Sonntag, 14. Juli 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 61) (Der Staat und wir)

2017 - Als die Welt noch in ihrer Ordnung war

 1811: »Wie  der  Wille, 
so  muss  auch  der  Gedanke 
beim  Gehorsam anfangen.«

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), deutscher Philosoph

 

 

Tod und Teufel

Von Raimund Vollmer

 

Die Exekutive ist sich ihrer eigenen Macht nicht sicher. Weil das so ist, will sie immer mehr davon, immer mehr Macht. Am Ende dominiert das Motiv Selbstbehauptung alles. „Inzwischen sind überall gewaltige Apparate entstanden, und alle mit der Lebenslänglichkeit der Beamten. Ist das notwendig?“ So fragte 1969 der Tübinger Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg (1904–1999) zu einem Zeitpunkt, als der Staat als Arbeitgeber erst so richtig aufdrehte und immer mehr Menschen in seine Solonichtselbständigkeit aufnahm. [1] Aus einer Million öffentlich Bediensteter wurde über alle Privatisierungswellen hinweg mit den Jahren knapp fünf Millionen, davon ein gutes Drittel als Beamte. Zur Selbsterhaltung ist dies allemal nützlich.

Notwendig ist diese Lebenslänglichkeit indes nicht, sondern ein wichtiger, strategischer Teil der Selbstbehauptung. Um die geht es. Überall. Um die Selbstbehauptung der Gesundheitssysteme, des Bildungswesens, der Regierung, der Parteien, der Bundeswehr, der Polizei, der Bundesbank, der diversen Institute, überhaupt aller Institutionen, auch des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Kurzum: Die Systeme sind systemrelevant. Punkt. Aber sind sie auch menschheitsrelevant? Wenigstens als unsere Schutzmacht, dem Urauftrag des Staates?

Die Lebenslänglichkeit des Beamten sichert nicht nur den Arbeitsplatz, sondern festigt vor allem die Loyalität der Mitarbeiter, die noch vor 25 Jahren von 65 Prozent der Deutschen als eine „privilegierte Klasse“ gesehen wurden.[2] Daran wird sich wohl nichts geändert haben. Eine Forsa-Umfrage ergab, dass 61 Prozent der Bürger den Staat bei der Erfüllung seiner Aufgaben für überfordert halten. Kein sehr positives Urteil. Das war vor Corona. 2019.[3]  Das spricht nicht gerade für eine Legitimation auf der Basis eigener Leistung. „Überall (…) arbeiten Beamte auf Lebenszeit mit stark herabgesetztem Arbeitsplatzrisiko, dafür aber mit hoher Unabhängigkeit“, schrieb 1992 Klaus Otto Nass (1931–2017), ehedem Staatssekretär und Völkerrechtler an der Universität Hannover.[4]

Da kam die Verheißung auf lebenslange Anstellung allen zupass. Nun aber wird es eng. Denn an der Seitenlinie steht ein mächtiger Feind, einer der alle Verhältnisse umdrehen kann. Aus einer Bundespost mit angehängter Paketpost wurde unter der Herrschaft von Amazon eine Paketpost mit angehängter Briefpost. Doch das war ja nur das Vorspiel. Die eigentlichen Attacken kommen noch. Und sie werden  alle Ebenen staatlichen Handelns traktieren.

Sie greifen nicht das Gewaltmonopol des Staates an, sondern sein bislang sorgsam gehütetes und bestens verstecktes Datenmonopol. Es ist das Big Thing, das der Staat bislang für sich selbst beanspruchte – als ein irgendwie gesetzlich verbrieftes Monopol. Aber darüber redet er nicht gerne.

Alle Daten gehen vom Volke aus.

Doch dieses Datenmonopol wird ihm, dem Staat, von fremden, zudem auch noch ausländischen Mächten mehr und mehr streitig gemacht. Es lauert die Gefahr des imperialen Datentotalitarismus. Dem Staat droht dabei in seinem Bemühen, seine Autorität zu schützen und zu wahren, eine weitaus größere Gefahr als von wildgewordenen Finanzmärkten oder wütenden Medien.

