Montag, 29. Juli 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 65): Adenauer

 

1817: „Du zählst nicht mehr, berechnest keine Zeit,
Und jeder Schritt ist Unermesslichkeit.“

Johann Wolfgang von Goethe, in dem Gedicht “Prooemion“


Auge in Auge
mit Adenauer

Von Raimund Vollmer

 

 

Mönchengladbach 1965. Das genaue Datum habe ich nicht notiert. Ich habe gar nichts notiert. Aber die Erinnerung ist jederzeit in meinem Kopf abrufbar. Es war zu jener Zeit, in der wieder einmal Bundestagswahlkampf war. Adenauer kommt, hieß es. Der alte Mann kämpft für jemanden, den er eigentlich für unfähig hält. Als seinen Nachfolger. Er kämpft für Bundeskanzler Ludwig Erhard. Aber davon weiß ich nichts. Ich bin 13 Jahre alt, und ich will nur später einmal sagen können, dass ich den großen alten Mann mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört habe.

Ich bin Untertertianer, wie es damals noch hieß, um elitär auszudrücken, dass man auf dem Gymnasium ist. Achte Klasse. Stiftisch Humanistisches Gymnasium in Mönchengladbach, eine Feuerzangenbowlenpenne. Hier hatte schon der berühmte Philosoph Hans Jonas die Schulbank gedrückt. Vielleicht hat er, Jahrgang 1903, einstmals in meiner alten, mit Tinte vollgeklecksten Schulbank gesessen. Aber davon weiß ich nichts. Ich bin ja noch jung. Mit 13 Jahren sind einem Philosophen fremder als Politiker. Die sieht man wenigstens im Fernsehen. Bei der ARD, in der Tagesschau und seit 1961 bei ZDF. In der ersten Reihe.

Altkanzler Konrad Adenauer hatte seine Rede auf dem Alten Markt beendet. Ich stand ganz hinten, hatte ihn nur schemenhaft wahrgenommen. Doch plötzlich – bei der Rückfahrt des großen Staatsmannes – stehe ich ganz vorne. In der ersten Reihe der Gasse, durch die der alte Mann in seinem Adenauer-Mercedes, meinem Traumauto, auf seiner Weiterfahrt kommen muss. Und da rollt schon der Wagen auf mich zu. Mein Blick ist auf den Fond gerichtet. Da sitzt er. Hut auf. Desinteressiert. Und dann sehe ich, wie er mich anschaut. Ein, zwei Sekunden lang. Sein Augenblick ist plötzlich mein Augenblick. Er fährt an mir vorbei, hat mich schon vergessen. Aber ich, ich habe einen einzigartigen Augenblick ganz für mich allein – für alle Ewigkeit.

Zwei uralte Augen haben mich angesehen. Augen, die Menschen wie Winston Churchill,  John F. Kennedy, Charles de Gaulle, Nikita Chruschtschow in die Augen gesehen haben. Er war dem umstrittenen Papst Pius XII. und dem verehrten Papst Johannes XXIII. begegnet, ebenso Golda Meir und der Queen.

Adenauer hatte – als vierjähriger Junge – 1880 sogar Kaiser Wilhelm I. gesehen. Dessen Sohn, Wilhelm II., hatte ihm 1917, mitten im Weltkrieg, den Titel des Oberbürgermeisters von Köln verliehen. Er war dem von ihm zutiefst verabscheuten Adolf Hitler begegnet, wäre beinahe sogar selbst Reichskanzler geworden. Mit Stresemann als Außenminister. Der stand für Ostpolitik. Adenauer für den Westen. Aber das wusste ich natürlich alles nicht.

Adenauer – ein Mann voller Jahrhunderte überspannende Augenblicke. Und einer davon, wenn er auch noch so winzig war und noch so sehr schnell vergessener Zufall war, einer diese Augenblicke war ich. Ich – ein Augenblick im Mainstream der Zeitgeschichte, der alles unter sich zermalmt.

Es ist dann unser Job, uns zu erinnern.

 

15 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Vielleicht hat ja der junge Jonas die Schulbank des jungen Vollmer höchstpersönlich vollgekleckst??? Who Knows?

Anonym hat gesagt…

„Der Anblick der Unermeßlichkeit der Welt und ihrer Abgründe wird mir helfen, mich von dem Hochmut zu heilen, mich für etwas Besonderes zu halten.“
Friedrich Melchior Grimm (1723 - 1807), Friedrich Melchior Baron von Grimm, deutscher Publizist, Diplomat und Kunstagent

Anonym hat gesagt…

Gerade die Unermesslichkeit der Welt macht einen Jeden zu etwas Besonderem. Ein Teil der Unendlichkeit zu sein, ist mehr, als Teil einer Kitagruppe mit vollgeschissenen Hosen zu sein.

Besserwisser hat gesagt…

Wer hier posten kann, sollte womöglich besser keiner Kita-Gruppe mehr angehören! Aber man weiß ja nie - es gibt durchaus Früchtchen, die auch mit 40 Jahren noch bei den Eltern hausen...

Analüst hat gesagt…

Wenn Verhandlungen das Wohl des Landes im Auge haben, dann setze ich mich auch mit dem Teufel an einen Tisch!

Adenauer im Gespräch mit Journalisten nach den Saar-Abmachungen 1954 zum Journalisten Klaus Otto Skibowski.

Anonym hat gesagt…

Erst eine volle Windel erschließt uns beides: sie kann unermesslich sowie unendlich stinken.

Besserwisser hat gesagt…

Der 2013 verstorbene Skibowski ("ski") betreute ab 1947 die Pressearbeit für den späteren Bundeskanzler Konrad Adenauer, für den er dann bis zu dessen Tod tätig war.

Anonym hat gesagt…

In der Windel schließt sich so mancher Lebenskreis, denn oft prägt sie den Beginn und auch das Ende unserer Existenz auf Erden

Analüst hat gesagt…

Die kürzeste Kreuzworträtsel-Lösung zu unermesslich / unendlich ist 6 Buchstaben lang und heißt immens

Anonym hat gesagt…

Da stimmt was nicht.
Der Pressesprecher des Bundeskanzlers befragt den Kanzler?

Anonym hat gesagt…

"In Osteuropa ist nichts erlaubt, aber alles von Bedeutung; bei uns ist alles erlaubt, aber nichts von Bedeutung."
Philip Roth + amerik. Romancier
1987 zum Schreiben in Ost und West

Besserwisser hat gesagt…

It's Showtime...

Anonym hat gesagt…

Sehr erhellend!
Showtime 1954!

Besserwisser hat gesagt…

Ist doch auch heute noch so, dass Fragen auf Pressekonferenzen gekauft werden. Nur sitzen dann die Pressesprecher auf dem Podium und nicht im Auditorium...

Anonym hat gesagt…

"Es ist von Bedeutung, dass du beharrlich warst; von größerer Bedeutung ist jedoch, dass du nicht gefürchtet hast, nicht beharrlich sein zu können."
Plinius der Jüngere (um 61 - um 113)