Praktische Politiker sind Menschen, welche die Kunst meistern, das
Parlament dazu zu benützen, zu verhindern, dass irgendetwas fertiggebracht
werde.“
George Bernhard Shaw (1856-1950), irischer Autor
Ohne Dich & Mich
„Die EU ist eine Schöpfung, die so ganz anders ist: Weder ein Superstaat, noch ein föderaler Bundesstaat, noch eine zwischenstaatliche Regierungsorganisation, kommt sie dem dritten allerdings am nächsten, bei dem die Nationalstaaten die Akteure bleiben“, analysierte 2007 der durch und durch europafreundliche ‚Economist‘. „Vor diesem Hintergrund liegt das Versagen der Demokratie darin, den Bürgern nicht klargemacht zu haben, was hinter den Entscheidungen steht und wie sie diese beeinflussen können. Das sollte doch einfach sein angesichts der Tatsache, dass der Ministerrat von den nationalen Regierungen gestellt wird.“ Doch damit würden die Bürger in heiliges Bürokraten-Territorium vordringen. Immerhin hätten, so das Magazin 2007, schätzungsweise 80 Prozent der Gesetze, die unsere Parlamente erlassen, ihren Ursprung in Brüssel – eine Behauptung, der man 2021 wohl auch kaum widersprechen kann.[1]
Die Macht der Bürokraten scheint undurchdringlich. So stehen auch auf nationaler Ebene hinter den Fachministern des Ministerrats die heimischen Beamten, die Experten. Sie bestimmen den Kurs. Schon 1989 warnte der damals scheidende Vizepräsident der EG-Kommission, Karl-Heinz Narjes (1924-2015), vor diesem „bürokratischen Establishment“, das den Ministern ein enges Korsett anlegt: „Sobald die Themen etwas komplizierter werden, sind die Minister zunehmend an ihre Amtsvorlagen gebunden und wagen nur begrenzt, davon Abstand zu nehmen“. Sie sind die Sklaven der Verfahren. Angewiesen auf dieses Establishment, seien die Minister nur deren „Sprachrohr“, die sich noch nicht einmal mehr trauen, ihre eigentliche Meinung kundzutun.[2]
Das Erfolgsrezept besteht darin, dass alles, was die Bürokratie anfasst, autodynamisch kompliziert wird. Das eint die Bürokratie gegen alles. Sie ist das eigentliche Europa. „Es scheint so, dass es ein noch nicht formuliertes Naturgesetz gibt, das aussagt, dass die Menschen immer jenem System zuneigen, das die größte Bürokratisierung ermöglicht“, lästerte 1994 Chargaff. [3] Der Satz stimmt noch heute.
Es sind die Dänen, die einen Weg gefunden haben, es den Eurokraten etwas schwerer zu machen. Dort müssten jeden Freitag die jeweils betroffenen Minister einem parlamentarischen Ausschuss Rede und Antwort über das stehen, was sie in der folgenden Woche in Brüssel verhandeln wollten und sich ein entsprechendes Mandat geben lassen. Gäbe es spontane Änderungen während der Verhandlungen, würden die Abgeordneten im Ausschuss sofort reagieren. So berichtet der ‚Economist‘' und meint, dass es funktionieren würde und den Dänen ein besseres Gespür verleihen würde, ihr Engagement in der EU zu verstehen. Es ist vor allem aber eine Stärkung des eigenen Parlaments. Schaut man sich die deutschen Praktiken an, erscheint da die Mitwirkung des Bundestages mit seinen Ausschüssen sehr viel umständlicher, weniger couragiert und ambitioniert, kurzum: sehr brav und am liebsten sogar sehr distinguiert. Eine feine Gesellschaft, vielleicht sogar ein bisschen feige.
Die EU ist seit ihren Anfängen eine Gemeinschaft, keine Gesellschaft. Eine europäische Gesellschaft gibt es nur als Rechtsform, als Firmenmantel, wie Google uns mit 133.000 Treffern überzeugt. Wir, die Bürger, existieren eigentlich gar nicht. Wir bilden uns das nur ein. Es ist immer weniger unsere EU. „Europa war immer ein Elite-Projekt“, spiegelte 2007 der ‚Economist‘ das im Prinzip bis heute vorherrschende Selbstverständnis wider.[4] Es herrscht auf der EU-Ebene die reine Exekutiv-Demokratie, dokumentiert in 80.000 Seiten Paragraphen, denen sich zum Beispiel ein neues Mitglied unterwerfen muss.[5] Sie sind das Lebenselixier der Union. Schon Karl Marx hatte 1852 von der „verselbständigten Macht der Exekutivgewalt“ gesprochen, erinnert uns der Historiker Heinrich August Winkler (*1938) daran, dass „die Kommission wie der Rat immer wieder den Eindruck haben aufkommen lassen, sie agierten in einem luftleeren Raum.“[6]
Urteilt Martin Nettesheim im Juni 2021: „Die EU stützt sich weiterhin nicht auf eine europäische Bürgerschaft, die als politische Gemeinschaft freier Gleicher über sich selbst bestimmen.“ Die Gemeinschaft sind immer andere, nicht wir, die Bürger.
