Es ist jetzt ein Jahr her, dass ich damit begonnen habe, mehr für mich selbst als für andere, über das zu schreiben, was im Zeichen der Pandemie mit uns geschieht. Fast jeden Tag habe ich daran geschrieben und ahnte irgendwann, dass es eine unendliche Geschichte werden würde. Viele kleinere Stories entstanden, sind heute noch Baustellen, die mit der Hauptstory noch zusammengefügt werden müssen. Das Ganze war so anstrengend und aufreibend, dass ich an der Journalyse so gut wie nichts mehr machen konnte. Nun bekommt die Story allmählich eine Struktur - und ich möchte mal das ein oder andere Sonderthema herausnehmen und hier veröffentlichen.
Internet & Interferon
Von Raimund Vollmer
Es war im November 1970, ein Jahr, nachdem das Internet als
ARPAnet an der Stanford University gestartet worden war. Die US-Regierung hatte
zwanzig privaten und staatlichen Forschungslaboratorien einen hochbrisanten Entwicklungsauftrag
erteilt. Es ging um „den Bau einer Bombe besonderer Art“ Mit diesen Worten stürzte uns der
Stern-Redakteur Ulrich Schippke in eine Zukunft, in der eine winzige „Plastik-Kapsel,
die – am Arm oder Bein unter die Haut geschoben – den Menschen mit einem Schlag
von allen Virus-Krankheiten der Welt befreien“ sollte. Wir sollten also genau
das bekommen, was in aktuellen Verschwörungstheorien dem Weltenretter Bill
Gates an ebenso bösen wie geheimen Absichten unterstellt wird.
Stand 1970 der Staat hinter dem Versuch, das Gegenmittel zu
allen Viren zu finden, so war es jetzt, 50 Jahre später, ein reicher Privatmann,
der sein Vermögen in der virtuellen Welt erworben hatte, einer Oberwelt, die –
zu Software transformiert – alles zu regulieren sucht. Würde er, dessen
Microsoft große Anstrengungen unternahm, um das Internet zu beherrschen, sich nun
auch noch der körperlichen Welt bemächtigen? Würde ihr auf Dauer alles, was
kreucht und fleucht, untergeordnet?
Alles war möglich, 1970 ebenso wie 2020. Jedenfalls in
unserer Phantasie. Damals war sie heiter und voller Träume, heute eher düster
und voller Traumata.
Medizin statt Mundschutz, das war vor einem halben
Jahrhundert das große Versprechen. Damals. Mit der Kapsel in der Achselhöhle oder
sonst wo würden wir sicher durch die kalten Jahreszeiten kommen. Die Praxen der
Allgemeinmediziner würden von Grippekranken verschont, die Ärzte könnten sich
endlich in aller Ruhe um ihre anderen Patienten kümmern – und müssten keine
Sorge haben, dass diese sich in den Wartezimmern auch noch gegenseitig
ansteckten. Bestimmte Krankheiten würden wir ganz einfach vergessen.
Das Wundermittel hieß Interferon. 1957 von dem Schweizer
Mikrobiologen Jean Lindemann (1924-2015) und dem Briten Alick Isaacs
(1921-1967) entdeckt, sollte es „wie von Zauberhand“ jeden Erreger besiegen. „Man
bekommt nie mehr Schnupfen, nie mehr Grippe – ein ganzes Bündel von
Krankheiten, ausgelöst durch mehr als 400 Virusarten, wird durch die Kapsel für
immer aus der Welt geschafft.“ So die Hoffnung des Stern-Reporters vor 50
Jahren.
Und wir glaubten ohne Arg der Wissenschaft und den Journalisten.
Schon die Entdeckung der Doppel-Helix, der DNA, 1953 durch
den Amerikaner James Watson und den Briten Francis Crick hatte nach
anfänglichem Zögern nicht nur die Fachwelt inspiriert, sondern die gesamte
Menschheit. Diese Entdeckung löste „Schockwellen“ aus und die Wochenzeitung
‚Die Zeit‘ nannte es die „Watson Crick-Bombe“.
Kleiner ging’s nicht. Ein wohliger Schauder erfasste uns angesichts dieser „Atome
der lebendigen Welt“, wie es die Zeitschrift „Cosmos“ 1964 nannte.
Sie bildeten immerhin die „Blaupause aller lebenden Kreaturen“, meinte 1988 der
‚Economist‘.
Die Biotechnologie war geboren und löste eine unglaubliche Aufbruchsstimmung
aus. Die Zeit war abzusehen, in der Menschen planbar wurden, genetisch
programmierbar, nicht mehr länger ein „Zufallsprodukt“
1976 wurde in San Francisco Genentech gegründet. Es war das
erste Biotech-Start-up, das zudem um Wirkstoffe wie Interferon herum
Risikokapital in Hülle und Fülle eingesammelt hatte.
Mitte der achtziger Jahre hatte das US-Unternehmen bei einem Umsatz von 130
Millionen Dollar einen Börsenwert von drei Milliarden Dollar.
(2009 kaufte dann der Schweizer Pharma-Konzern Hoffmann-LaRoche die Amerikaner
für 46,8 Milliarden Dollar.)
