Sonntag, 7. Juli 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 58) - (Der Staat sind wir)

 


2000: »Die Stimme des Bürgers wird zur formalen Geste, die nur eine Wahl bestätigt, die anderswo schon getroffen wurde. (Ich habe den leisen Verdacht, dass wir hier schon angelangt sind!)«

Umberto Eco (1932–2016), italienischer Schriftsteller

Die Macht und die Ehrlichkeit

Von Raimund Vollmer

Machen wir ihn also wieder ein bisschen menschlicher, den Staat, diese personifizierte Abstraktion! Denn es gibt ja noch eine andere Macht: die Wirtschaft, die wahre Macht im Staate – vor allem in Gestalt der Finanzwelt.

Als Vorstandssprecher der Deutschen Bank hatte sich Rolf E. Breuer (*1937) im Jahr 2000 gefragt, ob sich angesichts der Globalisierung nicht „das Tempo der wirtschaftlichen Integration (…) von der politischen Sphäre in einem Maße gelöst“ habe, dass  „die Souveränität der Nationalstaaten sowie das Primat der Politik über die Wirtschaft fundamental“ nicht mehr gälte. Natürlich war die Frage rhetorisch gemeint. Als braver Wirtschaftsmann muss er sich vor der Politik verbeugen. Jedenfalls zum Schein. Das gehört sich so.

Die These: Be positive!

Denn das war nur das Vorspiel. In Wirklichkeit wollte der Chef der Deutschen Bank die Finanzmärkte in die Kategorie einer – so seine Worte – „fünften Gewalt“ heben. Er wies ihr neben den Medien „eine wichtige Wächterrolle“ zu. Ob das dem Staat gefiel? Musste dieser nicht schon mit den Medien eine nicht explizit in der Verfassung niedergeschriebenen, eine informelle Gewalt als Wächter ertragen – und jetzt kam auch noch die Finanzwirtschaft mit ihren Börsen, Kursen und Derivaten hinzu?

Neben sich die Macht des Wortes zu dulden war schon hart genug und nun auch noch die Macht des Geldes – welch eine Anmaßung, welche Überwältigung! „Wenn die Politik im 21. Jahrhundert in diesem Sinn im Schlepptau der Finanzmärkte stünde, wäre dies vielleicht so schlecht nicht“, meinte Breuer.[1] Politik im Schlepptau, nicht mehr auf der Kommandobrücke – das war ungeheuerlich! Die Manager des Kapitals als Kapitäne auf hoher See. Was für eine Beleidigung der Politik! Hatte sie nicht schon seit den achtziger Jahren genug getan? Wellen der Privatisierung und Liberalisierung hatten die staatliche Macht zugunsten der Wirtschaft und des Kapitals erodieren lassen, und nun sollte sie sich komplett unterwerfen – und zwar im Zuge der unaufhaltsamen Globalisierung von allem und jedem?

Die Antithese: Be primitive!

Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger hatte darauf schon zehn Jahre vor Breuer hingewiesen. Nicht politische Organisationen, welcher Art auch immer, hätten „die Idee der Weltgesellschaft“ realisiert, sondern „der anonyme Weltmarkt, symbolisiert durch eine Handvoll ikonischer Markennamen und beherrscht von den multinationalen Konzernen, den großen Banken und den parastatalen Finanzorganisationen.“ Die Wirtschaft war die eigentliche Staats-Macht. Sie konfigurierte nun den Superstaat.

Michel Foucault (1926–1984), französischer Philosoph, hatte 1979 mit festem Blick auf Westdeutschland bemerkt: „Mit anderen Worten – und dies ist ein äußerst interessantes Phänomen, das in der Geschichte zwar nicht völlig einzigartig ist, aber doch sehr erstaunlich, zumindest in unserer Zeit – die Wirtschaft schafft das öffentliche Recht.“ Hui, das saß. Das war eine tiefe Kränkung des Staates. Nicht er war der Herrscher, sondern das schnöde Geld. Im Jahr der Wiedervereinigung, 1990, setzte der Viel-, Vor- und Nachdenker Jürgen Habermas (*1929) dem Ganzen noch eins drauf. Er nannte das, was da zusammenwuchs und zusammengehörte, schlicht „DM–Nationalismus“.[2] Die Mark bringt uns zusammen.

Robert Leicht, Edelfeder der Wochenzeitung ‚Die Zeit‘, schrieb fünf Jahre später, 1995: „Nach und nach setzt sich der Primat des Ökonomischen vor der hergebrachten Politik durch: die Wirtschaft aber steht unter dem Diktat der Globalisierung.“[3]

Arme Wirtschaft. Nun musste sie sich von ihrer eigenen Schöpfung herumschubsen lassen!

Doch in Wirklichkeit spielte ihr die Globalisierung in die Hände. Sie rechtfertigte  alles – vor allem den Wunsch nach weniger Staat, Sozialstaat. Die ‚Frankfurter Rundschau‘ mäkelte 1996, dass man auf die „Zerstörung eines Wortes“ ziele, „das im Reich der Mythen verschwinden soll: Sozialstaat.“[4]

Helmut Schmid (1918–2015), der Altkanzler, der nun Herausgeber der ‚Zeit‘ war, schrieb 1999: „Gegenwärtig erleben wir einen vielfältigen Übergang von staatlicher Macht in private Hände.“[5] Drei Jahre später rügte indes Friedrich Merz (*1955), stellvertretender Fraktionschef der  CDU, dass Deutschland zu einer „Staatswirtschaft mit abnehmendem privaten Sektor“ geworden sei.[6] So rächte sich der Staat in einem Maße und mit der größten seiner Mächte, mit der Bürokratie. Jetzt weiß die Wirtchaft wieder, wer Herr im Hause ist. Oder war es doch die Wirtschaft?