Das kam 2018 auch in einem französisch-deutschen Manifest zum Ausdruck, das Wissenschaftler beider Länder formuliert hatten. Sie forderten darin eine „demokratische Renaissance“ auf allen Ebenen des politischen Lebens. Ohne sie würden „die ‚führenden Eliten‘ sich weiterhin den reichhaltigen und unterschiedlichen Erfahrungen aus dem Alltagsleben der Menschen verschließen und daraus eine Beute der Demagogen werden lassen“.[7]
In dieser Position sind sich alle mit der EU verbundenen Institutionen irgendwie einig: die Bürgerschaft hat nichts zu sagen. Der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930-2019) mahnte bereits 1995 an, dass Europa „auf absehbare Zeit zu wenig emotionale Identifikationsmöglichkeiten“ biete, um so etwas wie eine nationale Identität zu ersetzen.[8] Die Zeit, in der das anders werden könne, ist immer noch nicht absehbar.
„Von einem Europa der Herzen hört man nur selten sprechen“, meinte 1988 der französische Schriftsteller André Weckmann (1924-2012). „Wäre dies aber nicht die einzige zukunftsweisende Definition, die einzige, die den Menschen direkt anspricht, anstatt ausschließlich Sache der Strukturen, der Macher zu sein?“[9] Eine damals wie heute gültige Frage: Nur beantworten müssten wir sie eigentlich selbst. Denn die Eurokraten werden niemals ein solches Thema aufgreifen – weil es ihre natürliche Kompetenz deutlich überschreitet.
Der Union fehlt die Seele, die Gesellschaft, die inspirierende Vielfalt. Stattdessen haben wir nur eine mehr oder weniger gut geölte Abstimmungsmaschine. In ihr sind wir aber gut und untertänigst aufgehoben. Ansonsten gilt: Klappe halten. Das Wort hat die PR. Die EU hat sich bestens eingegoogelt. Abfragen führen immer nur in deren Gemeinschaft, nicht in unsere Gesellschaft.
Wir sind unerwünscht in dieser grauen Welt. Das wurde zum Beispiel im Jahr 2000 deutlich, als der SPD-Politiker und EU-Kommissar Günter Verheugen mit Unterstützung der Grünen großherzig vorschlug, die Osterweiterung der EU in Deutschland per Volksentscheid bestimmen zu lassen. Prompt wehrte sich das Establishment mit Händen und Füßen dagegen. In puncto „Gemeinschaft“ haben wir nichts zu sagen. Die Kritik gipfelte in der Aussage der damaligen EU-Abgeordneten Dagmar Roth-Berendt (*1953): „Ich halte Volksentscheide für ein Zeichen von Schwäche und auch nicht ein Zeichen von Demokratie“.[10] Was aber sind dann Zeichen von Demokratie? Elitenbildungen? Heute ist die SPD-Politikerin Mitglied der Ethikkommission der EU-Kommission. Prima. Man bleibt unter sich. Gemeinschaft der Scheinheiligen.
Wer damals die Stimmen der Politiker studierte, wird sehr schnell ahnen, dass mit jedem Tag für ein Volk wie die Briten ein Ausstieg immer unausweichlicher wurde. So ehrwürdig und ehrlich die Grundrechte-Charta, die am 7. Dezember 2000 auf dem EU-Gipfel in Nizza proklamiert worden war, dem Bürger auch erscheinen mag, rechtskräftig wurde sie erst 2009 mit dem Lissaboner Vertrag.
Viele Briten sahen bereits zur Jahrtausendwende in der Charta einen weiteren Eingriff der EU in ihr Selbstbestimmungsrecht. Statt eines Europas der Vielfalt würde eines der Uniformität entstehen, meinte der prominente konservative Politiker Francis Maude (*1953), der die Grundrechte als Basis für die Errichtung eines „einzigen europäischen Superstaates“ sah.[11] Als dann 2005 die Bürger in Frankreich und den Niederlanden die EU-Verfassung per Referendum ablehnten, wurde deutlich, dass sich die Menschen mit dieser abgehobenen Bürokratie nicht identifizierten. „Zehnmal dicker als die amerikanische Verfassung“ (‚Die Welt‘) zeugte das Opus bereits in seinem Volumen, wessen Geist es war.[12]
In Deutschland war ein Volksentscheid erst gar nicht in Frage gekommen – wahrscheinlich, weil Politiker offenbar befürchteten, dass dies wieder als ein Zeichen von Schwäche ausgelegt worden wäre – ein Gedanke, den nur sie selbst hegen. Volksentscheide sind demnach, aller Schweiz zum Trotz, einfach kein Zeichen von Demokratie. Deshalb hat man uns Deutschen auch verwehrt, über solche elementaren Dinge wie eine Verfassung oder eine Währung mitzuentscheiden. Wenn Politiker diese Verweigerung dann im Nachhinein, wenn alles entschieden und in trockenen Tüchern ist, als einen Fehler sehen, dann hat das schon etwas Zynisches an sich. Die Politik vertraut mehr der Bürokratie als dem Wähler – oder sich selbst. Mit steigender Tendenz. Das Ganze hat Methode, ist Methode, die bis in die regionalen Parlamente greift. Am einfachsten ist sie in unserem Bundestag zu sehen.
