Dienstag, 7. Mai 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 23) HEUTE: DIE BUNDESREPUBLIK (3)

 

Zukunft der Demokratie - Hamburg, 28. April 2024  (Foto: RV)

 

1974 – und das verlorene Jahrzehnt

Von Raimund Vollmer  

Anlässlich 75 Jahre Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik

(Aus aktuellem Anlass) 

Die Auseinandersetzung zwischen der Historikerin Hedwig Richter und FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube gingen am, Wochenende weiter – und sie sind schlichtweg nervig. „Wie viele Steaks verträgt die Demokratie?“ Unter dieser Überschrift gifteten sich am Samstag, 4. Mai 2024, die beiden Kontrahenten gegenseitig an. Auf den Leser wirkte es wie reine Rechthaberei. Es war noch nicht einmal amüsant, es war nur noch verächtlich. Schade. 

Beide verhaken sich ineinander – und werfen sich gegenseitig fehlendes demokratisches Verständnis vor. Tiefer geht es nicht. Denn das sind doch wohl beide: Demokraten.Und eigentlich bringen sich beide um eine Story, die uns viel mehr berührt als die Eifersüchteleien und Eitelkeiten dieser beiden Kontrahenten. Denn vor 50 Jahren standen wir an mehreren Wendepunkten.

Richter versucht, durch süffisante Wortgewalt  „wirkungsmächtig“ gegen die „ökologische Zerstörung“ aufzutreten, die nur gestoppt werden kann durch die große Enthaltsamkeit. „Disziplin ist die Schwester der Freiheit“, sagt sie, die vor ihrer großen Bekehrung mit einer eigenen, fröhlichen Kreuzfahrt selbst dazu beigetragen hatte, die Umwelt unnötig zu belasten: Nun meint sie: „Das Gute an der Demokratie ist, dass sie mit Zumutungen umgehen kann.“ Vor diesem Hintergrund sieht sie wohl auch die Fahrverbote von 1973: „Die vier autofreien Festtage dienten nicht primär dem Ziel, Energie einzusparen, sondern sie waren als Signal an die Bevölkerung gedacht: Achtet auf den Energieverbrauch!“ Die Zeit der Zumutungen hatte demnach begonnen. Nach dem 1972 erschienenen Bericht des Club of Rome wurden die „Grenzen des Wachstums“ in der "Bevölkerung" vor allem an der Endlichkeit der Ressourcen festgemacht, nicht so sehr an der "ökologischen Zerstörung". Und mit der Ölkrise wurde genau dies den Menschen vor allem vorgeführt. „Wenn Öl so teuer wie Whiskey wird“, titelte damals ‚Die Zeit‘.Die Frage hätte also sein müssen: "Wieviel Whiskey verträgt unsere Demokratie?"

Damals ging letztlich eine ganze Epoche zu Ende – und dieses Ende versammelte in diesem Schlussakt weitaus mehr, als die beiden Kontrahenten anführen. „Wirkmächtig“ waren noch ganz andere Faktoren. Die Ölkrise war nur der Auslöser dafür, dass sie uns bewusst wurde.

In den Kriegsjahren hatten die amerikanischen Bürger aus lauter Angst vor der Zukunft rund 250 Milliarden Dollar auf die hohe Kante gelegt. Geld, das mit der Kapitulation Deutschlands und Japans plötzlich wieder frei wurde und „die den Konsumausgaben zuflossen“, beschreibt 1988 der Wirtschaftswissenschaftler John Kenneth Galbraith (1908–2006) die Wirkung dieser immensen Summe: „Die solchermaßen verfügbaren Geldmittel verkehrten die praktisch allgemein vorhergesagte Nachkriegsrezession in eine beispiellose Hochkonjunktur, die sich selbst zu tragen begann, als die Verbraucher entdeckten, dass die Depression und die Arbeitslosigkeit, unter deren Drohung viele ihre Ersparnisse angehäuft hatten, gar nicht eintrat.“[1] Doch deren Wirkung, die ein Vierteljahrhundert stetig wachsenden Wohlstand erzeugt hatte, war zu Beginn der siebziger Jahre verpufft – und damit auch der Glaube an die Machbarkeit der Wirtschaftspolitik.

