Freitag, 24. Mai 2024

Zum Tage

 Der Augenblick ist die Wiege der Zukunft.

Franz Grillparzer (1791-1872). Ösetrreichischer Schriftsteller

 

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 39) HEUTE: DIE BUNDESPUBLIK (17)

 1997: »Mit der Dynamik unserer Zivilisation rückt die unbekannte Zukunft uns näher; und die Nähe des Unbekannten macht angstbereit.«

Hermann Lübbe (*1926), deutscher Philosoph[1]

 

Anlässlich 75 Jahre Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik

Das Grundgesetz:
Weder brüderlich noch geschwisterlich

 

 Von Raimund Vollmer 

 

Der Prozess des permanenten Wandels startete mit der Französischen Revolution, mit der – wie der Soziologe Niklas Luhman 1989 in der 'Neuen Zürcher Zeitung' bemerkte – „eine Übergangssemantik in Geltung gesetzt wurde“.[1] Es war ein radikaler Bruch – nicht   nur mit dem Ancien régime, sondern mit allem: „Keine Tradition, kein Aspekt der Vergangenheit wurde für erhaltenswürdig erachtet – nichts, auf dem man die Zukunft hätte aufbauen können“, bemerkte 1989 der französische Historiker Francois Furet (1927-1997).[2] Alles begann neu, sollte und wollte Wirklichkeit werden: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“.

Vor allem der letzte Begriff, die Brüderlichkeit, wartet seitdem auf seine Erfüllung. So meinte anlässlich des 200. Jahrestages der Französischen Revolution der Publizist Stephan Wehowsky (*1950), dass erst im Artikel 1 der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen die Brüderlichkeit 1948 ihren rechtlichen Niederschlag gefunden habe.[3]  Da heißt es am 10. Dezembern 1948: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“

„Alle Menschen werden Brüder“, ließen bereits Schiller und Beethoven die Götter durch die Jahrhunderte funken. Viel wurde nicht daraus. „Work in progess“, möchte man es nennen - wie ein Werk, das sein Schöpfer, ein Künstler, nicht vollenden will. Wir treiben ziellos dahin.

Brüderlichkeit – ein verlorener Begriff, unscharf, unpräzise, neuerdings heftig umstritten. Gesetzt gegen eine Welt der ausufernden Vorschriften, der verzwickten Regeln und der unverständlichen Gesetze, gegen eine Zeit der rigorosen Egoismen und der erbarmungslosen Narzissmen, wird er nun selbst tabuisiert, verboten. Geschwisterlichkeit soll die Brüderlichkeit ersetzen. „Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit“ heißt es bei den Grünen in Deutschland, die somit der alten Parole von der Brüderlichkeit Paroli bieten wollen.

Aber dem Ansinnen von Friedrich Schiller kommen sie damit nicht näher. Er meinte es anders. Vielleicht so: Alle Menschen werden – Menschen. Freiheit, Gleichheit, Mitmenschlichkeit. Dieses Miteinander, das Mediale des Menschen ist das, was wir mit Brüderlichkeit meinen – über das Individuelle hinaus. Es meint vielleicht sogar das Leben nach dem Jetzt.

Brüderlichkeit ist eine Verheißung, „die sich vollends der staatlichen Durchsetzungsfähigkeit entzieht“, meint der Schweizer Publizist Roger de Weck (*1953).[4] Brüderlichkeit ist ein Versprechen für etwas – so Stephan Wehowsky –, „was Parlamente nicht durchsetzen können“. Schwesterlichkeit schon eher – durch Quotenregelung bis in den Bundestag hinein, wie es die Grünen fordern. „Fraternité“  meint da schon etwas anderes. Schwesterlichkeit ist der Gleichheit, der „Egalité“ näher.

