Freitag, 24. Mai 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 39) HEUTE: DIE BUNDESPUBLIK (17)

 1997: »Mit der Dynamik unserer Zivilisation rückt die unbekannte Zukunft uns näher; und die Nähe des Unbekannten macht angstbereit.«

Hermann Lübbe (*1926), deutscher Philosoph[1]

 

Anlässlich 75 Jahre Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik

Das Grundgesetz:
Weder brüderlich noch geschwisterlich

 

 Von Raimund Vollmer 

 

Der Prozess des permanenten Wandels startete mit der Französischen Revolution, mit der – wie der Soziologe Niklas Luhman 1989 in der 'Neuen Zürcher Zeitung' bemerkte – „eine Übergangssemantik in Geltung gesetzt wurde“.[1] Es war ein radikaler Bruch – nicht   nur mit dem Ancien régime, sondern mit allem: „Keine Tradition, kein Aspekt der Vergangenheit wurde für erhaltenswürdig erachtet – nichts, auf dem man die Zukunft hätte aufbauen können“, bemerkte 1989 der französische Historiker Francois Furet (1927-1997).[2] Alles begann neu, sollte und wollte Wirklichkeit werden: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“.

Vor allem der letzte Begriff, die Brüderlichkeit, wartet seitdem auf seine Erfüllung. So meinte anlässlich des 200. Jahrestages der Französischen Revolution der Publizist Stephan Wehowsky (*1950), dass erst im Artikel 1 der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen die Brüderlichkeit 1948 ihren rechtlichen Niederschlag gefunden habe.[3]  Da heißt es am 10. Dezembern 1948: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“

„Alle Menschen werden Brüder“, ließen bereits Schiller und Beethoven die Götter durch die Jahrhunderte funken. Viel wurde nicht daraus. „Work in progess“, möchte man es nennen - wie ein Werk, das sein Schöpfer, ein Künstler, nicht vollenden will. Wir treiben ziellos dahin.

Brüderlichkeit – ein verlorener Begriff, unscharf, unpräzise, neuerdings heftig umstritten. Gesetzt gegen eine Welt der ausufernden Vorschriften, der verzwickten Regeln und der unverständlichen Gesetze, gegen eine Zeit der rigorosen Egoismen und der erbarmungslosen Narzissmen, wird er nun selbst tabuisiert, verboten. Geschwisterlichkeit soll die Brüderlichkeit ersetzen. „Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit“ heißt es bei den Grünen in Deutschland, die somit der alten Parole von der Brüderlichkeit Paroli bieten wollen.

Aber dem Ansinnen von Friedrich Schiller kommen sie damit nicht näher. Er meinte es anders. Vielleicht so: Alle Menschen werden – Menschen. Freiheit, Gleichheit, Mitmenschlichkeit. Dieses Miteinander, das Mediale des Menschen ist das, was wir mit Brüderlichkeit meinen – über das Individuelle hinaus. Es meint vielleicht sogar das Leben nach dem Jetzt.

Brüderlichkeit ist eine Verheißung, „die sich vollends der staatlichen Durchsetzungsfähigkeit entzieht“, meint der Schweizer Publizist Roger de Weck (*1953).[4] Brüderlichkeit ist ein Versprechen für etwas – so Stephan Wehowsky –, „was Parlamente nicht durchsetzen können“. Schwesterlichkeit schon eher – durch Quotenregelung bis in den Bundestag hinein, wie es die Grünen fordern. „Fraternité“  meint da schon etwas anderes. Schwesterlichkeit ist der Gleichheit, der „Egalité“ näher.

Vor bald 250 Jahren mehr prophetisch als programmatisch in die Welt geworfen, ist die Brüderlichkeit unser letztes Refugium – in diesem Jahrhundert, in diesem Jahrtausend. Und wir gehen nicht gut damit um. Es sollte und es musste ein Virus kommen, das diese Brüderlichkeit einforderte – und uns zeigte, wie schlecht wir miteinander umgehen. Bislang hat die Brüderlichkeit nur Pseudoordnungen produziert. Wir professionalisieren all unsere Lebensverhältnisse – von der Wiege bis zur Bahre. Eine Lebensform ist es nicht, nur eine Organisationsform, eine technisch-planerische Vernunft. Bis jetzt.

