Teil 4: Kleistern mit Kleist
Da ich das, was ich gerne schreiben möchte, einfach nicht in die Tastatur hineinbekomme, es sind immer viel zu viele Gedankengeister gleichzeitig, die sich der Aufmerksamkeit meiner Finger unterwerfen möchten, lade ich Euch, meine lieben Freunde, stattdessen zu einem Experiment ein – vor allem die, die sich bei ChatGPT & Co. schon eingenistet haben.
Heinrich von Kleist hat 1810 in einer politischen Kampfzeitung, den „Berliner Abendblättern“, ein Gebet simuliert, von dem ich den Eindruck habe, dass es sehr gut auf unsere momentane Situation und auf die der Deutschen passt. Ich habe mich gefragt, wenn diese Simulation tatsächlich eine Computersimulation wäre, die ChatGPT oder irgendein anderes Sprachmodell erstellt hätte und nicht ein echter Autor, wie ich darauf wohl reagieren würde. Erstens würde ich die Künstlichkeit erkennen und akzeptieren, zweitens würde ich mich angesprochen fühlen, die Schlafsucht – die einen ja vor allem in der Silvesternacht befällt – zu besiegen und würde ich drittens ChatGPT beauftragen, mir eine entsprechende Antwort zu formulieren – kurzum: mit diesem Text zu experimentieren. Was geschieht, wenn Ihr ChatGPT – in welcher Form auch immer und mit welchem Auftrag – mit diesem Text oder Stichworten daraus konfrontiert. Natürlich könnt Ihr ihn auch klassisch kommentieren oder adaptieren und wir uns hinterher fragen, ist der neue Text, sind die neuen Gedanken nun aus der Maschine oder von einem Menschen. Sind wir die Titanen oder die Untertanen? Wäre schön, wenn Ihr mitmacht. Als Silvester-Jux.
„Gott, mein Vater im Himmel, Du hast dem Menschen ein so freies, herrliches und üppiges Leben bestimmt. Kräfte unendlicher Art, göttliche und tierische, spielen in seiner Brust zusammen, um ihn zum König der Erde zu machen. Gleichwohl, von unsichtbaren Geistern überwältigt, liegt er, auf verwunderungswürdige und unbegreifliche Weise, in Ketten und Banden: das Höchste, vom Irrtum geblendet, lässt er zur Seite liegen, und wandelt, wie mit Blindheit geschlagen, unter Jämmerlichkeiten und Nichtigkeiten umher. Ja, er gefällt sich in seinem Zustand: und wenn die Vorwelt nicht wäre und die göttlichen Lieder, die von ihr Kunde geben, so würden wir gar nicht mehr ahnden, von welchen Gipfeln, o Herr! der Mensch um sich schauen kann. Nun lässest du es, von Zeit zu Zeit, niederfallen, wie Schuppen, von dem Auge eines deiner Knechte, den du dir erwählst, dass er die Torheiten und Irrtümer seiner Gattung überschaue; ihn köderst du mit dem Köcher der Rede, dass er, furchtlos und liebreich, mitten unter sie trete, und sie mit Pfeilen, bald schärfer, bald leiser, aus der wunderlichen Schlafsucht, in welcher sie befangen liegen, wecke.“
Ob es wohl mehr als zehn Kommentare geben wird, oder hat die Schlafsucht uns übermannt? R.V.