Vor bald 250 Jahren mehr prophetisch als programmatisch in die Welt geworfen, ist die Brüderlichkeit unser letztes Refugium – in diesem Jahrhundert, in diesem Jahrtausend. Und wir gehen nicht gut damit um. Es sollte und es musste ein Virus kommen, das diese Brüderlichkeit einforderte – und uns zeigte, wie schlecht wir miteinander umgehen. Bislang hat die Brüderlichkeit nur Pseudoordnungen produziert. Wir professionalisieren all unsere Lebensverhältnisse – von der Wiege bis zur Bahre. Eine Lebensform ist es nicht, nur eine Organisationsform, eine technisch-planerische Vernunft. Bis jetzt.

Dabei hat uns dieses Thema bis in die Anfänge der Bundesrepublik hinein sehr bewegt. Der Liberale Theodor Heuss (1884-1963), der 1949 der erste deutsche Bundespräsident werden sollte, fragte 1946: „Was heißt Demokratie als Lebensform?“ Und er gab sich selbst die Antwort: „Doch nur dies: Dem Menschen, gleichviel er sei und woher er käme, als Mensch zu begegnen.“

Aber, bitte, nur mit gebührendem und gehorsamem Abstand, fuhr 75 Jahre später der Sozialstaat dazwischen. Mit Maske. Möglichst durchgetestet, durchgeimpft. Der Mensch geht auf Distanz zu sich selbst.

„In erster Linie ein Ja zur Mitmenschlichkeit“, sah 1970 auch Carlo Schmid (1896–1979) das primäre Bestreben in der Demokratie. Schmid war Staatsrechtler und einer der Väter des Grundgesetzes.[5] Schmid und Heuss – beide waren Mitglieder des Parlamentarischen Rates, der dieses Grundgesetz in die Welt setzte.

Brüderlichkeit – ein Wort, das über uns schwebt in diesem 21. Jahrhundert, in diesem dritten Jahrtausend, ein Wort, das sich nicht – wie Freiheit und Gleichheit – einfangen lässt in klare Definitionen, Verordnungen, Abgrenzungen, Instruktionen, Gesetze oder Software. Der CDU–Politiker Heiner Geißler (1930–2017) meinte einmal, dass die Brüderlichkeit wie auch die Gleichheit „vor dem Hintergrund der Forderung nach Freiheit immer etwas zurückgedrängt wurde.“[6]

Brüderlichkeit – seit Kain und Abel ein beschädigtes, irgendwie sprachloses Wort, das sich allem entzieht, was unsere Epochen, das Centennium und das Millennium, zu fassen versuchen. Ein Wort, vor dem das Jetzt scheitert. Wir ahnen vielleicht: Wir selbst sind dieses Wort. Brüderlichkeit meint uns als Subjekt, nicht als ein konkretes, managebares Objekt, wie es die Schrift tut, die so gerne alles erfasst und bestimmt. Brüderlichkeit ist nicht abstrakt, sie ist sehr persönlich.

In der Schrift wird alles zum Objekt, zum Ausdruck, zu Big Data. „Schriften sind subjektlos. Sie machen Sprache zum Objekt“, formulierte Eckhard Nordhofen (*1945), deutscher Philosoph und Theologe.[7] Das ist ihr Ursprung, das ist ihr Urgedanke. Brüderlichkeit hingegen ist ein Wort außerhalb unserer Sprache. Es ist ein Wort außerhalb des Messbaren, des Kalkulierbaren, der Mathematik, der Maschinen. Es ist ein Wort außerhalb unserer wichtigsten Schrift, der Verfassung, des Grundgesetzes: „Weder Solidarität noch Brüderlichkeit werden im Grundgesetz erwähnt“, erklärt die Verfassungsrechtlerin Angelika Nußberger (*1963), frühere Richterin und Vizepräsidentin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.[8] Solidarität und Brüderlichkeit gibt es nur zwischenmenschlich, für alles andere ist der Sozialstaat verantwortlich, peinlich genau dokumentiert und seit 1976 sukzessive zusammengefasst zu einem zwölf Bände umfassenden Sozialgesetzbuch. Alles schriftlich. Wie es sich gehört. Alles sorgsam kodiert.

