Mittwoch, 16. Dezember 2009

Lochkartengeschichten: Das Loch und sein Inhalt

Von Hermann K. Reiboldt

Mal etwas anderes in Ihrer Journalyse

Mitarbeiter des VEB Robotron in Dresden, der führenden Computerfirma der Eastside, firmenintern auch Robotrott genannt, gründeten Anfang der siebziger Jahre ein Kabarett mit dem Namen „Die Lachkarte“. Der Name „Lachplatte“, der mehr über die Aktivitäten von Robotron ausgesagt hätte, wurde verworfen, weil Plattenspeicher in der DDR eher selten vorkamen.
Erich Honecker glaubte fest daran, dass die Lochkarte in der DDR erfunden wurde, weil ihm die Leute von Robotron das erzählt hatten und er behauptete deshalb ununterbrochen, dass die DDR an der Spitze des Fortschritts unterwegs sei. Die Wahrheit hat er wahrscheinlich nicht mehr erfahren. Dennoch kann man die Lochkarte durchaus mit der demokratischsten aller deutschen Republiken vergleichen, denn die DDR und die Lochkarte gibt es nicht mehr.
Über die Geschichte der DDR ist inzwischen alles gesagt, um die Geschichte der Lochkarte hat sich wie üblich keiner gekümmert. Es ist also an der Zeit, sich diesem Stück Pappe zu widmen, das im Wesentlichen aus viereckigen Löchern bestand, die von so genannten Locherinnen mit seltsamen Maschinen in die achtzig dafür vorgesehenen Spalten in den Karton gestanzt wurden, um dann von ebenso wundersamen mit Bürsten ausgestatteten Geräten gelesen zu werden. Andere Typen verfügten über neunzig Spalten und runde Löcher, konnten sich trotz des größeren Fassungsvermögens am Markt nicht durchsetzen, weil die rechteckigen Löcher von den Bürsten besser erkannt wurden. Tausend Lochkarten kosten sechs Deutsche Mark, die Mindestabnahmemenge belief sich auf 6.000 Stück, weil diese exakt in den Versandkarton passten.
Erfinder der Lochkarte war angeblich der Deutsch-Amerikaner Herman Hollerith, in der Branche auch als Hole-erith bekannt. Er kupferte das Lochkartensystem von einer Eisenbahngesellschaft im Wilden Wesen ab, die mit gelochten Fahrkarten blinde Passagiere identifizierte. Die erste vernünftige Anwendung der Lochkarte war eine Volkszählung Ende des 19. Jahrhunderts, mit der die Amerikaner feststellen wollten, wie viele sie eigentlich waren. Das Ergebnis stimmte nicht ganz, eine Entwicklung, die sich auch bei den späteren Einsätzen der Lochkarte fortsetzte, wenn clevere Buchhalter bestimmte Löcher mit Tesafilm zuklebten und dadurch passable Ergebnisse erzielten.
Ein wesentliches Feature der Lochkarte war der Eckenabschnitt. Diese praktisch nicht vorhandene Zusatzeinrichtung stellte sicher, dass sich beim Stapeln der Karten in den verarbeitenden Maschinen die Vorderseite nicht auf der Rückseite befand, was bei Karten ohne Eckenabschnitt durchaus passierte und zu falschen Auswertungen führten. In den Löchern selbst befanden sich zunächst nur die Ziffern 0 – 9, später wurden auch Buchstaben in den Öffnungen untergebracht. Außer Lochkarteneinsätzen im kommerziellen Bereich, gab es auch Anwendungen, an die Hollerith bei seiner Erfindung bestimmt nicht gedacht hatte.
Eine dieser Anwendungen erfanden pfiffige IBM-Mitarbeiter im Rahmen des ihnen vorgeschriebenen Dresscodes: Dunkelblauer Anzug, weißes Hemd, seriöse Krawatte und weißes Einstecktuch. Speziell letzteres sorgte immer wieder für Probleme, weil es trotz massiven Einsatzes von Hoffmanns Stärke in den Brusttaschen der Jacketts nicht die vorgeschriebene Höhe von einem Zentimeter über dem Taschenrand gewährleistete. Mit einer sauber geknickten Lochkarte ließ sich das Problem lösen und diese Methode sorgte dafür, dass alle IBMer wie aus dem Ei gepellt auftraten und alle ziemlich gleich aussahen. Bei dieser Applikation kamen sowohl gebrauchte, also gelochte, als auch neue Lochkarten zum Einsatz. Die dabei entstehenden Kosten hatten keinen Einfluss auf das Budget, weil die IBMer die Karten bei ihren Kunden mitgehen ließen. Weitere beliebte Einsatzgebiete der Lochkarte waren: Die Benutzung als Spickzettel bei Präsentationen, die Stabilisierung wackelnder Schreibtische und die Benutzung des früheren Inhalts der Löcher als Konfetti bei Kundenveranstaltungen und im Fasching. Heute gibt es keine Lochkarten mehr. Vielleicht sind noch ein paar dieser fossilen Speichermedien im IBM-Museum in Sindelfingen zu finden, das sich sinnigerweise in der früheren Lochkartendruckerei befindet. Dort gedenken verdiente und frühverrentete IBM-Mitarbeiter der goldenen Zeiten, als die Lochkarten millionenfach durch die großen grauen Kisten liefen und der IBM Millionen einbrachten.

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