„Wissenschaft und Unternehmertum“, zwei Dinge, die sich
eigentlich gegenseitig ausschlössen, hätten zueinander gefunden, befand 1988
der ‚Economist‘. Vier Jahre zuvor hatte dasselbe Magazin vermerkt, dass der
Mensch nun zum ersten Male in seiner Geschichte in der Lage sei, „mit seiner
eigenen Natur zu spielen“.
Phantastisch. Der Bundesgerichtshof hatte sogar 1969 entschieden, dass es
keinen Grund mehr gäbe, „die planmäßige und nunmehr weitgehend beherrschbare
Ausnutzung biologischer Naturkräfte vom Patentschutz auszuschließen.“
Patente aufs Leben, höchstrichterlich erlaubt. Das Planspiel des Lebens hatte begonnen
und forderte Politik und Wissenschaft auf neue Weise heraus.
In Bonn bildete sich eine Enquete-Kommission, die die Folgen
der Gentechnik abschätzen sollte. Überall in der Welt wurde nachgedacht –
natürlich auch in den USA, dem Mutterland des Biotechs. „Die Gefahren der
Gentechnologie kommen mehr durch die Hintertür“, meinte 1988 der Amerikaner
Jeremy Rifkin (*1945), Gründer der Denkfabrik ‚Foundation on Economic Trends‘. „Das
Leben wird jedoch auch nicht besser. Der
Mensch wird modifiziert und vorhersagbar.“
Stattdessen scheint nun die Natur mit uns zu spielen. So
sind wir heute weitaus pessimistischer,
fast schon resignierend: „Das Virus ist Teil unseres Leben“, sagt der deutsche Virologe
Hendrik Streeck (*1977) im September 2020. Wir müssen uns mit ihm abfinden.
1970 war dies ganz anders. Es war das Jahr, in dem die
Biotechnologie ihren Triumphzug durch die Zukunft der Menschheit antrat und
alles, was vorher war, in den Schatten stellen wollte. Sie werde „dereinst
alles, was etwa Atomphysik oder Raumfahrttechnik hervorbrachten, zwergenhaft
erscheinen lassen“, zitierte ‚Der Spiegel‘ 1970 in einer Titelgeschichte
Charles D. Price, den vormaligen Präsidenten der Amerikanischen Chemischen
Gesellschaft, und das Magazin sprach selbst von einer „biologischen Revolution“.
In gewisser Weise sollte er Recht haben. Atomphysik und Raumfahrt ist es nicht
gelungen, die ganze Welt in die Knie zu zwingen. Das schaffte nun ein Virus.
Doch die Revolution fand nicht statt – jedenfalls gemessen
an den Verheißungen vor 50 Jahren: Geburt und Schwangerschaft müsste es demnach
seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr geben, eine künstliche Neubildung von
Organen und Gliedmaßen ist uns auch noch nicht wirklich gelungen. Wir haben zuhause
keine Mensch-Tier-Wesen, die für uns alle Drecksarbeiten erledigen. Es gibt
auch keine Maschinen-Menschen, die sogenannten Cyborgs, die uns gehorsam dienen
oder gar beherrschen. Unsere Erwartungen und Befürchtungen waren zu hoch. Es
gibt allenfalls Teilsiege.
So war es auch bei dem Zauberstoff Interferon. Risikokapitalisten
investierten Abermillionen in den Stoff, der nur sehr schwer zu gewinnen war,
wie die Pharmakonzerne und deren Wissenschaftler bald merkten. Da nützte ihr
ganzes Können und Geld nichts.
Ein Wundermittel wollte ihnen nicht gelingen. Mitte der achtziger Jahre – als
das Krebsmittel Alpha-Interferon auf den Markt kam – stritten sich die Konzerne
leidenschaftlich darum, wer als erster ein entsprechendes Patent bekommen hatte,
aber ein Patent auf alles hatte keiner.
Wenn man schon nicht alles liefern konnte, dann wollte man wenigstens behaupten
können, dass man der erste gewesen war, der ein „genetisch hergestelltes“
Produkt, es war das Alpha-Interferon, hatte patentieren lassen.
Ein halbes Jahrhundert nach dem entschlossenen Aufbruch wünschten
wir uns, es gäbe so etwas wie diesen Viren-Killer Interferon und er wäre so
allgegenwärtig wie das Internet. Tatsächlich probiert man derzeit diesen Killer
ausgerechnet an jener privaten Hochschule aus, an der auch das Internet
gestartet wurde: an der kalifornischen Stanford
University im Zentrum des Silicon Valley, in Palo Alto. Erfolgsversprechend
scheint es indes nicht zu sein.
Vielleicht entdecken wir dennoch ein Zaubermittel.
Tatsächlich wird Interferon heute zum Beispiel in der Krebs-Medizin und gegen
Grippe eingesetzt, der ganz große Knüller wurde es jedoch nicht.
Eins
wissen wir derweil ganz genau: Der Wunderglaube gehört zum Menschen wie die
Vernunft. Beide können sich irren. Und dann – ja dann – schlägt stets die große
Stunde der Institutionen, vor allem die des Glaubens, also der Kirchen, und die
der Vernunft, also die des Staates. Beide stellen sich fürsorgend und schützend
vor uns – und ersticken damit jede Rebellion. Vor allem aber schützen sie sich
damit selbst. Beide lebten bislang in dem Gefühl, eine Ewigkeitsgarantie zu
haben