Brüderlichkeit gibt es nur zwischen Menschen. Unvermittelt. Direkt. Das wissen wir jetzt. Nach der Corona-Isolation. Eventuell. Vielleicht. Ganz bestimmt. Schriftlich gibt uns das allerdings keiner. 

Brüderlichkeit gibt es nur von Fall zu Fall.



Donnerstag, 23. Mai 2024

Zum Tage

 2006: „Die Macht lässt den Mächtigen vereisen.“

Mario Erdheim (*1949), Schweizer Ethnologe und Psychoanalytiker[1]



Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 38) HEUTE: DIE BUNDESPUBLIK (16)


  23. Mai 1949: »Heute wird nach der Unterzeichnung und der Verkündung des Grundgesetzes die Bundesrepublik Deutschland in die Geschichte eintreten!“«

Konrad Adenauer (1876-1967), erster deutscher Bundeskanzler und Präsident des Parlamentarischen Rates

 

Anlässlich 75 Jahre Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik

 Demokratie unser

 Von Raimund Vollmer 

 

Waren wir mit der Verkündung des Grundgesetzes vor 75 Jahren bereits eine Demokratie? Wohl kaum, aber wir waren auf dem Weg dahin. Hoffentlich entfernen wir uns nicht davon in den nächsten 75 Jahren...

Noch in den 68er Jahren hatte der deutsche Literaturwissenschaftler Peter Szondi (1929-1971) befürchtet, „dass die Demokratie in Deutschland im Grund weder von den autoritären Tendenzen der Regierung noch von den anarchischen in gewissen Kreisen (z.B. bei einigen hundert Berliner Studenten) gefährdet ist, sondern primär durch die Tatsache, dass Demokratie hier immer noch ein Schlagwort ist.“[1] Demokratie – für uns nur ein Schlagwort? Irgendwie glaubten wir in den vergangenen 75 Jahren, dass wir dies irgendwann überwunden hätten.

Doch nun liegt der Verdacht in der Luft, dass es wieder so werden könnte. Wir trauen uns selbst nicht. Schuld daran sind aber nicht etwa Maßnahmen wie der autoritär verhängte Lockdown, noch der Protest der Querdenker, auch nicht die AfD, sondern es ist der größte Feind der Menschlichkeit: die Gleichgültigkeit und Gedankenlosigkeit, getarnt durch den massiven Einsatz von Technologie, die uns unentwegt die beste alle Welten vorgaukelt. Die Technik in Gestalt der Sozialen Medien isoliert uns, indem sie uns jede Menge Freunde beschert. Wir fühlen uns angenommen - und doch ist keiner dieser Freunde wirklich zum Greifen nah. Aber eigentlich sind wir allein mit unseren Zweifeln - selbst wenn wir auf die Straße gehen, um für die Demokratie zu demonstrieren, ist es doch nur ein blinder Protest gegen Rechts.

„Die parlamentarische Demokratie und die freie Marktwirtschaft, diese zwei starken Säulen der Vernunft, sind keine Garantie mehr für den ruhigen Schlaf eines wachsenden Heeres von Zweifelnden, Enttäuschten und Verbitterten“, schrieb 1995 der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski (1924-2000).[2] Dieses Heer ist seitdem eher gewachsen. 

Trotz 

Mehr als 800 Verfassungen wurden seit der Französischen Revolution weltweit geschrieben. Und irgendwie wissen wir – die Menschenrechte sind die wichtigste Schrift überhaupt. Unveräußerlich. Für immer. Zeitlos gültig. Ohne Verfallsdatum. Die Menschenrechte setzen jeder „Tyrannenmacht“ eine Grenze, heißt es bei Schiller im „Wilhelm Tell“: „Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, wenn unerträglich wird die Last – greift er hinauf getrosten Mutes in den Himmel, und holt herunter seine ew'gen Rechte, die droben hangen unveräußerlich und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.“

