Dienstag, 23. Juli 2024

Arche Nova (5): To BI or not to BI? (2009)

 Business Intelligence (BI):

2009: Der leere Thron

Ist dies der finale Traum von Business Intelligence (BI)? Mitte des nächsten Jahrzehnts werden die Unternehmen keine Data Warehouses mehr errichten müssen, sondern alle herein- und herausströmenden Daten werden automatisch katalogisiert und kategorisiert und von Suchmaschinen nach allen Regeln der Kunst für jeden Wunsch individuell zusammengestellt. Möglich wird dies durch 64-Bit-Systeme und weiter fallende Hauptspeicher-Preise. Von BI als einer separaten Disziplin wird dann niemand mehr sprechen. Die Reports googlen und generieren sich selbst. Das Management braucht nur noch seine Entscheidungen zu treffen. Es ist eine wunderbare Welt, die Bürokratie überlassen wir endgültig der Technologie. Wir selbst haben den Kopf frei – aber für was?

Das 20. Jahrhundert erlebte den triumphalen Aufstieg der Bürokratie, die heute alles kontrolliert – nur nicht sich selbst. Für alles und jedes ersann sie Regelwerke, die das Ziel hatten, eine Welt zu errichten, in der die Systeme alles entscheiden, aber nicht der Mensch. Er sollte entthront werden mitsamt seiner Fähigkeit zu denken und zu lenken.

Es ist mehr als vierzig Jahre her, da eröffnete der deutsche Philosoph Hans-Georg Gadamer den VIII. Deutschen Kongress für Philosophie mit den Worten: »Die Entthronung der Philosophie hat begonnen.« An die Stelle der einstigen Königin der Wissenschaften trete nun die Technik. Und ihr treuester Geselle wäre die Bürokratie mit ihrer ständig wachsenden Zahl an Angestellten. Doch wer regiert dann die Welt? 1992 gab Gadamer darauf eine Antwort: »Manchmal habe ich, wie jeder Mensch, Angstträume, und einer meiner wachen Angstträume ist, dass es eine bürokratische Gesellschaft geben wird, mit einem höchsten Thron, auf dem niemand mehr sitzt.«

Haben wir, unsere Chefs und unsere Regierungen, wirklich nichts mehr zu sagen? Wird Business Intelligence weder der Bürokratie noch dem Management jene Autarkie geben, nach der sich beide seit Jahrzehnten sehnen? Rationalisiert sich die Bürokratie und damit auch das Management selbst weg?

Noch 1895 waren in Deutschland nur zehn Prozent der Beschäftigten Angestellte. Mitte der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts kam auf drei Arbeiter ein Angestellter. 21 Wirtschaftszweige wiesen bereits mehr Angestellte als Arbeiter aus. »Der Kreis der Personen, die wirklich etwas erzeugen, wird immer kleiner, der Kreis derer, die damit Handel treiben, immer größer«, hatte 1966 Horst Wagenführ, Leiter des Wickert-Instituts für wirtschaftliche Zukunftsforschung in Tübingen, prognostiziert. Eines gar nicht mehr so fernen Tages, raunte der Zukunftsforscher, werde »kaum noch etwas übrig bleiben, womit man Handel treiben könne. Es sei denn man fing an, genau mit dem Handel zu treiben, was Wagenführ und seine Leute für die Wirtschaft produzierten: mit Wissen um die Zukunft – mit Business Intelligence.

Der französische Geologe und Paläontologe Pierre Teilhard de Chardin hatte 1963 in seinem Buch »Die Zukunft des Menschen« prophezeit, dass es zu einer »Einswerdung« der gesamten Menschheit kommen werde. Sie würde sich auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung zu einer »denkenden Einheit« zusammenschließen. Und mit dem Internet haben wir ja genau die Grundlage für eine solche „denkende Einheit“ geschaffen.

Kurzum: Es ist an der Zeit, dass wir wieder mit dem Denken anfangen. Bei all den vielen Daten und Reports muss sich ja doch auch noch etwas denken lassen. Wir sollten den Thron wieder besetzen.

