Sonntag, 11. Februar 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 7)

1997:»Liebe Maschine!
Wir treffen dich jeden Tag.
Du verkaufst uns Fahrkarten,
brühst Kaffee, entwickelst Passbilder,
und wir heben Geld bei dir ab.
Aber eigentlich wissen wir
nichts über dich.«

Zeitmagazin, Jörg Burger, 5. Dezember 1997



[1] Zeitmagazin, 5. Dezember 1997, Jörg Burger: "Liebe Maschine"

Auf dem Weg ins Wolkengooglesheim!

Von Raimund Vollmer 

 Der Soziologe Ulrich Beck (1944–2015) meinte 1995: „Die Erfindungen der Techniker treffen auf die alten Institutionen“, und diese seien es, die damit fertigwerden müssen. „Man glaubt, wir könnten auf der einen Seite die tollsten technischen Erfindungen machen, aber die Art, wie wir unser Privatleben und politischen Prozesse organisieren, bleibt immer ähnlich. Mit der Erfindungsdynamik der Technik korrespondiert keine soziale politische Dynamik.“ Martin Rees (*1942), der ehemalige Hofastronom von Königin Elisabeth erklärte 14 Jahre später: „Tatsächlich könnten wir die Welt schon jetzt sehr viel besser machen. Die Technologie erlaubt uns ein besseres Leben zu führen als die Menschen im Mittelalter. Aber der Unterschied zwischen der Weise, wie die Dinge sind und wie sie gleichzeitig sein könnten, ist größer als je zuvor. Der Grund ist, dass wir uns ethisch nicht weiterentwickelt haben.“

Wir ändern uns einfach nicht. Heißt es. Immer wieder.

Aber genau das ändert sich gerade. Heißt es. Mal wieder.

Die Erfindungen treffen jetzt vor allem auf das Individuum. Es begann in den siebziger Jahren mit dem PC, dreißig Jahre später war es das Smartphone. Demnächst wird es die Google–Brille oder das neue Aug-Apple sein oder dann der Chip im Kopf. Wir kommen uns mit der Technik – sehr persönlich – immer näher. Seit bald einem halben Jahrhundert werden wir bestens darauf vorbereitet, neu erfunden zu werden. Wir werden konditioniert, karrierisiert, durchtrainiert, ausstaffiert und ausstudiert. Irgendwann ist es soweit. Eine ganze Generation steht bereit, um eine neue „soziale, politische Dynamik“ zu entfalten. Es hat endlich „Klick“ gemacht. Der Mensch per Mausdruck. Dynamisch. Praktisch. Gut.

Denkste! „Wir sind langweilig, und ihr seid schuld“, fasste die 'FAZ' unter dieser Überschrift im Juli 2014 die Meinungen deutscher Studenten zusammen, die sie um Aussagen über ihre Generation gebeten hatte. Und sie antwortete: „... die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, bei der man ein Praktikum machen möchte, sucht fleißige Bienchen, menschliche Taschenrechner – und wie man weiß, ein Taschenrechner fragt nicht nach“, schrieb dort der Student Jonas Friedrich. Sie seien eine Generation, die Lebensläufe liefert, „welche zwar mit Taten und Handlungen gefüllt sind, jedoch wenig Erfahrungen in sich vereinen und noch weniger Charakter“, bemerkt Peter Immel, ebenfalls ein Student. „Die großen ideologischen Illusionen haben sich abgenutzt. Was folgt, ist die Suche nach dem kleinen Alltagsglück“, ergänzt Robert Gatzsche, der zudem prophezeit: „Wir sind die Generation, an der sich – wenn überhaupt – der Kapitalismus kaputtsiegen wird.“

Zehn Jahre später suchen die jungen Menschen beim Eintritt ins Berufsleben vor allem eins: Work-Life-Balance. Es ist die letzte Abwehrreaktion des Menschen gegenüber einer übermächtigen Außenwelt. Es wirkt wie eine sanfte Form der Großen Weigerung, von der ein Philosoph wie Herbert Marcuse dereinst träumte in seinem Protest gegen den „eindimensionalen Menschen“.   

Dabei sind wir uns selbst der Gegner, konnte man 2014 nach dem Lesen des Beitrags von Henning Mevenkamp meinen: „Die Stoßrichtung ist, uns als Humankapital zu optimieren“. Sie fragen nicht. Sie klagen nicht. Allenfalls ein Hauch von Wehmut und Resignation. Diese Generation weiß, was auf sie zukommt. Und dieses Wissen ist nicht Macht, sondern Ohnmacht. Nicht die Institutionen ändern sich, sondern wir sind es. Wir bereiten uns auf eine Welt vor, die wir zwar geschaffen haben, aber nicht beherrschen, sondern die uns in den Griff nimmt, genauer gesagt: in den Zugriff nimmt auf alles, was wir haben, wünschen, wollen. Das einzige, was wir noch durchsetzen können, ist in der Tat Work-Life-Balanceing und das Home Office, das seit vier Jahrzehnten auf seine Erfüllung wartete.