Die Menschenrechte sind „die Zivilreligion unserer Epoche“, sagt der Historiker Furet.[3] Geachtet haben wir sie nicht – wie uns allein ein Blick auf die Todesbilanz des Kommunismus zeigt, jener Ideologie, vor der alle gleich waren – vor allem tot. „Gezählt hat sie keiner“, die Toten, sagt der Schweizer Journalist Jürg Altwegg (*1951). „Fünfundachtzig, vielleicht sogar hundert Millionen sollen es seit 1917 gewesen sein“, schrieb er 1997 zum achtzigsten Geburtstag der Oktoberrevolution in Russland. „In den meisten kommunistischen Ländern gehörten die Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Regierungssystem“, zitiert er einen Artikel des französischen Schriftstellers Pierre Daix (1922-2014) im ‚Figaro‘. [4] Eine 850 Seiten starke Studie war justament vorgelegt worden. Für Daix war sie „Der Nürnberger Prozess des Kommunismus“.

Hitler, Mao, Stalin – ihnen wurde nie der Prozess gemacht. 

Und noch immer haben vielerorts die Menschenrechte nicht den Oberbefehl. Er ist der einzige, den wir akzeptieren. Über allem anderen auch. Auch über Kapital und Technik. So hoffen wir über alle Zweifel und Verbitterung hinweg.

Wir, die Menschen. „Wir, die wir für die kommenden Generationen wirken, wir, auf die die Welt blickt“, hatte dereinst der Revolutionsführer George Danton (1759–1794) in die Menge gedonnert.[1] Wohl wahr. Greta Thunberg wettert ähnlich. Inzwischen übernimmt in Deutschland das Bundesverfassungsgericht diese Rolle und ermahnt die Menschen, an die nächste Generation zu denken, an die Umwelt.

Brüder im Geiste werden wir dadurch nicht. Trotz Social Media, in der sich weltumspannend die Hälfte der Menschheit trifft. Zu einer Big Data-Gemeinde. Wie es war im Anfang, als die Amerikaner sich ihre Demokratie und ihr Wahlsystem gaben. Das war 1774. Beim Ersten Kontinentalen Kongress in Philadelphia, beschlossen sie, dass die Anzahl der Stimmen jedes im Kongress vertretenen Bundesstaates abhängig sein solle von der Einwohnerzahl. Eine Volkszählung alle zehn Jahre war die Folge. Und mit ihr begann das Datensammeln – über Menschen, Wirtschaft und Gesellschaft.

So kam alles zusammen. Die Technik, die Wirtschaft, die Macht. Der Dreisatz der Moderne, die Trinitas des Fortschritts, die Verfassung der Welt. Für immer. Damit werden wir aber auch mehr und mehr ein Fall für die Maschine. Wäre diese überhaupt in der Lage, eines Tages die gesamte Last der Welt auf sich zu nehmen?

„Vielleicht hat die ausgediente Dampfmaschine der Aufklärung nach zwei Jahrhunderten nützlicher, störungsloser Arbeit vor unseren Augen und mit unserer Beteiligung angehalten. Und der Dampf geht nur in die Luft. Wenn es so ist, dann sind die Aussichten düster“, hatte 1995 Szczypiorski geschrieben.[2] Ein Vierteljahrhundert später läuft die Maschine immer noch, besser denn je – selbst in der tiefsten Krise. Sie ist sogar längst dabei, gänzlich ohne uns zu funktionieren. Wahrscheinlich nicht nur im „Sonderfall“ einer Pandemie.

War es aber das, was wir wollten?

 




Mittwoch, 22. Mai 2024

Zum Tage

 „Niemand ist mehr Fehlern ausgsetzt als der Mensch, der nur aus Überlegung handelt.“

Luc deVauvenargue (1715-1747), französischer Moralist

 Hoffentlich überlegen die Leverkusener heute nicht zuviel, sondern sind ganz einfach überlegen... R.V.