Dabei hat uns dieses Thema bis in die Anfänge der Bundesrepublik hinein sehr bewegt. Der Liberale Theodor Heuss (1884-1963), der 1949 der erste deutsche Bundespräsident werden sollte, fragte 1946: „Was heißt Demokratie als Lebensform?“ Und er gab sich selbst die Antwort: „Doch nur dies: Dem Menschen, gleichviel er sei und woher er käme, als Mensch zu begegnen.“

Aber, bitte, nur mit gebührendem und gehorsamem Abstand, fuhr 75 Jahre später der Sozialstaat dazwischen. Mit Maske. Möglichst durchgetestet, durchgeimpft. Der Mensch geht auf Distanz zu sich selbst.

„In erster Linie ein Ja zur Mitmenschlichkeit“, sah 1970 auch Carlo Schmid (1896–1979) das primäre Bestreben in der Demokratie. Schmid war Staatsrechtler und einer der Väter des Grundgesetzes.[5] Schmid und Heuss – beide waren Mitglieder des Parlamentarischen Rates, der dieses Grundgesetz in die Welt setzte.

Brüderlichkeit – ein Wort, das über uns schwebt in diesem 21. Jahrhundert, in diesem dritten Jahrtausend, ein Wort, das sich nicht – wie Freiheit und Gleichheit – einfangen lässt in klare Definitionen, Verordnungen, Abgrenzungen, Instruktionen, Gesetze oder Software. Der CDU–Politiker Heiner Geißler (1930–2017) meinte einmal, dass die Brüderlichkeit wie auch die Gleichheit „vor dem Hintergrund der Forderung nach Freiheit immer etwas zurückgedrängt wurde.“[6]

Brüderlichkeit – seit Kain und Abel ein beschädigtes, irgendwie sprachloses Wort, das sich allem entzieht, was unsere Epochen, das Centennium und das Millennium, zu fassen versuchen. Ein Wort, vor dem das Jetzt scheitert. Wir ahnen vielleicht: Wir selbst sind dieses Wort. Brüderlichkeit meint uns als Subjekt, nicht als ein konkretes, managebares Objekt, wie es die Schrift tut, die so gerne alles erfasst und bestimmt. Brüderlichkeit ist nicht abstrakt, sie ist sehr persönlich.

In der Schrift wird alles zum Objekt, zum Ausdruck, zu Big Data. „Schriften sind subjektlos. Sie machen Sprache zum Objekt“, formulierte Eckhard Nordhofen (*1945), deutscher Philosoph und Theologe.[7] Das ist ihr Ursprung, das ist ihr Urgedanke. Brüderlichkeit hingegen ist ein Wort außerhalb unserer Sprache. Es ist ein Wort außerhalb des Messbaren, des Kalkulierbaren, der Mathematik, der Maschinen. Es ist ein Wort außerhalb unserer wichtigsten Schrift, der Verfassung, des Grundgesetzes: „Weder Solidarität noch Brüderlichkeit werden im Grundgesetz erwähnt“, erklärt die Verfassungsrechtlerin Angelika Nußberger (*1963), frühere Richterin und Vizepräsidentin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.[8] Solidarität und Brüderlichkeit gibt es nur zwischenmenschlich, für alles andere ist der Sozialstaat verantwortlich, peinlich genau dokumentiert und seit 1976 sukzessive zusammengefasst zu einem zwölf Bände umfassenden Sozialgesetzbuch. Alles schriftlich. Wie es sich gehört. Alles sorgsam kodiert.

Brüderlichkeit gibt es nur zwischen Menschen. Unvermittelt. Direkt. Das wissen wir jetzt. Nach der Corona-Isolation. Eventuell. Vielleicht. Ganz bestimmt. Schriftlich gibt uns das allerdings keiner. 

Brüderlichkeit gibt es nur von Fall zu Fall.



27 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Je mehr Freiheit, desto weniger Gleichheit erlaubt die menschliche Gesellschaft. Die Brüderlichkeit kam also ins Spiel, um zwei unvereinbare Ideale miteinander zu versöhnen.
Ralf Custodis

Raimund Vollmer hat gesagt…

Lieber "Ralf Custodis", so schön formuliert - So wurden Freiheit und Gleichheit Brüder, oder besser Schwestern... Selbst die Brüderlichkeit ist übrigens weiblich. Und niemand hat die Absicht, das zu gendern... ;-) Und wir, die Brüder, sind sehr damit einverstanden.