14 Kommentare:
Die EU lockert die Umweltauflagen für Bauern – konsequent sieht anders aus
.....weil die von der Leyen wieder gewählt werden will.
Die Brüsseler EU-Bürokratie ist wie der zäh fließende Strom von süßem Brei, der die pfiffigen Esser am Rande gut ernährt, aber sonst alles in seinem Weg unbarmherzig verschlingt.
.....Ich meinte den fließenden Breistrom im Schlaraffenland.
Martin Nettesheim hat Meta Plattforms, vormals Facebook, zur Umgehung der DSGVO über eine angeblich "vertragliche" Pflicht zur Bereitstellung von Werbung beraten und auch im Interesse von Meta entsprechend publiziert. Im Urteil C-252/21 (Bundeskartellamt) wurde diese Umgehung der DSGVO vom EuGH verworfen.
Nachtrag: Prof. Martin Nettesheim (* 17. April 1964 in Stuttgart) ist ein deutscher Rechtswissenschaftler und Experte im Europa- und Völkerrecht sowie im deutschen Staats- und Verfassungsrecht.
....und Beamter!
Wenn man mit Politikern spricht, wird immer wieder darauf verwiesen, dass die (sonderlichen und Detail-)Initiativen regelmäßig aus den Ländern kommen (von Lobbyisten getriggert).
Häufig wird auch der Weg direkt nach Brüssel gewählt, als mühsam über eine Landespartei und Landesregierung (und Koalitionen) verfolgt zu werden.
Wenn man seine Straßburger Parteifamilie hinter sich weiß, geht's schneller. Grüne und Linke sind darin Spezialisten.
Ist Nettesheim Beamter? Dann müsste er ja dem Staate dienen 🧐
Am 4. Oktober 2023 wurde Nettesheim jedenfalls zum neuen Vorsitzenden der Staatsrechtslehrervereinigung gewählt. Mit ihm hat zum sechsten Mal (von insgesamt 40 Vorsitzenden) in der nunmehr 101-jährigen Geschichte der Vereinigung ein Tübinger Staatsrechtslehrer den Vorsitz inne. Frühere Vorsitzende aus Tübingen waren Carl Sartorius, Adolf Schüle, Otto Bachof, Martin Heckel sowie Thomas Oppermann.
"Ich erinnere mich, Richard von Weizsäcker zugestimmt zu haben, der damals hervorhob, es sei nicht Aufgabe des Bundeskanzlers, für den Bürger den Sinn des Lebens zu stiften. Die geistige und moralische Grundlage unserer Gesellschaft liegt allein in den unveränderlichen Grundrechten des Grundgesetzes, insbesondere im Prinzip der Unantastbarkeit der Würde des Menschen.
Die Regierung darf Orientierung nur hier, nicht aber an anderen Orten und in anderen Gefilden suchen."
Helmut Schmidt Außer Dienst
München 2008
Als Professor ist er regulär Beamter - auch nach seiner Pensionierung.
Wehrlosigkeit bringt uns nicht den Frieden
" .....Eine andere Grundtatsache: Die einzigen Streitkräfte, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs europäische Grenzen überschritten und die Souveränität europäischer Staaten - im übrigen in allen Fällen eigener Verbündeter - , verletzt haben, waren sowjetische und osteuropäische Armeen. Die einzigen Panzer, die in der Nachkriegszeit in europäischem Städten geschossen haben, waren sowjetische Panzer. (Schily/GRÜNE: Hat die Geschichte erst 1945 angefangen, Herr Wörner?)
Das zeigt, die Spannungen zwischen Ost und West sind nicht in den Raketen begründet, sondern in dem Gegensatz von Freiheit und Diktatur. Der Frieden ist nicht bedroht weil es Waffen gibt, sondern weil es Mächte gibt, die diese Waffen zu politischen Zwecken oder zur Eroberung einsetzen. ........
Bundesverteidigungsminister Dr. Manfred Wörner am 15. Juni 1983 (Bundestagsprotokoll) Quelle: 50 Reden aus dem Bundestag Hrsg. Dietrich Rollmann
Wir können den Wind nicht reden aber die Segel anders setzen
Sprichwort
Nicht drehen! So sollte das heißen
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