Dass eine Epoche zu Ende gegangen war, dafür stand vor allem das Jahr 1974.

Alles schmolz dahin. 1974 war das Jahr, in dem uns nach der Ölkrise das „Wirtschaftswunder“ ausgegangen war. Bei einem Anteil des Erdöls von 55 Prozent am Energieverbrauch in Deutschland traf die Preiserhöhung von zwei auf zehn Dollar je Barrel Staat, Wirtschaft und Gesellschaft völlig unvorbereitet. Die Wirtschaft schrumpfte – um ein Prozent. Der widersinnige Begriff des Minuswachstums kam auf.

– Alles hing an einem dünnen Faden. 1974 war das Jahr, in dem wir aus dem Paradies verstoßen wurden. „Angeregt von amerikanischen Wirtschaftsmethoden schufen die Europäer im 20. Jahrhundert eine genusssüchtige und rücksichtslose Überflussgesellschaft, in der jeder alles haben wollte – ohne zu erfassen, dass ihr ganzes Werk an einem dünnen Faden hing, dem vermeintlich ewigen und unerschöpflichem Erdöl“, schimpfte 1974 die Physikerin Irene Sänger–Bredt, die verheiratet war mit dem österreichischen Raumfahrtpionier Eugen Sänger (der als erster die Idee der Raumfähre in die Welt setzte).[2] „Wir haben in einem Narrenparadies ge­lebt“, verurteilte Paul Anthony Samuelson, Nobel­preis­träger für Na­tio­nal­ökonomie, die Energie­ver­schwen­dung des Westens und vor al­lem der USA, die mit der zweiten Explosion der Ölpreise 1979/80 vollends offenkundig wurde.[3]

– Alles zog sich zurück. 1974 war das Jahr, in dem sich die USA endgültig aus Vietnam verabschiedeten, aus dem „längsten Krieg, den Amerika je gefochten hat“, wie das britische Wirtschaftsmagazin 'The Economist' bemerkte.[4] Dieser Krieg, in den die Vereinigten Staaten 1959 hineingeraten waren und in dem 58.000 Amerikaner starben, hatte zu der „ärgsten binnenamerikanischen Konfrontation seit dem Bürgerkrieg“ ('Der Spiegel') geführt.[5]

– Alles war ohne Charisma. 1974 war das Jahr, in der ein Kanzler zurücktrat, den fünf Jahre zuvor eine gewaltige Aufbruchsstimmung ins Amt gebracht hatte. „Wir müssen mehr Demokratie wagen“, hatte 1969 Willy Brandt in seiner Regierungserklärung gefordert. 1974 trat er zurück – wegen eines Spions, der aus der Kälte einer Diktatur kam – und der Mann, der den Friedensnobelpreis bekommen hatte, dachte sogar an Selbstmord.[6]

– Alles verlor seine Faszination. 1974 war das Jahr, in dem Deutschland zwar Fußballweltmeister wurde. Im eigenen Land. Doch 20 Jahre nach dem Triumph von Bern sprach man nur noch von einem kleinen Wunder. Und hinter allem schwelte immer noch der Bundesliga-Skandal, von dem sich die Zuschauer – gemessen an den Besucherzahlen – erst zwanzig Jahre später nachhaltig erholen sollten.

– Alles wurde kleinlauter. 1974 war das Jahr, in dem die Ära der Hippies ausklang. Die 68er Generation spürte, dass sie mit ihrer Revolution sich selbst und alle anderen komplett überfordert hatte. Sie hatte den Umsturz aller bürgerlichen Lebensformen gewollt, doch nun musste sie akzeptieren, dass die Menschen dem nicht folgten.