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 37) HEUTE: DIE BUNDESPUBLIK (15)


 1997: »Mit der Dynamik unserer Zivilisation rückt die unbekannte Zukunft uns näher; und die Nähe des Unbekannten macht angstbereit.«

Hermann Lübbe (*1926), deutscher Philosoph[1]

 

Anlässlich 75 Jahre Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik

 Die Pandemie der Angst

Freiheit ist nur noch schöner Schein. „Freiheit, schöner Götterfunken“, schillert es 1992 bei Günther Nenning (1921–2006), österreichischer Journalist und Aktivist, „Tochter aus Elysium, Mutter der Möglichkeit, Großmutter neuer Knechtschaft.“ In uns Heutige sah er bereits die „Angstbrüder des neuen Jahrtausends“. Mit gutem Grund: Wir kämen „aus der Epoche der Furcht vor Bestimmten“, wie dem Kalten Krieg mit seiner konkreten Bedrohung durch Atombomben, und geraten nun in die Epoche der Angst vor dem Unbestimmten“, schrieb er geradezu hellseherisch.[1] Ja, die Welt schien nach dem Fall der Mauer so festgefügt, dass man bereits vom „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) sprach. Und hatte nicht US-Präsident Ronald Reagan (1911–2004) zuvor mit seiner Strategic Defense Initiative (SDI) vorgehabt, den Schutzschirm bis in den Weltraum zu erweitern? Eine Welt ohne Überraschungen. Das wär’s. Das war’s.

„Wir leben in einer verwirrenden Zeit“, sprach indes 2014 der amerikanische Star–Informatiker Jaron Lanier (*1960) bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Pauluskirche.[2] Und er meinte dies keineswegs so banal, wie es klang. Denn ausgerechnet das Instrument, das uns am meisten Klarheit beschaffen soll, ist das, was genau diese Verwirrung erzeugt. „Wir Menschen sind Genies darin, uns durch den Gebrauch von Computern verwirren zu lassen. Das wichtigste Beispiel dafür ist, dass Computer so tun, als wäre Statistik eine Beschreibung der Realität.“ Und genau diesen Statistiken fielen wir in der Pandemie zum Opfer. Sie wurden zum einen Richtschnur des politischen Handelns, zugleich aber auch die Instrumente, die uns ratlos machten. Die Statistiken bestimmten uns ins Unbestimmte. Und dieses Unbestimmte, das liegt nun mal in der Luft. Unerklärlich.

Ja, das Unbestimmte kommt aus der Luft und verbreitet Angst. Nicht umsonst nannte der Philosoph Peter Sloterdijk (*1947) 2002 sein Buch über den Terror „Luftbeben“. Er meinte, dass wir in einer Zeit leben, in der „Harmlosigkeiten in Kampfzonen verwandelt“ werden. Und unser Alltäglichstes, die Luft, die wir ganz einfach bis zu unserem letzten Atemzug brauchen, ist da geradezu das ideale Medium.[3]

Die Luftbeben sind nicht kalkulierbar. Wir wissen nicht, aus welcher Richtung sie kommen. Sie heißen zum Beispiel „Nine/Eleven“ und legen Wolkenkratzer in Schutt und Asche. Sie umfassen die ganze Welt und nennen sich machtvoll „Klimakatastrophe“. Sie hatten jetzt einen weiteren Namen bekommen: Corona. Etwas ganz Spezielles – und doch Unbestimmtes. Ein Virus. Weder tot noch lebendig. Weder sichtbar noch sonst wie spürbar. „Weder Ziel noch Plan“, schrieb im August 2020 der ‚Economist‘. Das Virus ist entweder da oder nicht da, es ist aber nicht digital, sondern real und durchgetestet: Positiv ist schlecht, negativ ist gut. Kompliziert: Ja ist nein. Nein ist ja. Bei den Viren haben wir es mit einer Gattung zu tun, deren Zahl aus mehr Elementen besteht, als es Sterne am Himmel gibt, und die sich in ihrer Verbreitung und Vielfalt zu einer Nummer mit 32 Nullen hochrechnet. Und dennoch könnte im Internet jedes Virus-Element seine eigene Adresse haben, aber damit hätten wir es noch lange nicht im Griff. Das Virus ist ein Garant für eine alles und alle überwältigende Unordnung.[4]