Die Gefahr kommt von den Digitalkonzernen, wie er sie gerne mit abfälligem Unterton nennt. Sie sind die teuersten Unternehmen der Welt, Firmen, die wie Facebook vor 20 Jahren entweder noch gar nicht existierten oder wie Google oder Amazon geheimnisumwittert waren. Die, die wie Microsoft und Apple schon länger im Geschäft waren, glaubte man im Griff zu haben. Pustekuchen. 

2007: »Cyberspace ist gesetzloses Territorium,
zumeist außerhalb wirksamer Regierungskontrolle.«

 Michael Stürmer (*1938), deutscher Historiker

Heute treiben diese Giganten die staatlichen Bürokratien in aller Welt vor sich her, nur vor autokratischen Systemen kuschen sie schon einmal und bringen den Steuerstaat in Bedrängnis. Prompt schlägt er zurück: „Wenn Amazon, Apple und Google sich im Rahmen der Globalisierung die günstigsten Lücken im Steuerrecht aussuchen, dann kann der Staat auf dieselbe Weise die Gewaltenteilung umgehen und alle gesetzlichen Hemmnisse abstreifen, seine Stärke, die im Innern gebunden ist, im Außenraum endlich ausleben“, meinte 2014 der deutsche Schriftsteller Günter Hack (*1971). Der Horizont wird überschritten. Es gibt kein Halten mehr. Die ganze Widersprüchlichkeit einer unkontrollierten Kontrolle hatte damals der Whistleblower Edward Snowden aufgedeckt, als er die weltweiten Geheimdienstaktivitäten der USA und Großbritanniens bloßstellte. Hack: „Snowden hat nichts weiter getan, als den Stöpsel aus der Badewanne dieses Leviathans zu ziehen, nun liegt das mythische Monstrum nackt vor uns und windet sich.“[5] Ja, der Staat windet sich.

Der Rechtsstaat wackelt, je mehr er sich zum Machtstaat aufschwingt. Er schlägt unreflektiert um sich. In seiner Gier, alles zu kontrollieren oder kontrolliert zu sehen, hat er sich selbst nicht mehr im Griff. Er kauft „Steuersünder–CDs“ von Informanten, die auf illegale Weise die feilgebotenen Daten erworben haben.[6] Immer wieder bohrt er in Deutschland nach der Vorratsdatensammlung. In Großbritannien boxte Premierminister Boris Johnson ein Gesetz durch, das die Regierung ermächtigt, in den EU-Brexit-Nachverhandlungen Rechtsbruch zu begehen, wenn er sein „Sicherheitsnetz“ bedroht sähe.[7] In den USA ließ sich ein Präsident durch nichts und niemanden mehr bändigen. Und. Und. Und.

Selbst die Gerichte demonstrieren mit aller Macht – ihre Ohnmacht. „An die Stelle der Vernunft tritt der Wille, an die Stelle der Wahrheit das Interesse“, schreibt Volkmann. Und man musste in jenen bereits verdrängten Corona-Monaten nur nach Asien schauen, um zu erkennen, wie Regierungen alles Recht hinter sich lassen. Schon war man eher bereit, sich den Wünschen Chinas zu unterwerfen als den Berechtigten Ansprüchen des NATO-Partners USA zu folgen.

Aus alldem kann man wunderbare Verschwörungstheorien mixen und dabei sogar die besten Denker und Dichter als Kronzeugen auffahren lassen. Das ist umso leichter, weil an der Oberfläche all die Elemente, die man für eine schlüssige Verschwörungstheorie braucht, sehr kompakt sind und sich geradezu beliebig miteinander konfigurieren lassen. Wir sind schon längst voll in der gedanklichen Virtualisierung aller Lebensverhältnisse. Gekämpft wird jetzt um die Oberhoheit. Da ist der Bürokratie die Autokratie Chinas näher als die Demokratie Amerikas, der Staatsanspruch wichtiger als der Privatanspruch der Digitalkonzerne. 

