Samstag, 31. Januar 2009

Vor 30 Jahren: Ankündigung der IBM 4300

»Die IBM hat das Computergeschäft zweimal revolutioniert: 1964 mit der Ankündigung der /360, 1979 mit der Computerfamilie 4300.« (Forbes, 1979)


Vorveröffentlichung aus: Raimund Vollmer, "Das blaue Wunder - Die IBM und ihre Mitbewerber", Reutlingen 1984. Das Buch, vor 25 Jahren ein Branchenbestseller, erscheint jetzt sukzessive als Blog.

Der Computerschock

In keinem anderen Zeitraum der EDV-Geschichte waren die Marktchancen für die Wettbewerber so groß wie in den siebziger Jahren, als der amerikanische Antitrust-Prozess den Multi lähmte. Die Gerichtsschranken waren IBMs größte Marktbarrieren. Zehn Jahre lang - von 1969 bis 1979 - wusste der Gigant nicht, wie er sie überwinden sollte. Sein Umsatzwachstum fiel in dieser Zeit kaum höher aus als die Inflationsrate. Es waren durchschnittlich 13 Prozent "Wachstum".
Doch dann kam die Wende.
Trotz des noch immer schwebenden Verfahrens zog sich der Rechnerriese von 1979 an mit steigender Aggressivität aus der Rechts-Affäre, deren gutes Ende er einfach vorwegnahm.
Bereitsb gegen Ende der siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre äußerten immer mehr Insider in den USA die Meinung, dass es niemals zu einem Urteilsspruch im "Methusalem-Prozess" gegen IBM kommen würde.
Einen Tag später, am 29. Januar 1979, schien zumindest IBM zu wissen, wie sich Washington entscheiden würde: Sie kündigte an diesem Tag ihre neuen, mittelgroßen Universalcomputer vom Tyxp IBM 4300 an. Diese Serie wie gegenüber den Vorgängermodellen ein sensationelles, um den Faktor 4 verbessertes Preis-/Leistungsverhältnis aus.
Die Ankündigung schlug bei den Wettbewerbern wie eine Bombe ein. "Das ist ein Langzeitprodukt", spekulierte einen Tag nach der Ankündigung Gary B. Friedman, Firmengründer von Itel, dem damals aggressivsten Wettbewerber der IBM im kompatiblen Computermarkt.
Die 4300 überdauerte nicht nur sein Unternehmen, das bereits 1979 zusammenbrach (und sich 1983 fernab von allen Computeraktivitäten wieder zurückmeldete), sondern drängte eine Fülle weiterer Wettbewerbern - von der Philips-Beteiligung Two-PI über Nanodata bis hin zu Magnuson und IPL Systems Inc. an den Rand des Ruins. IPL, an der der Italiener Olivetti beteiligt ist, machte 1983 zehn Mio. Dollar Umsatz und 4,2 Mio. Dollar Verlust.
Geschockt von dem Announcement verzichteten andere, potentielle Hersteller auf den für 1979 projektierten Einstieg ins PCM-Geschäft. "Wir haben es gecanceld", meinte Edward Faris, Chef der Computer-Division von Electronic Memories & Magnetics Corp. (EM&M), damals ein aggressiver Speichermixer im IBM-Markt. "Wir sind davon überteugt, dass dies langfristig kein großer Markt mehr sein wird. Das galt zumindest für die PCMs, die Plug Compatible Manufacturers.
"Eiegntlich sind wir die einzigen Hersteller, die wirklich erfolgreich im 4300-kompatiblen Geschäft sind", meint Gerd Wagner, Gründer von Nixdorfs Compatible Information Systems (CIS) in München, die im April 1984 über 400 ihrer IBM-kompatiblen 8890-Rechner unter Vertrag hatte, wobei Nixdorf im Gegensatz zu allen anderen Wettbewerbern nichts IBMs Betriebssystem (DOS/VSE) einsetzt, sondern sehr erfolgreich eigene, kompatible Betriebssoftware (NIDOS).
Die große Wut
