Mittwoch, 1. Mai 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 20) HEUTE: Zum Tag der Arbeit

 

Die digitale Stallfütterung

»Arbeit ist wichtiger als Lohn.«

Ruud Lubbers (1939–2018), niederländischer Ministerpräsident

 

Von Raimund Vollmer 

 

Es war 1989 auf der Computermesse CeBIT in Hannover. Die Profis waren unter sich. Das war keine Konsumermesse, noch nicht einmal auf dem Weg dahin. Hier ging's ums große Ganze und ums ganz Große. Alles Chefsachen. Alles strategisch. Große Projekte. Große Institutionen. Große Budgets. Ganz großes Kino. So hielt denn auch niemand anders als der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Heinrich Franke, einen launigen Vortrag zum Turbo–Thema „Informationsgesellschaft: Fortschritt durch Wandel“. In ihm pries der Chef von 60.000 Beamten und anderen Profis die schnittige IT seiner Megabehörde. „Jeden Abend gegen 22 Uhr“ würden seine Computer-Systeme alle 146 Arbeitsämter im Land elektronisch abklappern, um Änderungen in den Zahlungsmodalitäten an die Arbeitslosen abzurufen. So sei dafür gesorgt, dass am nächsten Tag allen Betroffenen der Betrag „mit gleicher Wertstellung“ bargeldlos überwiesen werde.

Applaus. Super. So viel professionelle Effizienz schätzen wir. Software bringt Kohle. Vor allem den damals zwei Millionen (heute 2,6 Millionen) Arbeitslosen, den Nutznießern dieser Software.

Doch das schnelle Geld lindert und mindert weder heute noch damals das eigentliche Übel: die Arbeitslosigkeit, die das bundesrepublikanische Deutschland seit Mitte der siebziger Jahre durch Boom & Bust quält. Ein hartnäckiges Problem,  das nur denen Arbeit verheißt, die ohnehin schon zu viel davon haben, nämlich den Softwarewerkern. Bei einem Fehlbestand von 40.000 Informatikern in der Bundesrepublik mussten sie sich im März 1989 – wenige Monate vor dem Mauerfall – um ihre Jobs ohnehin keine Sorgen machen.[4] Wenn doch, dann wäre das allörtliche Arbeitsamt allerdings die allerletzte Stelle, bei der sie um Angebote nachfragen würden. Nur 20 Prozent aller Vermittlungen gingen überhaupt übers Arbeitsamt. Die Unternehmen meldeten nur 30 Prozent ihrer offenen Stellen der Behörde.[5]

 

1972: »In einer Industriegesellschaft wird die uneingeschränkte wirtschaftliche Freiheit von Individuen und Gruppen sozial unerträglich.«

Arnold Toynbee (18891975), britischer Historiker[1]

 

Nun gut, schweigen wir darüber! Hören wir Franke weiter zu! Stürzen wir uns in sein Amt.

Hier herrschte fortan nur noch Raum für eine „komfortable Stallfütterung“, wie der Ökonom Wilhelm Röpke (1899–1966), Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft, den alles Leid besänftigenden Wohlfahrtsstaat nannte, in dessen Zentrum die größte aller Behörden steht: das Arbeitsamt, das Job–Center, eine mächtige Institution, die sich in den achtziger Jahren im ganzen Land mächtig ausgebereitet und prächtig herausgeputzt hatte. Überall hatte die Bundesanstalt ihre Filialen erneuert, moderne Gebäude errichtet, modernste Geräte angeschafft. Ja, sie war selbst einer der größten Arbeitgeber und – gemessen am Geldbedarf – 1989 so groß wie damals der Siemens–Konzern oder der Automobilgigant VW.[6] Lässig würden die Ausgaben der Behörde, wären sie Umsatz, in die Liste der 'Top Ten' Europas passen.

 

Die digitale Geldfütterung war indes längst nicht die einzige Erfolgsmeldung, die Franke seinen Zuhörern präsentierte: „Lange Stempelgeldempfängerschlangen wie am Ende der 20er und am Anfang der 30er Jahre gibt es nicht mehr“, berichtete er stolz über einen angenehmen und auch noch systemstabilisierenden Nebeneffekt. Vorbei sei es endgültig mit dem entwürdigenden, nervenaufreibenden Schlangestehen vor den Arbeitsämtern. 'Full–Service' für die Arbeitslosen, die fortan wie Kunden behandelt werden sollten. Für ihn, seine Behörde und den Staat war indes noch etwas anderes ganz wichtig. Franke: „Man muss sich einmal das Hetzpotential für extreme Gruppen – wer auch immer das ist – vorstellen, wenn lange Stempelgelderempfängerschlangen vor den Arbeitsämtern stünden. Das ist ein enormer Beitrag zur Staatsstabilität, ausgehend von sozialer Stabilität.“[7]