»Der Staatsmann muss die Dinge rechtzeitig herannahen sehen und sich darauf einrichten. Versäumt er das, so kommt er mit seinen Maßregeln meist zu spät.«

Otto von Bismarck (1815–1898), deutscher Staatsmann    

Der lange Zeit sich gedemütigt fühlende, beleidigte Staat lässt nach und nach alle Hemmungen fallen und nutzt jede Chance, seine Macht zu demonstrieren. Ihm mangelt es dabei an genau jener Sittlichkeit, die Hegel dereinst von ihm  forderte. „Es steht schlecht mit dem Ansehen des Staates in unserer Welt“, hatte 1971 der Philosoph Helmut Kuhn (1899–1991) geschrieben, „Hegel hatte ihm Göttlichkeit zugeschrieben – ein Prädikat, auf das er keinen Anspruch hat.“[8] Aber der Staat versucht’s immer wieder, ein Teufel mit Heiligenschein, der sich – wie es der „deutschen Innerlichkeit“ zu bemächtigen sucht. So nannte es der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Thomas Mann (1875–1955), als er am 29. Mai 1945 in der Library of Congress in Washington in einer Rede erklärte, dass „es nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug. Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute.“ Eine harte Aussage von jemandem, der damals gerade an seinem Doktor Faustus arbeitete. Der Staat ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und doch nur das Böse schafft.

Nein, nein, das ist unerträglich. Für den Staat.

Auch jetzt sucht er ja das Gute – im Namen seiner Sittlichkeit. Der Staat sucht die Hoheit über Wirtschaft und Gesellschaft, über Forschung und Entwicklung, über unser Zuhause und unsere Arbeit. Über uns. Seine Motive sind vielfältig. Im tiefsten Innern – vielleicht gar nicht im vollen Maße bewusst – befürchtet er indes, dass die mächtigen Digitalkonzerne ihm weit voraus sein könnten. Es ist eine uralte Angst, die vor langer Zeit von den Giganten der Wirtschaft erzeugt wurde – von den Rockefellers, J.P. Morgans, von AT&T und IBM. Diese Riesen standen im Verdacht, die Macht nicht nur über ein Land, sondern über die ganze Welt zu übernehmen.

Wer zu mächtig wird, das lehren uns vor allem die USA, dem droht staatlicherseits die Zerschlagung. Und die Europäer machen es ihnen nach, obwohl in Geld lieber ist. Auch die Chinesen agieren so. Dabei wäre eine Zerschlagung per Richterspruch gar nicht nötig. Denn in der Zwischenzeit vernichten sich die Wirtschaftsriesen zumeist selbst von ganz allein. Aber solange mag und kann der Staat nicht warten. Er will derjenige sein, dem das Verdienst zukommt, die Kontrolle behalten zu haben. Jedenfalls möchte er diesen Schein wahren. Vor allem aber will er sich selbst schützen.

So gehen die Kartellämter, Teil der Exekutive, nicht der Jurisdiktion, gerne in Position gegen Google und Facebook, Amazon und Apple. Und die Parlamente folgen treu und brav: „Diese Firmen haben zu viel Macht“, hieß es 2020 in einem 449 Seiten starken Report des US–Repräsentantenhauses, an dem die Abgeordneten über ein Jahr lang gearbeitet hatten.[9] Die Digitalmächte hätten „ihre Monopolmacht ausgenutzt, um sich als Torwächter des Marktes“ aufzuführen, meinte der Republikaner Ken Buck.[10] Irgendwann werden sie vielleicht sogar die Torwächter des Staates sein, ihn kontrollieren, statt von ihm kontrolliert zu werden.

Die Big Four oder auch Big Five sind die neuen Götter, die das Potenzial besitzen, die alten Institutionen zu zerschmettern. Es wäre die Fortsetzung der „Dialektik der Aufklärung“ im 21. Jahrhundert. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schauen vom Philosophenhimmel herab fasziniert zu.

Das amerikanische Ehepaar Alvin und Heidi Toffler, dereinst die Weltstars unter den Zukunftsforschern, hatte 1994 in dem Buch „Überleben im 21. Jahrhundert“ vorgeschlagen, sogar das Führen von Kriegen Privatkonzernen zu überlassen.[11] Heute alles machbar: Amazon sorgt für die Logistik, Facebook für die Soldaten, Apple für die Walkie-Talkies, und Google steuert die Waffensysteme. All die anderen Digitalkonzerne können das Ganze noch mit ihren Systemen arrondieren. Eine bürokratische Supermacht ließe sich konfigurieren, die auch den Frieden managen kann und dabei „die moralische Beurteilung vollständig vom menschlichen Handeln trennt, aufgrund der Wahnvorstellung, die Welt vollständiger zu machen, als sie ist“, möchte man Zygmunt Bauman zitieren, der dies 1993 auf die Potentiale einer „bürokratischen Ordnung der modernen Welt“ bezog. Nichts anderes sind die Digitalgiganten: die Bürokraten des 21. Jahrhunderts. Wir wissen es nur noch nicht. Auf jeden Fall – so unser teuflischer Verdacht und unsere diabolische Unterstellung – hätten sie mit ihren ungelernten, unterbezahlten, jederzeit kündbaren Mitarbeitern die Pandemie besser gemanagt.

