23. Mai 1949: »Heute wird nach der Unterzeichnung und der Verkündung des Grundgesetzes die Bundesrepublik Deutschland in die Geschichte eintreten!“«
Konrad Adenauer (1876-1967), erster deutscher Bundeskanzler und Präsident des Parlamentarischen Rates
Anlässlich 75 Jahre Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik
Demokratie unser
Waren
wir mit der Verkündung des Grundgesetzes vor 75 Jahren bereits eine Demokratie? Wohl kaum, aber wir waren auf dem Weg dahin. Hoffentlich entfernen wir uns nicht davon in den nächsten 75 Jahren...
Noch in den 68er Jahren hatte der deutsche Literaturwissenschaftler Peter Szondi (1929-1971) befürchtet, „dass die Demokratie in Deutschland im Grund weder von den autoritären Tendenzen der Regierung noch von den anarchischen in gewissen Kreisen (z.B. bei einigen hundert Berliner Studenten) gefährdet ist, sondern primär durch die Tatsache, dass Demokratie hier immer noch ein Schlagwort ist.“[1] Demokratie – für uns nur ein Schlagwort? Irgendwie glaubten wir in den vergangenen 75 Jahren, dass wir dies irgendwann überwunden hätten.
Doch nun liegt der Verdacht in der Luft, dass es wieder so werden
könnte. Wir trauen uns selbst nicht. Schuld daran sind aber nicht
etwa Maßnahmen wie der autoritär verhängte Lockdown, noch der Protest der
Querdenker, auch nicht die AfD, sondern es ist der größte Feind der Menschlichkeit: die Gleichgültigkeit
und Gedankenlosigkeit, getarnt durch den massiven Einsatz von Technologie, die
uns unentwegt die beste alle Welten vorgaukelt. Die Technik in Gestalt der Sozialen Medien isoliert uns, indem sie uns jede Menge Freunde beschert. Wir fühlen uns angenommen - und doch ist keiner dieser Freunde wirklich zum Greifen nah. Aber eigentlich sind wir allein mit unseren Zweifeln - selbst wenn wir auf die Straße gehen, um für die Demokratie zu demonstrieren, ist es doch nur ein blinder Protest gegen Rechts.
„Die parlamentarische Demokratie und die freie Marktwirtschaft, diese zwei starken Säulen der Vernunft, sind keine Garantie mehr für den ruhigen Schlaf eines wachsenden Heeres von Zweifelnden, Enttäuschten und Verbitterten“, schrieb 1995 der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski (1924-2000).[2] Dieses Heer ist seitdem eher gewachsen.
Trotz
Mehr als 800 Verfassungen wurden seit der Französischen Revolution weltweit geschrieben. Und irgendwie wissen wir – die Menschenrechte sind die wichtigste Schrift überhaupt. Unveräußerlich. Für immer. Zeitlos gültig. Ohne Verfallsdatum. Die Menschenrechte setzen jeder „Tyrannenmacht“ eine Grenze, heißt es bei Schiller im „Wilhelm Tell“: „Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, wenn unerträglich wird die Last – greift er hinauf getrosten Mutes in den Himmel, und holt herunter seine ew'gen Rechte, die droben hangen unveräußerlich und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.“
Die Menschenrechte sind „die Zivilreligion unserer Epoche“, sagt der Historiker Furet.[3] Geachtet haben wir sie nicht – wie uns allein ein Blick auf die Todesbilanz des Kommunismus zeigt, jener Ideologie, vor der alle gleich waren – vor allem tot. „Gezählt hat sie keiner“, die Toten, sagt der Schweizer Journalist Jürg Altwegg (*1951). „Fünfundachtzig, vielleicht sogar hundert Millionen sollen es seit 1917 gewesen sein“, schrieb er 1997 zum achtzigsten Geburtstag der Oktoberrevolution in Russland. „In den meisten kommunistischen Ländern gehörten die Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Regierungssystem“, zitiert er einen Artikel des französischen Schriftstellers Pierre Daix (1922-2014) im ‚Figaro‘. [4] Eine 850 Seiten starke Studie war justament vorgelegt worden. Für Daix war sie „Der Nürnberger Prozess des Kommunismus“.
Hitler, Mao, Stalin – ihnen wurde nie der Prozess gemacht.
Und noch immer haben vielerorts die Menschenrechte nicht den Oberbefehl. Er ist der einzige, den wir akzeptieren. Über allem anderen auch. Auch über Kapital und Technik. So hoffen wir über alle Zweifel und Verbitterung hinweg.