Peter F. Drucker, der große Management-Guru, hatte 1989 noch prognostiziert: „Ich sehe das Entstehen einer Post-Business-Gesellschaft, in der Wissensarbeiter die vorherrschende Species sein werden.“ Die Arbeitswelt des Jahres 2000 würde sich von der Vergangenheit dadurch unterscheiden, dass „jeder ein Freiwilliger sei“, der zwar das Geld und den Job brauche, aber weitaus mehr Befriedigung findet in dem, was er tut. 40 Prozent der Management–Ebenen könnten verschwinden. Unternehmen würden eher Weiterbildungsinstitutionen ähneln. Und die Nonprofit–Firma würde mehr und mehr der Standard. Wir alle wissen, dass es nicht so gekommen ist – auch wenn sich Firmen rund um einen Campus organisieren.

Stattdessen entsteht nach und nach eine neue, komplett sinnlose Herrschaft, die ohne uns auskommen will, uns durch Agenten ersetzt, die uns simulieren und sogar das Simulierte simulieren. Natürlich geschieht dies nicht über Nacht, sondern in einem epochalen Prozess, dem wir uns seit einem halben Jahrhundert mit schwindendem Gegenwillen hingeben.

Diese Systeme sind blind gegenüber dem Einzelnen. Sie können nicht über sich selbst hinausblicken. Sie sind in sich selbst gefangen, kommen nicht aus sich heraus. Sie merken nicht, dass sie es nicht mit sich selbst, sondern mit uns zu tun haben, mit uns Menschen. Wir sind allenfalls ein nicht zu kontrollierender Störfaktor, ein permanenter Unruheherd, der in einem klammheimlichen Erziehungsprozess ausgeschaltet werden soll. Wir entwickeln uns ins Leere. Und das ist der große Unterschied zu allen Entwicklungen der Vergangenheit.

„Jede Natur, so sinnvoll sie ist, müssen wir als Eierschale hinter uns lassen. Das ist Menschenart. Es ist das Wahrste und Menschlichste in uns, das uns bei aller Daseinsfreude von Ablösung zu Ablösung treibt, jede Natur, alles Gewordene in Frage stellt“, schrieb Alfred Döblin (1878–1957), dieses schriftstellernde Genie, im Nachwort seines 1932 erschienenen Abenteuerbuches „Giganten“.[5] So einfach ist das. So gefährlich ist es aber auch. Denn wenn dies unser innerer Befehl ist, dann sind wir jetzt an dem entscheidenden Punkt angelangt. Wir lösen uns von uns selbst ab. Von unserer inneren Natur. Wir werden zum System, Teil eines Weltgeistes ohne Seele.

Absurd! Absurd! Absurd! Wie kommen wir da wieder heraus? Wie holen wir uns den Oberbefehl zurück? Die Antwort: Wir müssen ihn uns nur selbst wieder geben. Wir befehlen uns selbst den Sinn unseres Lebens. Als Individuum. Jeder für sich. Jeder nimmt sich selbst in die Pflicht. Ja, wir tun unsere Pflicht – und leben nicht die der anderen. Es wäre ein unglaubliches Abenteuer. Wir kehren zu uns selbst zurück. Es wäre ein Jahrhundertmarsch.

Jedenfalls möchte man Alfred Döblin so verstehen, als er uns – wohl ahnend, was nach 1933 tatsächlich auf uns zukam – vor einer ziemlich unfreien „Maschinenmenschheit“ warnte. Sie würde sich in ihrem Maschinenwesen „einkrusten und einschalen“. Er aber hatte die Hoffnung, dass die Menschen dennoch diese Kruste „unter unsäglichen Anstrengungen sprengen“ würden. So prophezeite er uns. Irgendwie stecken wir genau in diesem Prozess. Inmitten unbeschreiblichen, zermürbenden Wohlstands suchen wir fieberhaft nach einer neuen „Ablösung“. (Der Schriftsteller und Psychiater Alfred Döblin sei gelobt! Er nannte es nicht Erlösung.)

Für einen Moment, in dem Jahrzehnt vor dem Jahrtausendwechsel glaubten wir, es geschafft zu haben. Das war damals, als uns das Internet überraschte – ein offenes, tolerantes, herrschaftsfreies System. Das war unsere neue Natur. Ohne fremden Oberbefehl. Eine Welt nur für uns. Von Mensch zu Mensch, das Maschinennetz selbst war nur ein Mittler zwischen uns. Es war das Paradies. Jedenfalls in unserer Phantasie.