Die Angst davor, dass Digitalkonzerne den Staat an den Rand drängen könnten, ist durchaus real. Die Digitalisierung bindet schon jetzt mehr Bürger an diese Konzerne, als es einem Staat gefallen kann. Nur noch ein  autokratischer Totalstaat wie China kann das Geschehen auf diesen Plattformen rigoros kontrollieren. Ein gewaltiges Dilemma tut sich somit auf. Denn der Erfolg der Chinesen legitimiert Nachahmung. Der Staat schützt dabei weniger seine Bürger als vielmehr sich selbst – nicht vor uns, sondern vor diesen Digitalkonzernen.

„Wir leben in einer Welt, in der eine Handvoll Technologiefirmen und eine größere Gruppe von Milliardären, denen sie gehören, eine Macht besitzen, die beinahe absolut ist – unangefochten nicht nur von der Politik, sondern auch von den Medien“, schrieb 2016 Evgeny Morozov (*1984), amerikanischer Publizist weißrussischer Abstammung, in der `Süddeutschen Zeitung‘.[12] Dagegen helfen auch nicht die  Datenschutzgrundverordnung und alle anderen „Acts“. Sie sind eher ein Zeichen der staatlichen Schwäche. Denn sie werfen die Verantwortung zurück auf den einzelnen Bürger, schützen ihn nicht wirklich.

Um dem Bürger zu helfen, müsste der Staat die Erfassung, das Sammeln und Speichern von Daten grundsätzlich verbieten, also auch sich selbst. Weil er das natürlich nicht will, ist so etwas wie die Grundverordnung nur eine Attrappe, ein Ausdruck der Hilflosigkeit, eine Bestimmung ins Unbestimmte. Zugleich unternimmt der Staat immense Anstrengungen, um seine Kontrolle auszuweiten. „Es sind großflächige Identifikations- und Speicherpflichten für Bezahlvorgänge vorgesehen, die ein deutliches Zeichen setzen: Anonymes Bezahlen wird es nicht mehr geben“, warnte im selben Jahr die deutsche Informatikerin Constanze Kurz (*1974), Sprecherin der Chaos Computer Clubs, in ihrer exquisiten, aber wohl nicht mehr wieterverfolgten  ‚FAZ‘–Kolumne ‚Aus dem Maschinenraum‘.[13] Und Markus Morgenroth (*1977), Informatiker und Autor, meinte 2013: „Der Mensch ist digital vermessbar – je mehr Daten zur Verfügung stehen, desto besser lässt sich sein Verhalten entschlüsseln und prognostizieren.“[14] Naja, für die Verhaltens-Steuerung durch die Pandemie reichte es noch nicht, aber das war ja auch nur das Vorspiel.

Dennoch schien es lang so, als würde Corona den alten Schutzstaat wieder in Amt und Würde zu setzen. Alle suchten seinen Schutz – und stärkten ihn anfangs damit in seiner Rolle als Schutzmacht. In Deutschland. In Europa. Überall in der Welt. Das diente auch seiner eigenen Rettung. Der Staat gewann an Vertrauen und Glaubwürdigkeit, um dann im nächsten Augenblich genau die Strategie zu wählen, um sie wieder zu verlieren. Er schützte nur sich selbst.

Durch Corona war anfangs alles abgedeckt. Das Virus garantierte Generalabsolution und versetzte den Staat wieder in den Zustand höchster Sittlichkeit. „Wir werden in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen“, hatte uns der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (*1980) im Frühjahr 2020 gewarnt. Wir ahnen inzwischen, dass dieses gegenseitige Verzeihen oberflächlich bleiben wird. Darunter lauert der alte Leviathan, und er plustert sich mächtig auf – zum Zerplatzen.