Jürgen Habermas (*1929), dieser hochgelobte Philosoph und Soziologe, meinte im April 2020 in der ‚Frankfurter Rundschau‘: „Eines kann man sagen: So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie.“ Er ahnte schon in dieser ersten Phase des Lockdowns, dass wir – außerhalb der medizinischen Thematik – vor Fragen gestellt werden würden, deren Beantwortung äußerste Vorsicht verlangt. Es gäbe „einstweilen keinen Experten, der diese Folgen sicher abschätzen könnte“, meinte er in dem Zeitungs-Interview.  Wir würden zwar „große Unsicherheiten“ als lokale und ungleichzeitig auftretende Ereignisse kennen, aber das sei nun völlig anders. „Demgegenüber verbreitet sich jetzt existentielle Unsicherheit global und gleichzeitig, und zwar in den Köpfen der medial vernetzten Individuen selbst.“ [5]

Wer denkt noch an die Zeit, in der ein Niklas Luhmann (1927–1998), Soziologe und Systemtheoretiker, schreiben konnte, dass alles, was an Unheil auf uns zukommen mag, „keine gesellschaftlichen Auswirkungen“ hat, „solange darüber nicht kommuniziert wird.“[6]      Das war 1990. Womit er bestimmt nicht das Verschweigen empfehlen, sondern uns mitteilen wollte, dass sich jede Gesellschaft durch Kommunikation definiert und nicht durch eine physisch präsente Wirklichkeit. Kommunikation ist etwas, das sich verselbständigt. Noch nicht einmal die chinesische Bürokratie in Wuhan konnte dies verhindern. Und die Pandemie war vor diesem Hintergrund ein Paradebeispiel. Denn trotz aller Anstrengungen, die Kommunikation unter medialem Einsatz der profundesten Experten zu lenken, hat sich das Virus jedem Versuch der kommunikativen Steuerung entzogen. Es triumphiert über alle Systeme. Mit unseren Gedanken, hinter unseren Masken, werden wir allein gelassen, waren wir und sind wir dem Twittersturm ausgesetzt.  Übertall herrscht die Unbekannte: das X – wie sich Twitter jetzt konsequenterweise nennt.

So denken wir unbestimmt vor uns her. Was dabei zum Beispiel herauskommt, können wir im Internet sehen. „Rückblick auf ein Chaos“, heißt im Untertitel ein französischer Film mit dem Namen „Hold-up“, der am 11. November 2020 auf diversen Kanälen erschien und uns mit suggestiver Kraft all das Unbestimmte der Pandemie zu einer gigantischen Verschwörungstheorie zusammenfasste, vorgeblich Ordnung schuf, auch wenn diese kaum weniger erträglich war. Die französische Soziologin Monique Pinçon–Charlot (*1946) und mehr als 5000 „Bewohner dieser Erde“ enthüllten uns in dem fast dreistündigen Werk das wahre Ziel dieser ihrer Meinung nach künstlich in die Welt gesetzten Pandemie. Es gehe darum „die Ärmsten der Armen auszulöschen, weil die Reichen sie nicht mehr brauchen.“ 3,5 Milliarden Menschen sollen verschwinden.[7] Das ist alles. Nur die Reichen überleben. Die Ordnung, so möchte man nicht ohne Zynismus hinzufügen, ist wiederhergestellt. Die Bevölkerungsexplosion seit Ende des 2. Weltkrieges, eine Verdreifachung der Erdbewohner, gilt als die größte Ursache für die Überforderung unserer Umwelt und Ressourcen. Es wird eng, sehr eng. So trieben wir – mit den Worten des Tübinger Philosophen Otfried Höffe (*1943) – in eine „Virus–Diktatur“, schlimmer als alles andere in der Menschheitsgeschichte.[8]

Wäre das die „Neue Normalität“?

Oder wollte sich in diesen Jahren der Pandemie etwas durchsetzen, was man einen eopchalen Wandel nennen könnte – einen Wandel äußerster Brutalität?