– Alles war voller Misstrauen. 1974 war das Jahr, in dem die Sozialausgaben sich endgültig der Kontrolle durch jegliche Finanzplanung entzogen.[7] Es war die Zeit, in der der Glaube an die Lenkbarkeit der Wirtschaft durch die Politik schwand. 1974 näherte sich in der Bundesrepublik Deutschland „die Arbeitslosenzahl (...) einer Million“, und die Fachleute fragten sich: „Versagt die Konjunkturpolitik?“ Unter dieser Überschrift schrieb 1975 der Wirtschaftswissenschaftler Walter Hamm: „Das Misstrauen in die künftige Finanz- und Wirtschaftspolitik sitzt offensichtlich tief.“[8]

– Alles wurde unbeweglicher. Die „moderne Völkerwanderung“ (‚Die Welt‘) klang mit dem Abflauen der Konjunktur allmählich aus. Zwischen 20 und 30 Millionen Menschen hatten seit den fünfziger Jahren ihr Heimatland verlassen, um sich in einem anderen Land Westeuropas als Gastarbeiter zu verdingen. In der Bundesrepublik lebten allein 2,3 Millionen Gastarbeiter. Damit schien ein Höhepunkt erreicht. Jetzt herrschte Abwerbestopp.[9]

So scharf die Zäsur war, gänzlich unvorbereitet konnte man eigentlich nicht sein. „Die Grenzen des Wachstums“, hieß der Bestseller, in dem der Club of Rome bereits 1972 einen Zusammenbruch der Weltwirtschaft innerhalb der nächsten 100 Jahre vorhersah. Es war eine Studie, die zum ersten Mal in großem Stil aus dem Computer kam und mit spektakulären Katastrophen-Szenarien aufwartete.

Während der amerikanische Zukunftsforscher Alvin Toffler 1970 ganz im Stile eines Sokrates seine Erkenntnisse noch aus Gesprächen mit Hunderten von Menschen gewann und durch unzählige Beispiele in seinem Buch „Der Zukunftsschock“ belegte, war „The Limits to Growth“ bereits so etwas wie ein Big-Data-Projekt, bei dem mit Simulationen gearbeitet wurde. Das Ergebnis: „Spätestens im Jahre 2100 geht es zu Ende mit der Spezies Mensch“, resümierte damals die populärwissenschaftliche Presse die Erkenntnisse aus diesem Buch.[10]

Viel, viel früher, nämlich am 16. April 1986 um 12.00 Uhr, würde der Weltuntergang geschehen, hatte 1974 der österreichische Schriftsteller G.R. Steinhauser in seinem Roman „Unternehmen Stunde Null“ orakelt. Das Freizeitmagazin 'Hobby' hatte dem Thema eine ganze Serie gewidmet. Die Zeitschrift wollte auch nicht mehr in ihrem Untertitel „... die Zukunft miterleben“, sondern sie äußerte sich nur noch reichlich emotionslos und profan als „Magazin der Technik“.[11] 1991 stellte das Heft sein Erscheinen ein.

Jerome Wiesner, Präsident des legendären Massachusetts Institute of Technology (MIT), forderte 1973 ein „Frühwarnsystem“, mit dem sich der Mensch gegen die Auswirkungen seiner eigenen Erfindungen wappnen solle.[12] Als dann das „OPEC–Kartell“ 1973/74 den Ölhahn zudrehte und die Weltwirtschaft in eine „ewige Stagnation“ ('The Economist')[13] zu treiben schien, sprach Theo Sommer in der Wochenzeitung 'Die Zeit' bereits von einer „Opecalypse“.

Die siebziger Jahre erschienen vielen als das verlorene Jahrzehnt. Es war der Sturz aller Hoffnungen. „Sind wir am Ende aller Religion?“ So fragte 1975 der Dominikanerpater Anselm Hertz in der 'Süddeutschen Zeitung'.[14] Ging mit dem Verfall der Religion auch der Sturz des Menschen einher?  Waren wir noch zu retten?

Bisher waren wir das noch immer, oder? 