Im Zeichen der Pandemie mutierte der Staat zu einem Schutzmonster, zu einem Schuldenmonster, einem Regulierungsmonster, einem Supermonster. Vor allem aber zu einem gigantischen Datenmonster. Überall in der Welt. Das war die Außenwirkung. Nach innen aber wusste er nur zu genau, dass ihm alles aus den Händen glitt. Die Finanzkrise hatte uns doch schon 2008 offenbart, dass der Staat auch nicht annähernd wusste, was er da eigentlich zu kontrollieren und zu regulieren versuchte. Und Wirecard hat ihm dies noch einmal ins Stammbuch geschrieben. Lesen wird er es nicht. Nein, er scholzt sich in die Erinnerunglücken.  

Das Geld, um das es in der Finanzkrise 2007/2008 ging, war in gigantischen Dunkeltaschen der Bilanzen, in Derivaten unvorstellbaren Ausmaßes, versteckt. Unsichtbar. Wie das Virus, das man auch nicht sieht. Da half nur noch Schauspielerei, die Selbstinszenierung. Damals wie heute. Und dieses Geschäft beherrscht der Staat wie kein anderer. Aber dazu muss er uns eine Heimat geben, ein Refugium, einen emotionalen Raum. Und er zog alle Register.

Mal tat er sanft, der Staat, mal machte er Angst. Mal plump und trump, mal merkelte er herum, mal macronte er über allem. Jetzt scholzt er sich durch die Haushalte. Am Ende rastert er sich – auf der Suche nach einer Antwort auf reaktionäre Kräfte in der Bevölkerung – ein in den guten, alten Nationalstaat, dem heimlichen Sehnsuchtsort der Kleinbürger, in dem alles wieder auf Normalmaß schrumpft. Und der brave Bürger möchte gerne sein Wuinschdenken verwirklicht sehen: So schlecht war es nicht, als wir nach dem Krieg unser Selbstbestimmungsrecht zurückeroberten. Alles war überschaubar. Wir bilden uns zurück – nun können wir sogar wieder stolz, auf unsere Fußballnationalmannschaft sein. 2026 wird sie Weltmeister. .

Wir leben in einer Phase der Regression. Aber es sind nicht die fünfziger Jahre, in die wir zurückfallen – in jene Epoche, als die Zahl der Rentner noch klein und wir alle glücklich waren. War damals der Begriff der Menschenwürde, der den Artikel 1 unseres Grundgesetzes ziert, nach Meinung des Rechtsphilosophen Uwe Volkmann noch zukunftsgewandt, so wandelte sich sein Verständnis seitdem komplett: „Mit disparater gewordenen Moralvorstellungen übernimmt die Menschenwürde nun mehr und mehr die Rolle eines Bollwerks, das Tendenzen der Individualisierung, Fragmentierung, Liberalisierung, vielleicht auch der Enthemmung entgegengesetzt wird. So wie sie für die Anfangsjahre der Republik etwas Vorausweisendes  hatte, bekommt sie dadurch nun einen rückwärtsgewandten Zug“, schrieb der Philosoph 2003 in der ‚FAZ‘ unter dem Titel „Vom Ende der Gewissheit“.[15] Also auch ihn hat dieses Unbestimmte, das dieses neue Jahrhundert mehr und mehr in seinen Griff nimmt, erfasst. Unsere Würde ist unsere Maske. Sie schützt uns vor dem Teufel.

Wir besänftigen uns – in einer „Pandemie der Nostalgie“, wie es der 2017 verstorbene Soziologe Bauman in seinem letzten Essay (Retropia) nannte. Drei Jahre später war diese mentale Pandemie überall zu spüren. „Dieses Virus entpuppt sich als Zeitmaschine“, meint der  bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov (*1968) und sieht angesichts dessen, dass uns durch das Virus die Zukunft versperrt ist eine Sehnsucht nach der Vergangenheit. „Die Zukunft ist unmöglich, aber was wir bei der Hand haben, ist alle Vergangenheit der Welt.“[16] Genügt uns dies auf Dauer?  