Als Gerd Wagner, Chef von Nixdorfs Compatible Information Systems, am Tag der 4300-Ankündigung in Sunnyvale zu einem Freundschaftsbesuch bei der Amdahl Corp., einem früheren Beteiligungsunternehmen der Paderborner (fünf Prozent bis 1977), weilte, wurde er von dem Announcement mitten in einem Meeting mit Eugene R. White, Chefkaufmann der kalifornischen Technologie-Schmiede, überrascht. Ein Amdahler hatte White einen kleinen Spickzettel mit der Auflösung des seit Monaten währenden Rätselratens um die E-Serie (Codename) zugesteckt. Im Besitz des neuen Herrschaftswissens der IBM veranstaltete Smalltalkmaster White ein Preis-Ausschreiben. "Was kostet die kleinste 4300?" befragte er seinen Gast. "130.000 Dollar" halbierte Wagner den Kaufpreis der /370-138 (Vergleichsmodell der Vorgängerserie), und er lag damit 100prozentig daneben. Denn IBMs etwa gleichstarke 4331 kostete nur 60.000 Dollar.
Niemand hatte einen derartigen Preissturz erwartet. Sie alle hatten sich zu sicher gefühlt in einem Markt, der innerhalb von vier Jahren von Null auf einen Installationsbestand von einer Milliarde Dollar hochgeschnellt war. "In der guten alten Zeit waren die Gewinnmargen lächerlich hoch, und man konnte selbst bei niedrigen Produktionszahlen und schlaffem Management bequem überleben, erinnert such Stephen Ipolito, Gründer und Chef von IPL Systems, dem PCM-Anbieter für die Control Data Corp., die damals den Vertrieb der mittelgroßen IBM-komaptiblens Mainframes in den USA besorgte.
IBMs Preisgericht schmeckte außer dem glücklichen Anwender niemandem. Vor allem nicht der Börse. Die Aktienkurse der vollkompatiblen Wettbewerber wie Amdahl, Fujitsu, Itel, Memorex und Storage Technology Corp. (STC) purzelten in den Keller und waren Ende 1979 kaum noch die Hälfte wert. Denn nun erwarteten die Anleger einen ähnlichen Preissturz bei allen anderen PCM-lastigen IBM-Produkten.
IBMs lästigster und von der 4300 in seinen Strategien am stärksten betroffener Konkurrent, Itel. musste bereits im dritten Quartal des Jahren 176 Mio. Dollar Verluste anmelden und beendete das Jahr mit einem Verlust von 444,2 Mio. Dollar. Insgesamt stiegen die Schulden auf 1,3 Milliarden Dollar.
"1979 war ein Jahr voller Tragik und immenser Veränderungen für Itel. Die Auswirkungen dieser Störungen setzten sich 1980 fort. Eine Myriade von Problemen entstand durch den Kollaps im Computergechäft", umschrieb im Geschäftsbericht der neue Chairman James H. Moon.
"Nach der Ankündigung hat unser Management das Auftragsbarometer von der Wand genommen und in den Schrank gesperrt", erinnert sich ein ehemaliger Itel-Mitarbeiter. Nie zuvor war die IBM mit soviel Ungestüm und geballter Aggressivität in einen durch sorgfältig plazierte Gerüchte über ein Jahr lang unter Hoch-Spannung gehaltenen Markt hineingedonnert.
Anstatt noch länger durch Wohlverhalten die Entscheidung des Gerichtes und der Regierung positiv zu beeinflussen, entwickelte die IBM seit 1979 immer mehr Offensivkraft, Wagemut und Angriffslust. Sie trat mit aller Macht die Flucht nach vorne an. Die zehn Jahre lang aufgestaute Wut über den 1969 noch am letzten Tag der Johnson-Regierung angezettelten Kartell-Krieg musste raus. Der Gigant betätigte sich als Entfesselungskünstler, indem er sich elegant von den ihn einschü+chternden Antitrust-Ketten zu befreien suchte. War der Preisverfall bei Großcomputern in den Jahren von 1970 bis 1975 etwa durchschnittlich neun Prozent im Jahr gewesen, so beschleunigte IBM diesen in den folgenden Jahren auf rund 25 Proeznt, analysiert der Branchenbeobachter Robert Djurdjevic. 1979 erreichte der Preiskampf seinen bislang einzigartigen Höhepunkt: der Kunde bekam für jeden investierten Dollar viermal mehr Leistung.