Anonym hat gesagt…

Wir sind doch alle Brüder und Schwestern im Geiste🤓

Anonym hat gesagt…

„Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“
Walter Ulbricht Anfang Mai 1945, zitiert in: Wolfgang Leonhard: Die Revolution entläßt ihre Kinder (1955)

Anonym hat gesagt…

Artikel 1 der Menschenrechte geht zunächst mal vom Zustand der Geburt aus. Die Würde ist in die Wiege gelegt. Dann kommt das neural formulierte Soll-Gebot der brüderlichen Begegnung. Vielleicht zu neutral formuliert, so dass manche an Kain und Abel denken.
Der Casus liegt aber im "Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt..." Wer ist aber für das Training dieser Olympianorm zuständig? Diese postulierten Begabungen und Fähigkeiten sind ja nicht in die Wiege gelegt, wie die Würde, wie alle wissen.
Bei der UN-Vollversammlung hat man sich (mangels Begabung oder Fähigkeit?) nicht darum gekümmert. Und bei uns? Ist es eine Frage der Kultur? Dann mal ran, Claudia Roth!

Anonym hat gesagt…

Brüderlichkeit ist eine zutiefst ethische Norm, die im Gleichnis vom verlorenen Sohn ihr Beispiel findet. Schiller musste man das nicht sagen.
Schwesterlichkeit ist ein banaler Geschlechtsbegriff.
Die Gleichsetzung bei den Grünen hat ihn dazu gemacht und zeigt deren Kulturniveau.

Anonym hat gesagt…

Ich bin bis zum Beweis des Gegenteils davon überzeugt, dass von denjenigen, die je auf einem Sessel in der UN Platz genommen haben, die wenigsten den Mindestanforderungen an Vernunft und Gewissen entsprochen haben, den ihr Glaube ihnen gelehrt hat.

Analüst hat gesagt…

Würde ist auch eine Verpflichtung, der ein Mensch gerecht werden sollte...

Anonym hat gesagt…

Wenn Carlo Schmid, der ehrenwerte Vaihinger, 1970 ! nach seiner Kriegs- und Grundgesetzerfahrung in der Demokratie in erster Linie ein "Ja zur Mitmenschlichkeit“, sah und das als das primäre Bestreben, dann ist mir das zu sehr protestantischer Kirchentag und dahergeredet. So formuliert kein Jurist und erfahrener Parlamentarier, wenn er über eine Sache nachdenkt - nach dieser Kriegserfahrung!

Anonym hat gesagt…

Grenzen der Brüderlichkeit:
"Wisst ihr nicht, dass Freundschaft mit der Welt die Feindschaft mit Gott ist? "
Brief d. Jakobus 4.4    /
Trotzdem sagt Papst Franziskus: Der Name Gottes ist Barmherzigkeit.

Anonym hat gesagt…

Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört,
es müsse sich dabei auch etwas denken lassen.     Faust,  Goethe

Anonym hat gesagt…

"Ferner muss man feststellen, dass die Wurzeln der extremen Demokratisierung in der kleinbürgerlichen individualistischen Undiszipliniertheit zu suchen sind. Wenn diese Haltung in die Partei hineingetragen wird, so entwickelt sie sich politisch und organisatorisch zu ultrademokratischen Ansichten. Solche Ansichten sind mit den Kampfaufgaben des Proletariats von Grund auf unvereinbar.
        "Über die Berichtigung falscher Anschauungen in der Partei"
        Dezember 1929

Anonym hat gesagt…

Es regnet viele Tropfen, ehe man Einsicht gewinnt, und Jahre vergehen, ehe man Weise wird.       Adalbert Stifter

Anonym hat gesagt…

Ich denke ja gar nichts. Ich sag es ja nur. Ödon v. Horvath

Anonym hat gesagt…

Mitmenschlichkeit-
da sage ich mit Pestalozzi:
Das ist das Ersaufen des Rechts im Mistloch der Gnade.

