Donnerstag, 6. Februar 2014

Unzeitgemäße Betrachtungen über die sozialen Buchhalter im Internet

Von Raimund Vollmer
Heute meldet sich Martin Schulz, der Präsident des Europa-Parlamentes, in der FAZ zu Wort. Sein Thema ist die zu Big Data vernetzte Welt, wie sie Geheimdienste und Internetkonzerne errichten, um den "determinierten Menschen" zu schaffen. Er schreibt: "Wenn wir Menschen durch diese Vernetzung nur noch die Summe unserer Gewohnheiten sind, in unseren Gewohnheiten und Vorlieben komplett abgebildet und ausgerechnet, dann ist der gläserne Konsumbürger der neue Archetyp des Menschen." Und am Schluss meint er noch hinzufügen zu müssen: "Es geht um nichts weniger als um die Verteidigung unserer Grundwerte im 21. Jahrhundert. Es geht darum, die Verdinglichung des Menschen nicht zuzulassen."
Wunderbar. Und so elegant formuliert. Das tröstet unser von Geheimdiensten und Internetkonzernen durchleuchtetes Herz. Gut gebrüllt, möchte man da dem Sozial-Salonlöwen Schulz entgegenrufen.
Die Frage ist nur: Was haben die Parlamente getan, um unsere "Grundwerte" zu verteidigen? Intuitiv möchte man antworten: Nicht viel.
Blenden wir vierzig Jahre zurück. 1975 erschien das von Helmut Krauch herausgegebene Buch mit dem schönen Titel "Erfassungsschutz". Es ging dabei um den "Bürger in der Datenbank". In diesem Sammelwerk bringt der Soziologe Paul J. Müller den Begriff "soziale Buchführung" auf. Das sei etwas, was bürokratische Organisationen schon immer getan hätten, aber die Daten waren auf viele, viele Stellen verteilt war, isoliert voneinander, nicht miteinander verknüpft. Doch nun würde sich dies verändern. Müller schreibt: "Die öffentliche Verwaltung, die dem Bürger bislang als eine Vielfalt von Stellen, die für Unterschiedliches zuständig sind, erscheint, verändert sich zu einer 'kommunikativen Einheit'." Dies würde auf Dauer zu einer "Asymmetrie der Beziehungen zum Bürger" führen. Wir müssen mitmachen, um dem Staat die Effizienzgewinne zu gewähren, oder uns mit einer Verschlechterung der Beziehungen zu den Behörden abfinden. Kurzum: Wir sind letztlich dazu genötigt, der Zusammenführung der über uns und durch uns gesammelten Daten zuzustimmen. Wir lassen uns verdinglichen.
Mit im Geschäft waren damals bereits Versicherungen und Banken, heute kommen Facebook und Google dazu, ganz zu schweigen von den Geheimdiensten. Das Thema "Datenschutz", das Schulz im Jahr der Europawahl 2014 auf die Seite 1 des FAZ-Feuilletons fette, sogar farbige Letter beschert, ist seit mindestens vierzig Jahren bekannt - und hat bis heute nicht die "Asymmetrie der Beziehungen" zwischen Institutionen und Individuen gelindert. Zu der sozialen Buchführung des Staates kamen die sozialen Medien der Wirtschaft.
Aber das Thema "Verteidigung unserer Grundwerte" bleibt. Und längst müssen wir gegenwärtigen, dass die Parlamente selbst der "Asymmetrie der Beziehungen" unterlegen sind. Jedes Gesetz, das sie verabschieden, entsteht nicht aus eigenem Wissen, sondern auf dem der Bürokratie. Das einzige Gegengewicht dazu scheinen die Lobbys der Privatwirtschaft zu sein, die sich indes mehr der Exekutive widmet als den Angehörigen der Parlamente. "Es ist leicht vorstellbar, dass es Merkmalskombinationen gibt, die nach zwei bis drei Filterschritten aus einer Datei von 50.000 Sätzen ein einzelnes Individuum identifizierbar machen", schrieb 1975 der Wissenschaftler Mark O. Karhausen in seinem Beitrag zum oben genannten Buch.