Wir, die Menschen. „Wir, die wir für die kommenden Generationen wirken, wir, auf die die Welt blickt“, hatte dereinst der Revolutionsführer George Danton (1759–1794) in die Menge gedonnert.[1] Wohl wahr. Greta Thunberg wettert ähnlich. Inzwischen übernimmt in Deutschland das Bundesverfassungsgericht diese Rolle und ermahnt die Menschen, an die nächste Generation zu denken, an die Umwelt.
Brüder im Geiste werden wir dadurch nicht. Trotz Social Media, in der sich weltumspannend die Hälfte der Menschheit trifft. Zu einer Big Data-Gemeinde. Wie es war im Anfang, als die Amerikaner sich ihre Demokratie und ihr Wahlsystem gaben. Das war 1774. Beim Ersten Kontinentalen Kongress in Philadelphia, beschlossen sie, dass die Anzahl der Stimmen jedes im Kongress vertretenen Bundesstaates abhängig sein solle von der Einwohnerzahl. Eine Volkszählung alle zehn Jahre war die Folge. Und mit ihr begann das Datensammeln – über Menschen, Wirtschaft und Gesellschaft.
So kam alles zusammen. Die Technik, die Wirtschaft, die Macht. Der Dreisatz der Moderne, die Trinitas des Fortschritts, die Verfassung der Welt. Für immer. Damit werden wir aber auch mehr und mehr ein Fall für die Maschine. Wäre diese überhaupt in der Lage, eines Tages die gesamte Last der Welt auf sich zu nehmen?
„Vielleicht hat die ausgediente Dampfmaschine der Aufklärung nach zwei Jahrhunderten nützlicher, störungsloser Arbeit vor unseren Augen und mit unserer Beteiligung angehalten. Und der Dampf geht nur in die Luft. Wenn es so ist, dann sind die Aussichten düster“, hatte 1995 Szczypiorski geschrieben.[2] Ein Vierteljahrhundert später läuft die Maschine immer noch, besser denn je – selbst in der tiefsten Krise. Sie ist sogar längst dabei, gänzlich ohne uns zu funktionieren. Wahrscheinlich nicht nur im „Sonderfall“ einer Pandemie.
War es aber das, was wir wollten?
5 Kommentare:
Happy Birthday Grundgesetz!
"Identität, das ist zunächst die Frage danach, wie man sich selbst versteht. Es ist eine ganz persönliche Angelegenheit. Jeder hat seine eigenen Erlebnisse und Schwerpunkte. Davor gilt es Respekt zu haben, denn man sollte sich gegenseitig nichts aufzwingen wollen. Mit Resolutionen auf Kirchentagen oder in Parlamenten können wir nicht über die Lebensgefühle verfügen, die die Identität eines Menschen ausmachen."
Richard von Weizsäcker: Die Deutschen und ihre Identität
8.6.1985 Düsseldorf
Der Anfang der Rede Weizsäckers ist eigentlich banal.
Heute klingt das wie eine Mahnung
"Es gibt bei uns eine große Aktivität der Bürger. Man kann ein gestärktes Bürgerbewusstsein, verbunden mit einem geschwächten Staatsbewusstsein, beobachten. Aber heißt dies, dass sich die Bürger damit ganz grundsätzlich gegen den Staat wenden? Das glaube durchaus nicht. Gewiß, die einzelnen und die Gruppen nehmen in erster Linie ihre eigenen Interessen wahr. Aber sie empfinde doch sehr deutlich, dass nicht jeder frei ist, durchzusetzen, was er will, sondern dass zur Vielfalt der Einzelinterressen die Einheit der Gemeinwohlentscheidung treten muss.
Das ist es was die Bürger vom Staat erwarten. Wenn er sie darin enttäuscht, wenn er nur eine Dienstleistungsmaschine ist, wenn er seine ganz eigenständige Gemeinwohlaufgabe in der Gesellschaft nicht überzeugend durchzusetzen weiß, wenn er also am Ende bestenfalls ein bald beklatschter, bald ausgepfiffener Schiedsrichter ist, wie will er dann seine Bürger binden und gewinnen?
Richard von Weizsäcker 1.7.1984 Antritts
Aus Antritrsrede nach Vereidigung zum Bundespräsidenten
Sokrates: Sollten wir aber nicht, bevor wir gehen, den Göttern hier ein Gebet sprechen?
Phaidros: Ja!
Sokrates: Geliebter Pan und ihr anderen Götter hier um uns, gebt mir daß ich schön werde in der Seele, und daß alles was mir zukommt, zu meiner Seele freundlich strebe! Gebt mir, daß ich den Weisen für reich halte, und vom Golde sei mir stets nur so viel, als der Mäßige bedarf....
Platon: Phaidros
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