Ganz ehrlich: Die Krise an den Finanzmärkten ist auch vor diesem Hintergrund als deutlicher Hinweis zu verstehen. Wir hatten das Denken den Systemen überlassen. 

Raimund Vollmer


16 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Wer B sagt, muss auch A sagen
Abgewandelte Redewendung im Zeitalter von K I

Besserwisser hat gesagt…

Angestellte arbeiten bei weitem nicht immer in der Verwaltung: es gibt auch Ärzte, Krankenpfleger, Straßenbahnfahrer oder Verkäufer. Deshalb hinkt der Vergleich zwischen Arbeitern und Angestellten, Zumal Angestellte durchaus auch arbeiten und Arbeiter durchaus auch angestellt sein können😉

Anonym hat gesagt…

Beim Denken müssen wir aber wissen: Heute soll das Denken keine Funktion des Gehirns sein, sondern eine gesellschaftliche Fiktion erfüllen.
Können wir das wollen?

Besserwisser hat gesagt…

Der Mensch muß denken, und ich muß für meine Untertanen denken; denn sie denken nicht, sie denken nicht.

König Peter in "Leonce und Lena" von Georg Büchner (1813 - 1837), Dramatiker, Lustspielautor und Novellist

Anonym hat gesagt…

Wer das Gesellschaftliche anders als symbolisch nimmt, geht fehl.

Hugo von Hofmannsthal (1874 - 1929), österr. Lyriker, Dramatiker, Erzähler - Mitbegründer der Salzburger Festspiele;

Anonym hat gesagt…

Oh Hugo, du hast das Gesellschaftliche für deine Zwecke ausgenutzt und ausgeschlachtet, für heute oft unerträgliche Stücke - und hervorragend davon gelebt.

Anonym hat gesagt…

Ein bißchen Bi schadet nie!

Anonym hat gesagt…

Seit wann denken Systeme?

Anonym hat gesagt…

Systeme entscheiden vielleicht, denken können sie nicht. Das kann nur ich!
Ob dabei jeweils Systeme oder ich besser sind, hängt entscheidend von den Programmierern ab. Der Unterschied ist, ich gebe mir Mühe, die Systeme entscheoden mühelos und kaltschnäuzig.
Ein System würde mir nie ein Bier nachschenken, ich es aber an den Strom anschließen.
Erklären Sie mal den Unterschied einem System, das ist ja nicht nur ein faktischer.
Wenn Sie eine Antwort haben, dann melden Sie sich wieder!

Analüst hat gesagt…

Ein System kann nicht denken und schon gar nicht verstehen. Höchstens erkennen.

Anonym hat gesagt…

>>Nichts ist in der Welt so gut verteilt wie der Verstand, denn jeder ist überzeugt dass er genug davon hat. R. Descartes < --

Treten jetzt sogar "Systeme" in diesem Wettbewerb ein mit ihrem 'Denken?

Anonym hat gesagt…

Früher gab es eine klare - auch rechtliche - Trennung zwischen Arbeitern und Angestellten (Tarife, Rentenkassen, Arbeitsverträge). Diese Unterscheidung gibt es nicht mehr. Heute ist es nur noch eine tätigkeitsbezogene Unterscheidung.
Also der Angestellte arbeitet (inzwischen) und der Arbeiter ist angestellt.

Anonym hat gesagt…

Besser wäre die Unterscheidung Fabrikarbeiter/Handwerker und Verwaltungsangestellte

Anonym hat gesagt…

Er denkt zu viel, solche Leute sind gefährlich.
Shakespeare. Julius Cäsar 1,2

Anonym hat gesagt…

Ein Thron ist nur ein mit Samt garniertes Brett.
Er muss es ja wissen: Napoleon Bonaparte (1769 - 1821), Feldherr und Kaiser der Franzosen von 1804 bis 1814/15

Anonym hat gesagt…

Business Intelligence ist doch von vorvorgestern. Heute ist die Rede von Business Analytics oder Advanced Analytics. Oder man sagt direkt AI.