Big Data war also damals schon gar kein Problem mehr. Natürlich hat sich in den letzten 40 Jahren viel geändert. Aus 50.000 Datensätzen wurden 500.000 und mehr (wer zählt das noch!), vor allem aber agieren diese Daten selbst, sie stellen automatisch die Werbung in unseren Facebook-Kontext, von der sie, die Daten, meinen, dass sie zu unserem Profil passt. (Ehrlich gesagt, wenn ich schon einmal einen Blick auf das meine Aktionen umgebende Werbeangebot werfe, bin ich immer wieder erstaunt, wie primitiv meine Bedürfnisse offensichtlich sind.) Originell ist das wirklich nicht.
Irgendwie scheint die "Asymmetrie der Beziehungen" genau umgekehrt zu laufen: Umworben wird der Werbende. Nach seinem Profil wird geworben, nicht nach unserem. Je größer das Budget und dessen Potential, desto ungezielter lässt sich das Internet-Volk in seine Richtung treiben. Wir sind nicht die Umworbenen, sondern die Firmen, die werben. Schlimmer noch: Letztlich sind wir, die User, unkontrollierbar. Das aber zuzugeben, kann kein Facebook, kein Google, keine Apple, kein Twitter. Stattdessen ermuntern sie die werbende Wirtschaft, immer mehr in die "social media" zu investieren. Mitarbeiter müssen Facebook bedienen und die Meinungsbildung in den sozialen Medien überwachen. Automaten werden eingesetzt, die bei der Kontrolle helfen. Es wird ein Riesenbrimborium der Technologien und Methoden betrieben und publizistisch ausgeschlachtet.
Ein eigener Jargon stülpt sich wie Zuckerguss über die Branche der "sozialen Buchhalter", die sich selbst für Avantgarde halten, sich elitär gebärden - und doch nichts anderes sind als... Buchhalter. Und Leute wie Martin Schulz fördern mit ihren Kommentaren das Geschäft, das sie eigentlich selbst in die Hand nehmen müssten, indem sie, die Politiker, sich selbst einmal hinterfragen, ob sie eigentlich ihrer ureigenen Aufgabe als Gesetzgeber wirklich nachkommen. Stattdessen lenken sie von dem eigentlichen Thema ab.
Und das kann man durchaus auch in einem größeren Zusammenhang sehen. Die FAZ berichtet heute im Wirtschaftsteil, dass die USA in Sachen IT uns Europäer eindeutig abgehängt hätten. Das ist schon eine ganze Weile spürbar. So war es auch in den siebziger Jahren, als das Thema Datenschutz hochkochte. Da drängt sich der Verdacht auf, dass wir, die wir mit der Zukunft nicht mitkommen, nun dazu übergehen, das massiv zu kritisieren, was uns davoneilt. Der Datenschutz ist dabei ein wunderbares Thema. Man fühlt sich stark, weil der Bürger so schwach ist und fremden Kräften ausgeliefert ist, die - wie es Schulz nennt - nur eins wollen: den "determinierten Menschen".

3 Kommentare:

Besserwisser hat gesagt…

Oldtimer wie wir erinnern uns auch noch gut an die Protestwellen der 80er Jahre um etwas Zahlenklauberei des Staates für die sogenannte "Volkszählung".
Etwas von der damaligen Aufmüpfigkeit würde ich mir heute wünschen. Man muss ja Big Data nicht in Bausch & Bogen verdammen, aber die Verwendung eindämmen, Herr Schulz! Nicht reden, handeln!!
Dabei gehe ich davon aus, dass die Geheimdienste ohnehin ihr Unwesen treiben und im Trüben fischen. Aber das ist ein anderes Thema. Wenn schon nicht NSA und BND, dann auf jeden Fall KGB & Co

Raimund Vollmer hat gesagt…

Lieber Besserwisser, warum gibt es von uns beiden, nur wir drei. (Das war eine Volkszählung - und ich weiß immer noch nicht, wer dieser Besserwisser ist. Irgendwann muss er sich aber mal outen.)

HamptiDampti hat gesagt…

Regt sehe zum nachdenken an. Danke. Das muss ich sacken lassen.