37 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

„Gehorsam ist die Grundfeste aller Ordnung.“
Sprichwort

Anonym hat gesagt…

Gehorsam ist der erste Schritt zur Selbstaufgabe

Anonym hat gesagt…

Mein Wille wird dem Gehorsam nachlächeln, wenn ich auf dem Weg zur Freiheit bin.

Anonym hat gesagt…

Die Zukunft ist möglich.
Mit uns oder ohne uns!

Anonym hat gesagt…

Einer kleinen Fliege tat das Herze weh;
auch Fliegenliebes-
schmerz ist zäh.
Sie stürzte sich - o jeh,
in den Schaum vom Milchkaffee.
Da lag sie nun, ganz im Weiß
und wußte, Liebeskummer ist ein Scheiß.

Besserwisser hat gesagt…

Ach, ihr Seelendreher,
Ach, ihr Geisterseher,
Kluge Psychologen!
Euch kommt angeflogen,
Was wir nie ergründen:
Unsre dunkeln Sünden,
Unser Weh und Ringen,
Unser Träumen, Singen,
Unser Kämpfen, Gären
Wißt ihr zu erklären.
Ihr kennt wohl Bescheid
Tief in unserm Leid.
Ängsten uns die Hexen,
Sprecht ihr von Komplexen.
Starren aus den Ecken
Fratzen, die uns schrecken,
Quält uns Gott und Satan,
Gleich rückt euer Rat an,
Und prophetisch-pythisch,
Psychoanalytisch
Sucht ihr krumm und grade
Unsre Seelenpfade.
Eure Worte alle
sind die Mausefalle,
Uns mit Speck und Brocken
Aus uns selbst zu locken.
Eure Lehrergesten
Sollen die Gebresten
Unsrer Seele meistern. —
Dringt mit euern Geistern,
Seid ihr noch so weise,
Nicht in unsre Kreise!
Haltet euch bescheiden
Hinter unsern Leiden!
Schleicht nicht wie die Diebe
Uns in Haß und Liebe!
Sonst kann sichs begeben,
Daß wir uns beleben,
Daß sich unsre Hemmung,
Sperrung und Beklemmung
Plötzlich eurer wehrt
Und euch fliegen lehrt,
Werte Psychologen,
In graziösem Bogen.
Erich Mühsam (1878 - 1934, ermordet im KZ Oranienburg), Schriftsteller, Anarchist und Pazifist, Hg. der Zeitschriften "Kain" und "Fanal"

Anonym hat gesagt…

> Man soll sich nicht in Häuschen laben, wo die Bewohner Läuschen haben.
(E. Mühsam )

Anonym hat gesagt…

Was ist denn das Volk, wenn es souverän ist, wenn die legislative Gewalt nicht von ihm herrührt? Das Volk ist der Wächter des Gesetzes, es ist die exekutive Gewalt.
Pierre-Joseph Proudhon (1809 - 1865), einer der Begründer des Anarchismus

Anonym hat gesagt…

Von deutschen Dichtern lies am meisten die, die soviel wie Mühsam leisten.

Anonym hat gesagt…

Naja das gilt ja so nicht mehr .
Begründer des Anarchismus?

Anonym hat gesagt…

Einer der Begründer: Er gilt jedenfalls als einer der ersten Vertreter des solidarischen Anarchismus und setzte sich für Mutualismus und Föderalismus ein. Vielzitiert ist der Satz „Eigentum ist Diebstahl“ aus seiner Schrift Qu’est ce que la propriété? Ou recherches sur le principe du droit et du gouvernement.

Anonym hat gesagt…

Das gilt so nicht mehr? Wer sagt denn sowas?? Der König von Deutschland???🤦‍♂️

Analüst hat gesagt…

„Der Teufel ist der Sündenbock Gottes.“
Graffity

Anonym hat gesagt…

Solidarischer Anarchismus und Föderalismus?
3 Begriffe die man sich vielleicht querdenkern aber nicht zusammen denken kann.
Wie geht das denn zusammen?

Anonym hat gesagt…

Das Volk ist die legislative Gewalt, denn Gesetze werden vom Parlament beschlossen, das vom Volk gewählt wird, nicht von Anarchisten bestimmt.