"Die IBM hat sich in den vergangenen drei Jahren aufgeführt, als ob es das Justiz-Ministerium überhaupt nicht geben würde", komentierte im Janiar 1982 der Wall-Street-Analytiker Sanford Garrett von Paine-Webber die Zeit von 1979 bis zur endgültigen Niederschlagung des Antitrust-Prozesses. Doch wenn man anschaut, dann hat sie nichts getan, was den Interessen des Justice Departments widersprechen konnte. "Ich möchte klar herausstellen, dass die Antitrust-Gesetze in den Vereinigten Staaten zumindest von der Theorie her darauf ausgerichtet sind, den Verbraucher zu schützen. Ihre Absicht ist es nicht, die Wettbewerber zu protegieren", stellt Ex-IBMer Stephen Ippolito, Chef des CPU-Mixers IPL, Cambridge, klar. Und ganz im Sinne der Computeranwender war der Billgmacher IBM 4300.
Tombola für einen Computer
Allein durch die Ankündigung dieser Rechnerfamilie holte sich IBM innerhalb weniger Wochen einen Auftragsbestand von rund zehn Milliarden Dollar. Die Nachfrage war derart groß, dass die Vertriebsbeauftragten nur noch telefonisch akquirierten. Die Klingel-Methode hatte Erfolg: 42.000 Letters on Intent (Absichtserklärungen) wurden bis Mitte 1979 weltweit von den Kunden abgegeben. Vertriebschef "C. Schulz-Wolfgramm sieht in der Überbuchung die Akzeptanz dessen, was die IBM über Datenverarbeitung zu sagen hat", schrieb damals der interne Mitteilungsdienst "DV-Informationen", aus denen die IBM-Vertriebsbeauftragten ihr Herschaftswissen beziehen. Wer eines dieser neuen Systeme (Kaufpreis zwischen 150.000 DM und 1,5 Millionen DM) bei IBM bestellte, musste mit Wartezeiten bis zu 24 Monaten rechnen. In der Stuttgarter Liederhalle veranstaltete die IBM eine Tombola, bei der in einem Losverfahren festgestellt wurde, welche Anwender als erste in den Genuss der neuen Serie kommen sollten.
"Die erste wirklich neue Generation IBM-Hardware seit neun Jahren", begrüßte das US-Magazin "Fortune" damals die neue Serie. Noch weiter in die Vergangenheit zurück ging die "New York Times". Für sie war die IBM 4300 "die erste neue Computergeneration seit 15 Jahren".
Allein in der Bundesrepublik absolvierte das extra für die 4300 gegründete "Komptenz-Center München" in den ersten 140 Tagen nach der Ankündigung 250 Kundenveranstaltungen, zu denen rund 1500 Teilnehmer kamen. "Ein Novum in der DV-Geschichte: Hard- und Software waren schon am Tage der Ankündigung einsatzbereit", prahlte die IBM-interne Branchenpublikation "DV-Informationen" mit der Erstinstallation einer 4331. Im Oktober war dann eine 4341 im "Kompetenz-Center" verfügbar.
Bereits am 28. März 1979 - zwei Monate nach der Ankündigung - lief im Werk Mainz die erste seriengefertigte 4331 vom Stabel. Knapp neun Monate später, am 12. Dezmeber, verließen die ersten vier 4341-Rechner die Fabrik. "Einer davon wird an einen deutschen Kunden ausgeliefert, drei gehen in andere europäische Länder", verbreitete das IBM-interne Mitteilungsblatt in seiner letzten Ausgabe des Jahres die frohe Botschaft, die längst den Markt durchdrungen hatte. Schon zur Hannover Messe 1979 meldete IBM intern die Rekordbesucherzahl von 40.000, die "die neuesten DV-Produkte" besichtigen wollten.
Geradezu überschwenglich begrüßte das Wirtschaftsblatt "Forbes" die Superminis, die kaum größer waren als eine Tiefkühltruhe. "Die IBM hat das Computergeschäft zweimal revolutioniert: 1964 mit der Ankündigung der /360, 1979 mit der Computerfamilie 4300."
In der Tat - die IBM 4300 bedeutet eine Revolution.

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