Beifälliges Nicken. War das nicht wunderbar? Software sichert Welfare Die Systeme leisteten sogar etwas, das gar nicht in sie hineinprogrammiert worden war! Kurzum: Software bringt immer mehr. Auch wenn man's nicht sieht. Das grenzt ja fast an Künstlicher Intelligenz, diesem Stoff, von dem heutzutage jeder redet, den aber keiner wirklich sieht, obwohl jeder mitwebt. Wie des Kaisers neue Kleider, wie das Bürgergeld, das das harte Hartz-IV verdrängt. Man muss bnur etwas umbenennen und schon ist alles anders. Traumhaft. 

 

1989: »Nichts verändert die Gesellschaft in all ihren Äußerungsformen und auf allen Ebenen so sehr wie die Technik. Deshalb dürfen wir sie nicht den Technikern und den Ökonomen überlassen.«

Bernd Guggenberger (*1949), deutscher Politikwissenschaftler[2]


Das Problem, also die fest etablierte Arbeitslosigkeit, wurde in die Medien, ins Fernsehen, in die Mutter aller Konsumtempel, verbannt. Hier erschien sie nur noch als technische Zahl, produziert und allmonatlich ausgespuckt von den Computern des Herrn Franke, über die Magie der Medien direkt verteilt in die Wohnzimmer der Menschen. Sie nahmen sie hin. Kalt und emotionslos, wer nicht betroffen war. Ohne viel Mitleid. Die Digitalisierung der Behördenprozesse änderte zwar nichts am Ergebnis, automatisierten nur die Verfahren, aber die Bundesrepublik Deutschland hatte die digitale Stallfütterung der zwei Millionen Arbeitslosen entdeckt. [8] Und sie funktioniert offenbar perfekt.

Auf rund 60 Milliarden Mark an „gesamtfiskalischen Kosten“ belief sich 1988 das Ausgabenvolumen des Staates für die Erwerbslosen. Eine große Zahl, die jedem Betroffenen im Jahr fast 27.000 Mark brachte – und der Behörde die Zukunft sicherte.[9] Denn auch 30 Jahre nach Frankes Vortrag, dem Fall der Mauer und der großen Finanzkrise, sind immer noch mehr als zwei Millionen Menschen in Deutschland ohne Arbeit.[10] Die Kosten der Arbeitslosigkeit bezifferte 2019 das zur Bundesagentur gehörende 'Institut für Arbeitsmarkt– und Berufsforschung (IAB)'  auf insgesamt 53,1 Milliarden Euro.[11] Für 2022 wurden sie mit 60 Milliarden Euiro angegeben. Es ist unvorstellbar viel Geld, das – unsichtbar für uns – durch die Systeme läuft und läuft und läuft. Ja, wäre die Bundesagentur eine Firma, dann läge sie in der aktuellen Liste der  'Fortune 500' im oberen Drittel der größten Unternehmen der Welt. 

 

1988: »Bald wohnt Gott im Computer«

Überschrift in der Tageszeitung 'Die Welt'[3]

 Bisher erschienen:


Teil 1: Der Zukunftsschock  // Teil 2: Der Sturz des Menschen // Teil 3: Das Prinzip Verantwortung //Teil 4: Fehler im System // Teil 5: Goethe und der Maschinenmensch // Teil 6: Unter dem Himmel des Friedens // Teil 7: Auf dem Weg ins Wolkengooglesheim // Teil 8: Die Seele und der Prozess // Teil 9: In diktatorischer Vertikalität // Teil 10: Über das Über-Über-Ich // Teil 11: Die demente Demokratie // Teil 12: Welt der Befehle // Teil 13: Fridays sind für die Future // Teil 14: Das Systemprogramm // Teil 15:  Die alltägliche Auferstehung // Teil 16: Vater User, der Du bist im Himmel // Teil 17: Der Prozess // Teil 18: Unter Zeitzwang // Teil 19: Die Uran-Maschine und das Jetzt // Teil 20: Die digitale Stallfütterung // Teil 21: Die unpolitische Politik  // Teil 22: Verordnung statt Ordnung // Teil 23: 1974 - Das verlorene Jahrzehnt // Teil 24: Die Pandemokratie //  Fortsetzung folgt

 


22 Kommentare:

Analüst hat gesagt…

Sinnvolle Arbeit ist wichtiger als Lohn. Das Adjektiv darf man nicht schlabbern!