Anonym hat gesagt…

Solidarität bedeutet, dass alle Menschen aufeinander Rücksicht nehmen – auch wenn sich daraus kein eigener Vorteil ergibt. Das kann gerne auch in einem Bündnis geschehen – Föderalismus. Solidarität sowie gegenseitige Hilfe gegen die „kapitalistische Ausbeutung“ kann durchaus auch formell besiegelt werden.
Der Anarchismus zielt mit der freien Vereinbarung auf die Stärkung der Kraft des Individuums. Die freie Vereinbarung soll in einer Gruppe von Gleichen ohne hierarchische Strukturen Handlungsfähigkeit ermöglichen; sie schließt nicht die Ergänzung durch einen Vertrag aus, dessen Aufkündigung Konsequenzen hat.

Analüst hat gesagt…

"Das Volk ist die legislative Gewalt, denn Gesetze werden vom Parlament beschlossen, das vom Volk gewählt wird, nicht von Anarchisten bestimmt."
Dann wären die Anarchisten ja Könige! Das ist nicht gewollt.

Anonym hat gesagt…

Da muss man viel kiffen, wenn man sich das als Realität vorstellen will.

Anonym hat gesagt…

Anarchisten wollen die Gesellschaft sich selbst regeln lassen, etwa über Räte, freie Übereinkunft oder rein funktionale Entscheidungen, mit den Worten von Pierre-Joseph Proudhon: „Anarchie ist Ordnung ohne Herrschaft.

Besserwisser hat gesagt…

in Deutschland wird Anarchie nicht funktionieren. Warum? Ganz einfach: Wir sind obrigkeitshörig!

Analüst hat gesagt…

Der Staat hat keine Motive - außer im Königreich: L'État, c'est moi!

Anonym hat gesagt…

Dann ist Anarchie Utopie

Anonym hat gesagt…

Der Marxismus meint Anarchie anders. Die sich selbst regulierende Marktwirtschaft sei eine Anarchie der Produktion, die Kräfte verschleudert und deshalb durch eine regulierte und ordnende Zentralwirtschaft ersetzt werden muss.
Da sollte mal Marx mit Proudhon das ausdiskutieren und mich bis dahin in Ruhe lassen.
Zwischenzeitlich produziere ich mal in meiner geordneten Cannabisplantage meine neue Sorte Karl.

Anonym hat gesagt…

Anarchismus - Anachronismus

Anonym hat gesagt…

Mit der antiautoritären Kindererziehung hat man das in den 1970ern probiert, mit (durch)schlagendem Erfolg.

Anonym hat gesagt…

Doch!
Briefmarkenmotive.

Besserwisser hat gesagt…

Was der Maxismus meint, ist mir doch egal

Anonym hat gesagt…

Hat er gehabt! Heute ist die Post längst nicht mehr der Start

Anonym hat gesagt…

Ich kann nur aus eigener Erfahrung sagen: Diskussionen mit Marxisten lohnen nicht, denn sie sind unbelehrbare Theoretiker, die in einer Parallelwelt leben

Anonym hat gesagt…

Das trifft sich!
Wie ich den Marxismus kenne, ist dem auch egal was sie meinen.
Nur mit einem kleinen Unterschied: der Marxismus meint nicht - er weiß.

Anonym hat gesagt…

Der Minister stellt doch immer noch die Marken vor, wenn ich mich nicht täusche.

Anonym hat gesagt…

Da sieht man, wohin Anarchie führt: soviele Beiträge gab's selten.

Anonym hat gesagt…

Aber nicht dem zitierten Erich Mühsam. Dieser hat sich in den 1920ern für die Zusammenarbeit von Anarchisten und Kommunikation eingesetzt. Hätte mich interessiert, wie er meinte, dass das funktionieren sollte.

Anonym hat gesagt…

👍 das habe ich sehr schnell gelernt 🥴

Anonym hat gesagt…

Klar ist Anarchie eine Theorie - genau wie Christentum, Demokratie, Marxismus oder Islam. Immer hapert es an der Umsetzung durch den fehlerhaften Menschen😉

Anonym hat gesagt…

🤣🤣🤣 so wie der Bundespräsident die Olympischen Spiele eröffnet und damit der Geldschneiderei Tür und Tor öffnet

Anonym hat gesagt…

...und Kommunisten (nicht Kommunikation)