, Präsident des New York Stock Exchange, gegenüber dem amerikanischen Senat, der die Börsenaufsicht Securities Exchange Commission einführen wollte. 1938 wurde Whitney wegen des Diebstahls von Wertpapieren seiner Kunden eingekerkert.

Das Vorspiel


Düstere Vorahnungen: Titelseite des
Wirtschaftsmagazins The Economist aus 1982

Von Raimund Vollmer

New York. Donnerstag, 12. August 1982. Der Dow Jo­nes hatte mit 776,62 Punkten den Rekordtiefstand des Jahrzehnts er­reicht. Sollte die Börse wieder in die Langeweile der siebziger Jahre zu­rück­fallen? Es sah so aus. Nachdem der Index am 18. Januar 1966 für we­nige Augenblicke die 1000er Marke genommen hatte, mußten die Börsianer sieben Jahre warten, bis er sie endlich am 14. No­vem­ber 1972 mit dem Schlußkurs von 1003,16 fixiert hatte. Doch dann war lange Zeit nicht viel geschehen.[1] Es kamen Jahre »des langsamen Wachstums, hoher Zins­ra­ten, der gal­lo­pierenden Inflation und der sinkenden Gewinne«, rä­son­nierte Bu­si­ness Week über diese trübe Zeit.[2] Und auch jetzt roch es nach einer Bais­se. Die 1000er Marke war weit entfernt. Gar einen Abfall auf 750 Punkte kalkulierten viele insti­tu­tionelle In­ve­storen inzwischen ein.
So gratulierten sie sich an die­sem Tag ge­gen­seitig dafür, dass sie sich aus der Börse zurück­ge­­zo­gen hatten und in eine Cash‑Po­si­tion geflüchtet waren. Sie waren dem Rat ihres Börsengurus ge­folgt, vor dem sie innerlich alle­samt stramm standen: Joseph Granville, Her­aus­geber eines allmäch­tigen Börsen­briefs. Alles, was von der Börse zu erwarten sei, wäre »eine Hausse für Ein­falts­pin­sel«. So hatte Big Joe posaunt.[3] Zu den naiven Ama­teuren wollten die Pro­fis nicht gehören.
Doch dann gab es ei­nen Ruck. Der Grund: Henry Kaufman, der noch grö­ßere Bär in der Investmentszene und Chefvolkswirt bei Salo­mon Brothers, hatte am Dienstag, 17. August 1982, um 10.20 Uhr im Wi­der­spruch zu seinen eigenen früheren Ansich­ten erklärt, dass sich die Zinsen in den nächsten zwölf Monaten im freien Fall be­fän­den.[4] Auf einmal sahen die institutionellen Anleger ziemlich alt aus. Kaufman hatte sie auf dem falschen Fuß erwischt. Sie stürzten sich nun wie verrückt auf den Aktienmarkt. Das durch­schnittliche Tagesvolumen an der New Yorker Börse hatte 1980 noch bei 49 Millionen Aktien gelegen. An diesem 17. August 1982 regi­strierten die Börsia­ner, dass nahezu 93 Millionen Aktien ge­­han­delt wur­den. Innerhalb einer Woche legte der Index fast 100 Punkte zu. »Wilde Zeiten an der Wall Street«, schrieb die Londoner Financial Times.[5]
Es gab kein Halten mehr. »Eine maximale Position bei Aktien« ein­zu­nehmen, empfahl nun David B. Bostian, ein anderer Fi­nanzguru. Jetzt gäbe es nur noch den schönsten Kurs aller Kurse: nordwärts, nach oben.[6]
Da­von profitierten vor allem die amerikanischen Broker‑Häuser. In den folgen­den vier Monaten stiegen ihre Aktien um 200 Pro­zent. Von jetzt an war alles auf Expansion einge­stellt.[7] Und die IBM‑Aktie, die 1979 nach 30 Jahren der Abstinenz wieder Teil des Dow Jones geworden war, sollte bei den Industriewerten die treibende Kraft werden.[8] Dafür gab es einen trif­tigen Grund: bei der Durchdringung der Volkswirtschaften mit im­mer mehr Computerpower zu dramatisch sinkenden Preisen spielte sie als größter DV‑Hersteller der Welt die mit Abstand wichtigste Rolle. 
Vor allem aber war es ein Signal für Tausende von Absolventen der Elite‑Hochschu­len. Die Wall Street lockte in Erwartung des Booms die Yup­­pies an. Sie hatten nicht nur die Börse als Ar­beits­platz der Zukunft entdeckt, sondern auch ein neues Instru­ment: den IBM PC. Rund 200.000 mal war er bis August 1982 al­lein in den USA verkauft worden. Dabei war die Auslieferung erst im Oktober 1981 gestartet worden. Einer der Haupt­ab­nehmer war Wall Street. Und nun sollte dieser Tausend­sassa endlich seine be­le­bende Wirkung für die gesamte Wirtschaft & Fi­nanz­welt zeigen. Der Dow Jo­nes, dieses grandiose Stimmungs­barometer, das im Mai 1996 hundert Jahre alt wurde, setzte zu einem einzig­ar­tigen Sturm­lauf an.
Das Er­geb­nis: In den nächsten 15 Jahren, also bis 1997, legte er 5000 Punkte zu ‑ und die Zahl der PC Anwender stieg auf weit über 200 Millionen. Und wieder 15 Jahre weiter, im Oktober 2012, stand er bei über 13.000, die Zahl der PCs werde - so prophezeite noch 2008 die Marktforschung Gartner - 2014 die Zwei-Milliarden-Grenze überschreiten. Ob es so kommen wird angesichts der Flut alternativer Produkte, wissen wir nicht. Tablett-Computer und andere Mobilgeräte verändern momentan das gesamte Marktbild.  
In meiner Story von 1997 stand folgende Projektion auf das 2011/12:
"In 15 Jahren könnten es durchaus zwei Milliarden Nutzer sein. Und der Dow Jones wird dann wohl längst sechsstellige Dimensionen erreicht haben." Pustekuchen. Zwei Milliarden Benutzer stimmte zwar, aber damit war die Zahl der Internet-Benutzer gemeint.
Dann fragte ich in der Story: "Welche Rolle wird im Jahr 2011 Big Blue einnehmen? War bis 1987 IBM die treibende Kraft, so erlebte dieses stolze Unter­neh­men danach eine beispiellosen Talfahrt ihres Aktienkurses von mehr als 170 Dollar im August 1987 auf einen historischen Tiefstand von 40,23 Dollar in 1993. Doch seit 1994 befindet sich das Un­ter­neh­men wieder im Aufwind und hat die 100 Dollar‑Marke überschritten. Der Grund dafür ist ein radikal an­de­res Ver­ständ­nis ihres Geschäftes: sie betrachtet die Welt aus der Sicht der Märkte."
Geradezu überschwänglich äußerte sich jetzt der Analyst Tim Brugger im Blog von The Motley Fool über Big Blue, deren Spitzname wohl demnächst zu Big Blue Data erweitert werden müsste. Denn beim Management großer Datenmengen und deren Analyse sei IBM weltweit führend. Und das Marktpotential steigt ins Unermessliche. Allein in den letzten 20 Jahren seien 90 Prozent aller Daten gesammelt worden, die es auf der Welt gäbe. Und der Analyse zitiert dann die Wall Street, die IBMs Kursziel in den nächsten zwölf Monaten bei 250 Dollar sieht. Der aktuelle Stand in der Woche der Wahrheit: 208 Dollar. (IBM wird morgen ihr Quartalsergebnis veröffentlichen)

Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Geschichte seit den neunziger Jahren scheint IBM tatsächlich eine kolossale Wende genommen zu haben. Vor allem an den Märkten. Denn diese nahmen zu Beginn der neunziger Jahre fürchterliche Rache an IBM dafür, dass sie glaub­te, über allen Märkten schweben zu können. Dieser Hy­bris war nicht nur der Gigant verfallen: Das erlebten vor allen Dingen ihre wich­tig­sten Kun­den: die Herrscher der Finanzwelt. Bei­de scheiterten an ihrer eigenen Professionalität. Während jedoch IBM für Kontinuität steht, durchleidet die Finanzwelt seit fünf Jahren ein Fiasko nach dem anderen. Wird IBM über kurz oder lang auch in diese Katastrophe hineingezogen? Bislang konnte sie sich davor schützen, indem sie den Gewinn steigerte, aber beim Umsatzwachstum nicht gerade brilliert. Wielange wird sie das durchhalten können?
Versuchen wir die Zukunft aus der Vergangenheit zu erkunden. Schalten wir uns ein in das Börsenjahr 1987, das Jahr, in dem die Börse krachte...


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[1] Time, 19.1.1987: »The Bull tops 2000«
[2] Business Week, 2.2.1987, Jeffrey M. Laderman, William Glasgall, Joan Berger: »What the rally really means«
[3] Die Zeit, 22.5.1987: »Schlechter Rat vom Guru«
[4] Fi­nan­cial Times, 19.8.82: »Wild times on Wall Street«
[5] Financial Times, 19.8.82: »Wild times on Wall Street«
[6] Business Week, 1.11.82: »Inside Wall Street: A guru who called the rally looks ahead«
[7] Frank­furter All­ge­meine Zeitung, 21.12.87 (Kommentar): »Blaue Briefe vor Weih­nachten«
[8] Financial Times, 29.12.86, Roderick Oram: »An above average performance«

2 Kommentare:

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