Besserwisser hat gesagt…

Arbeitslose in Zeiten des Fachkräftemangels: Paradoxon, Oxymoron oder Contradictio in Adiecto???

Anonym hat gesagt…

Ein Mensch hat ausser Redensarten,
Nicht mehr viel Schönes zu erwarten.
Eugen Roth Hanser 2002

Anonym hat gesagt…

Ein Mensch, der mit Descartes gedacht,
Dass Denken erst das Leben macht,
Gerät in Zeiten, wo man Denker
nicht wünscht - und wenn, dann nur zum Henker.
Er kehrt den alten Lehrsatz um
Und sagt: non cogito, ergo sum!
Eugen Roth Hanser 2002

Anonym hat gesagt…

Ein Mensch lebt noch mit letzter List
In einer Welt, die nicht mehr ist.
Ein andrer, grad so unbeirrt,
Lebt schon in einer die erst wird.
Eugen Roth Hanser Verlag

Anonym hat gesagt…

"So hört nun auf! / Und nicht länger mehr weckt Totenklagen./
Denn vollgültig stehen diese Dinge in in Kraft nun."

Schlusschor Ödipus auf Kolonos
von Sophokles 497 - 406 v.Chr.

Raimund Vollmer hat gesagt…

Waren es 1989 60.000 Mitarbeiter bei der Bundesagentur, so sind es heute 100.000...

Besserwisser hat gesagt…

Zur Ehrenrettung der Behörde muss man sagen: Zwischen 1989 und heute gab es für die Behörde auch noch die Wiedervereinigung und es sind jede Menge Paragraphen hinzugekommen.
ABBA der Computer und die seinerzeit hochgelobte Software konnte das nicht kompensieren, geschweige denn überkompensieren

Anonym hat gesagt…

Alte Zeiten, linde Trauer,
Und es schweifen leise Schauer
Wetterleuchtend durch die Brust.
Eichendorff

Anonym hat gesagt…

Und die Lieb auch heftet fleißig die Augen,
Was bleibt aber stiften die Dichter.
Friedrich Hölderlin Andenken

Anonym hat gesagt…

...und Computer dazugekommen....
....und Formulare dazugekommen

Anonym hat gesagt…

Wohltätigkeit ist das Ersaufen des Rechts im Mistloch der Gnade.
(J.H. Pestalozzi)

Anonym hat gesagt…

Robert Musils Diagnose: "Wir irren vorwärts", ist nicht vollständig. Wir irren auch rückwärts. 

Anonym hat gesagt…

Ich irre auch seitwärts. Mein letzter Seitensprung war ein großer Irrtum.

Anonym hat gesagt…

Irren ist menschlich –
computerunterstütztes Irren chaotisch.
Willy Meurer (1934 - 2018), deutsch-kanadischer Kaufmann und Publizist

Anonym hat gesagt…

Ohne einer von den wütenden Demokraten zu sein, die nur immer aufs Geratewohl umstürzen wollen, bin ich doch von der fehlerhaften Einrichtung mancher unserer Verhältnisse in Deutschland, bin ich doch von der Wahrheit überzeugt, dass wir, so lang keine allmähliche Verbesserung erfolgt, so lange unsere Erziehung und Lage so bleibt, wie sie gegenwärtig ist, unsere Bestimmung verfehlen.
Georg Friedrich Rebmann 1793 Mainz

Anonym hat gesagt…

Der menschliche Geist lässt sich nicht so einzwängen, wie der Fuß einer Petitmätresse in einen Modeschuh.
Ders. 1795

Anonym hat gesagt…

Ich denke mir Moral nur als zweckmäßige, auf Vernunft und Erfahrung gegründete Anweisung zum weisen Genuß des gegenwärtigen Lebens.
Wilhelm Ludwig Wekhrlin 1788
Mainz

Anonym hat gesagt…

Verständnisfrage: was ist eine Petitmätresse??

Anonym hat gesagt…

Junge Mätresse.
In den (ehem.) französisch besetzten Rheongebi

Anonym hat gesagt…

...besetzten Rheingebieten sprach man französisch-deutschen Mischmasch.
Ohnehin beim Adel und gehobenem Bürgertum französisch.

Anonym hat gesagt…

Die mit dem dicken Portemonnaie 😉