Ein Vierteljahrhundert später scheint jedoch alles verloren. Wir haben uns zwar nicht eingekrustet und eingeschalt, stattdessen haben wir uns eingekuschelt und eingemümmelt in diese Maschinennetznatur. Und wir machen es uns immer bequemer. Wir umgeben uns mit einer neuen, verführerischen, anonymen Supermacht. Wir tauchen ein in eine ätherische Welt, die uns umnebelt und betäubt. Sie nennt sich „Cloud“, eine uns alle wohlig einhüllende und einlullende Wolke. Sie ist weder zentral noch dezentral. Sie schwebt über uns und zwischen uns. Sie ist überall, auch bei uns zuhause. Sie ist immer da, sie ist immer „on“, selbst dann, wenn wir sie ausgeschaltet haben. Sie breitet sich aus zu einer weit wallenden Sphäre, zu einer neuen weichkantigen, soften Oberwelt, an der sich keiner stoßen kann. Voller Güte, Nachsicht und Vorsicht. Keine Eierschale, sondern Gummizelle.

Wer nach der Cloud googelt, darf in 1,7 Milliarden Wattebällchen wühlen – und findet unter den Antworten doch immer nur dasselbe. Die Cloud ist ein Gott, der sich jeden Augenblick selbst schafft, alles kennt, nur nicht sich selbst. Es ist eine virtuelle Natur, die wie die biologische total ist und sich selbst nicht wahrnimmt, in der nur der Augenblick zählt.

Die Cloud saugt alles in sich auf. Sie verschlingt bereits zehn Prozent der weltweiten Computerleistung.Und es ist nicht vermessen, wenn man behauptet, dass sie – ganz im Stil wie einst Big Blue, also IBM – einen Marktanteil von 100 Prozent für durchaus angemessen hält. Sie will wirklich alles – und es gibt genügend Menschen, die sie dafür belohnt, dass sie ihr auf dem Weg zur totalen Weltbeherrschung unterstützen. Ihre irdischen Protagonisten sind bloße Attrappen, stinkreich zwar, aber längst nur Getriebene ihres Erfolges, der sie so beschäftigt, dass sie gar nicht auf andere Gedanken kommen. Mit jeder Studentengeneration, die sowohl angepasster als auch besser ausgebildet ist als die vorherige, wird ihr dies mehr und mehr gelingen – bis wir Menschen nicht mehr gebraucht werden.

Über alle Institutionen und Individuen, über alle Längen– und Breitengrade, über Wasser und Erde hinweg, über alles wird die Cloud richten und rechten. Dabei wird sie nur sich selbst verantwortlich sein – und jedem Störenfried, sei er auch noch so ein begabter Harvard-Dropout oder Stanford-Jünger, das Maul stopfen. Am besten mit Geld.

Dem Rest von uns wird dieses Wolkengespinst auf eine geradezu paradoxe Weise mehr und mehr bewusst, mehr und mehr präsent sein als eine schimmrige Kommandohöhe, in die sich das Netz wandelt, obwohl es doch eigentlich in unseren schönsten Träumen das genaue Gegenteil sein sollte: ein Instrument des Ungehorsams, der Rebellion, der vollkommenen intellektuellen Freiheit und Klarheit. Keine Wolke. Eine Revolution – der wir nun alle zum Opfer fallen.  

 Bisher erschienen:

Teil 1: Der Zukunftsschock  // Teil 2: Der Sturz des Menschen // Teil 3: Das Prinzip Verantwortung //Teil 4: Fehler im System // Teil 5: Goethe und der Maschinenmensch // Teil 6: Unter dem Himmel des Friedens // Teil 7: Auf dem Weg ins Wolkengooglesheim // Teil 8: Die Seele und der Prozess // Teil 9: In diktatorischer Vertikalität // Teil 10: Über das Über-Über-Ich // Teil 11: Die demente Demokratie // Teil 12: Welt der Befehle // Teil 13: Fridays sind für die Future // Teil 14: Das Systemprogramm // Teil 15:  Die alltägliche Auferstehung // Teil 16: Vater User, der Du bist im Himmel // Teil 17: Der Prozess // Teil 18: Unter Zeitzwang // Teil 19: Die Uran-Maschine und das Jetzt // Teil 20: Die digitale Stallfütterung // Fortsetzung folgt

 

 


6 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Die Cloud ist wie ein zweites christliches Rom. Ein imaginäres Herrschaftsgeflecht, das uns im Zaun hält, uns steuert und ausnutzt, um den Preis, dass wir es beatmen, am Lebenhalten und dafür zwischendurch unseren Spass haben dürfen. Unsere Selfies sind die Heiligenbildchen des neuen Rom, die wir für uns selber machen.

Raimund Vollmer hat gesagt…

POH, lieber Anonym, was für ein Kommentar! (Bin ja fast neidisch!!!)

Anonym hat gesagt…

»Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, dass er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.«           Johann Nestroy (1801–1862), österreichischer Dramatiker

Anonym hat gesagt…

Auch an Gedankenwegen lauern Räuber........

Anonym hat gesagt…

Zu einem tiefen Gedanken muss man sich oft emporschwingen.
S. J. Lec

Anonym hat gesagt…

Die Cloud ist das gute alte Timesharing, umgesetzt mit der Technik von heute...