BISHER ERSCHIENEN


Teil 1: Der Zukunftsschock  // Teil 2: Der Sturz des Menschen // Teil 3: Das Prinzip Verantwortung //Teil 4: Fehler im System // Teil 5: Goethe und der Maschinenmensch // Teil 6: Unter dem Himmel des Friedens // Teil 7: Auf dem Weg ins Wolkengooglesheim // Teil 8: Die Seele und der Prozess // Teil 9: In diktatorischer Vertikalität // Teil 10: Über das Über-Über-Ich // Teil 11: Die demente Demokratie // Teil 12: Welt der Befehle // Teil 13: Fridays sind für die Future // Teil 14: Das Systemprogramm // Teil 15:  Die alltägliche Auferstehung // Teil 16: Vater User, der Du bist im Himmel // Teil 17: Der Prozess // Teil 18: Unter Zeitzwang // Teil 19: Die Uran-Maschine und das Jetzt // Teil 20: Die digitale Stallfütterung // Teil 21: Die unpolitische Politik  // Teil 22: Verordnung statt Ordnung // Teil 23: 1974 - Das verlorene Jahrzehnt // Teil 24: Die Pandemokratie //  Fortsetzung folgt


6 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Opfere den Bart, um den Kopf zu retten.
Deutsches Sprichwort

Besserwisser hat gesagt…

Nur kurz die Welt retten
Aus einem Lied von Tim Bendzko
...
Die Zeit läuft mir davon
Zu warten wäre eine Schande für die ganze Weltbevölkerung
Ich muss jetzt los, sonst gibt's die große Katastrophe
Merkst du nicht, dass wir in Not sind?

Ich muss jetzt echt die Welt retten
Danach flieg' ich zu dir
Noch 148 Mails checken
Wer weiß was mir dann noch passiert, denn es passiert so viel!
...

Analüst hat gesagt…

Aus aktuellem Anlass:
"Grau is' im Leben alle Theorie – aber entscheidend is' auf'm Platz."
Alfred „Adi“ Preißler

Anonym hat gesagt…

Ausgangspunkt des unerfreulichen Richter-Disputs waren ihre geschichtsfälschenden Pirouetten zur Ölkrise. Sie nimmt eine Ursache um dann in einer Art Grimm'schen Fleischwolf ein Fabrikat eigener Zutaten- und Rezeptküche zu erzeugen.
Mehr kann man einer Historiker-in nicht vorwerfen.
Und unter der Steak-Headline begeben sich beide auf ein Niveau, das mal wieder zeigt, dass Sandkasten und Intellekt phänomenologisch in nachbarlichen Hirnarealen angesiedelt sind - wie das Feuilleton ja öfter spiegelt.
Es gibt kaum Schlimmeres, als wenn Historikerinnen sich auf eine Kreuzfahrt begeben, die Käpt'ns Dinner Erlebnisse, Kaffeesatz, Selbsüberzeuging, Gegenwart, Geschichtliches mit unkontrollierter Phantasie verwirbelt.

Anonym hat gesagt…

An das Baby

Alle stehn um dich herum:
Fotograf und Mutti
und ein Kasten, schwarz und stumm,
Felix, Tante Putti …
Sie wackeln mit dem Schlüsselbund,
fröhlich quietscht ein Gummihund.
»Baby, lach mal!« ruft Mama.
»Guck«, ruft Tante, »eiala!«
Aber du, mein kleiner Mann,
siehst dir die Gesellschaft an …
Na, und dann – was meinste?
Weinste.

Später stehn um dich herum
Vaterland und Fahnen;
Kirche, Ministerium,
Welsche und Germanen.
Jeder stiert nur unverwandt
auf das eigne kleine Land.
Jeder kräht auf seinem Mist,
weiß genau, was Wahrheit ist.
Aber du, mein guter Mann,
siehst dir die Gesellschaft an …
Na, und dann – was machste?
Lachste.
Kurt Tucholsky

Anonym hat gesagt…

Beu Ideen ist die Säuglingssterblichkeit besonders hoch.
Felix Perelzstein