Anonym hat gesagt…

Niemand muss Weise sein, um sich würdig zu benehmen

Anonym hat gesagt…

Man sieht ja heute, wohin die KP China geführt hat. Da lobe ich mir doch unser Grundgesetz

Anonym hat gesagt…

"Wie nehmen manche Worte, an sich anfangs unschuldig, ja süß, erst auf dem Lager der Zeit giftige Kräfte an." Jean Paul

Anonym hat gesagt…

So gesehen ist Würde nur eine Formsache nach Knigge. Schade!

Besserwisser hat gesagt…

Jeder Mensch hat seine Würde – doch so mancher ist dieser Würde leider nicht würdig, Herr Krah

Anonym hat gesagt…

Das entdemokratisierte Grundgesetz ist nur noch die Fassade zur Kaschierung des autoritären, präfaschistischen Staates:
Im Grundgesetz war von den Verfassungsvätern eine sozialistische, demokratische Gesellschaftsordnung angelegt von der sich aber die politische Wirklichkeit der BRD im Verlauf der Rekonstruktionsphase (Wiederaufbau) immer mehr entfernt, da Legislative, Exekutive und Rechtsprechung den demokratischen Kern des Grundgesetzes nach und nach aushöhlten. Durch die Reetablierung der kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse sowie der spätkapitalistischen Klassengesellschaft ist die postfaschistische Bundesrepublik faktisch zu einem präfaschistischen Staat geworden, der jede demokratische Entwicklung verhindert.
Da sich die systemimanenten Krisenerscheinungen in der BRD verstärken und andererseits die Protestaktionen der realdemokratischen Opposition den ungestörten Konsum und die Profitmaximierung gefährden könnten, soll ein groß angelegter Disziplinierungsversuch alle potentiellen Opponenten in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen ausschalten. Der Staat greift deshalb immer stärker in autonome Gesellschaftsbereiche ein, um jede systemgefährdende Kraft zu beseitigen. Beispiele dafür sind: Die Große Koalition, Notstandsgesetze, Mittelfristige Finanzplanung, Konzertierte Aktion.
Die Thesen der APO (9)
(SDS und Neue Linke) 1968

Anonym hat gesagt…

Sorry. Vergaß: Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung

Anonym hat gesagt…

Eine brüderliche Begegnung ist auch Russland gegen die Ukraine. Schon unter Peter dem Großen hat Kiew zu Russland gehört. Dieser hat dann seine Macht Zug um Zug nach Westen ausgedehnt.

Analüst hat gesagt…

Kain & Abel waren auch Brüder...

Raimund Vollmer hat gesagt…

Meine liebe SDS, hättest Du es weniger aggressiv formuliert, weniger überdreht, weniger hassbestimmt, wärst Du eine Philosophin gewesen. Danke für dieses ausgesprochen charakteristische Zitat, indem ich meine eigenen Grundgedanken wiederentdeckt hätte, wenn es mehr Respekt vor dem Grundgesetz gehabt hätte. Denn das ist weitaus mehr als gar nichts. Leider wurde es nie wirklich weiterentwickelt - zu einer Verfassung, die mehr beinhaltet als nur den Rechtsstaat, auf den zu reduzieren so viele professionelle Ambitionen zielen.

Anonym hat gesagt…

Aber 3 Einschränkungen muss man machen, die eigentlich für alle Thesen der Neuen Linken gelten.
1. Es gibt falsche Behauptungen, die Ausgangspunkt von Analysen sind. Hier: Niemals haben die Verfassungsvätern eine sozialistische Gesellschaft anlegen wollen. Diese Lüge ist aber das Fundament aller Schlüsse.
2. Wie von Ihnen angemerkt, bestehen die Analysen aus mächtigen und dramatischen Verzerrungen, die über Entmachtung, Enteignung hinausgehen.
3. Daraus folgen aber keine konkreten Ziele, keine inhaltlichen Vorstellungen
Es ist wie immer viel Lärm auf dem Weg zu einem unbestimmten, inhaltslosen Sozialismus.
Natürlich soll es die DDR nicht sein und so wie die Sowjetunion oder Kuba eigentlich auch nicht.

Anonym hat gesagt…

Sorry: .......die über Entmachtung, Enteignung n i c h t hinausgehen......