Also, Freunde, was war denn nun richtig?

Seit 2020, hatte sich die Sache eindeutig in Richtung Staat gedreht. Meinte  der Rechtswissenschaftler Thomas Vesting (*1958), der die Foucaultsche Formulierung in einem Artikel in der ‚FAZ‘ zitiert hatte: „An die Stelle einer Legitimität des Staates im Ausgang von den Institutionen der Wirtschaft ist ein Diskurs getreten, der ständig neue politische Projekte erfindet, die in ihren Dimensionen nicht groß genug sein können und mit denen die Politik meint, unmittelbar – durch Planung – Verbesserungen etwa im Verhältnis Mensch und Natur erzielen zu können.“[7] Der Überstaat formierte sich, eine ebenso bürokratisch strenge wie diffuse Mischung aus Europa und Nationalstaat. Im Januar 2021 meinte der Journalist und Politikwissenschaftler Nicolaus Busse (*1969) mahnend: „Deutsche Außenpolitik ist immer noch zu weiten Teilen Außenwirtschaftspolitik.“[8] So geht unser Kanzler auf Reisen, so folgt ihm Habeck nach China.

Busse möchte, dass sich das ändert. Er fürchtet, dass wir zu abhängig sind von anderen. Sollen wir also autarker werden? Das sagt er nicht, wahrscheinlich, weil er die Konsequenzen kennt: Mehr Interventionismus, mehr Planwirtschaft.

Die „Planungsphantasie“ überlagere inzwischen alles und kenne, so befand Vesting mitten im Corona-Jahr, keine Grenzen: „Was sind schon präzedenzlose gemeinsame Schulden angesichts eines weiteren Schrittes auf dem Weg zur Realisierung eines souveränen europäischen Superstaates!“ seufzte er. An dessen Spitze stand seit dem 1. Dezember 2019 mit Ursula von der Leyen (*1958) eine deutsche Präsidentin, die sich nun um eine zweite Amtsperiode bewirbt. Wenn dann, wenige Tage vor ihrem ersten Amtsantritt, im Europa–Parlament der „Klimanotstand“ ausgerufen wurde, dann bekommt das schon den Charakter einer  „Politik der Inszenierung“, wie es diese Art einmal der deutsche Rechtsphilosoph Uwe Volkmann (*1960) nannte.[9]

Heute wirkt so vieles derart inszeniert, dass einem jedes Theaterstück dagegen wie die pure Wirklichkeit erscheint.

Neun Monate nach ihrer Amtseinführung war es der EU gelungen, aus den 750 Milliarden Euro Corona-Aufbauhilfe „1000 Projekte für den Klimaschutz“ (Überschrift in der ‚FAZ‘) zu destillieren, die zwei Millionen neue Arbeitsplätze schaffen würden. Mehr noch: 2,3 Gigatonnen an Kohlenstoffdioxid würden vermieden, die Digitalisierung beschleunigt und am Ende werde es ein Investitionsprogramm von einer Billion Euro auslösen. Das Ganze würde mehr Menschen wieder in Arbeit bringen als jene zwölf Millionen Arbeitsplätze, die durch die Corona-Pandemie verschwunden waren. Ein Drittel der Projekte würde „Startups“ zugutekommen, hieß es in einer Studie der EY-Unternehmensberatung (Ernst & Young), die diese im Auftrag der „European Climate Foundation“ erstellt hatte.[10] Solche Inszenierungen imponieren. Daran kann man sich im Augenblick ihrer Veröffentlichung berauschen – auch wenn ihre Realisierung anschließend niemand mehr ernsthaft überprüft. Das ist großes Theater, das selten die Bühne verlässt. Solche Studien sind die Masken, hinter denen sich die Politiker verstecken – wie in den griechischen Tragödien der Antike, in denen die Schauspieler Masken trugen.

Die Synthese: And make a big show! (So die Dialektik eines lieben Freundes.)

Gewendet hatte sich das Blatt 2008. In der Subprime–Krise landeten die Breuerschen „Finanzmärkte“ in den Schlepptau des Staates. Der selbsternannte Wächter, die Finanzwelt, war zum Übeltäter geworden, zumindest zum Mittäter, der mitunter auch mit Cum-Ex & Tax seine Mandanten aus Steuermitteln bedient. Nicht die Fianzwirtchaft sollte fortan den Staat kontrollieren, sondern umgekehrt. Neue Regularien überfluteten die Finanzmärkte, deren Mitspieler sich fortan wie nie zuvor der staatlichen Kontrolle stellen müssen. Genutzt hat es wenig. Beiden, Staat und Finanzwelt als Gespann wurden längst die Masken vom Gesicht gerissen.

Mitten hinein in die Pandemie platzte der Wirecard-Skandal. Nun wurde offenbar, dass der Staat selbst mit der Kontrolle überfordert war – und erst recht mit der Kontrolle der Kontrolle. Und hätte es nicht die (Auslands-)Presse gegeben, wäre gar nichts geschehen. Der Finanzminister selbst, der Scholz aller Zahlen, geriet in die Schusslinie. Sichtbar wurde, dass es keine Trennungslinie, keine Brandmauern gab zwischen Staat, Unternehmer, Wirtschaftsprüfung und den deutschen Medien, die viel zu schwach waren, um das zu treiben, womit sie sich so gerne schmücken: investigativen Journalismus. Im Prinzip war dies ein eklatantes Beispiel für kollektives Kontrollversagen. Wie konnte das geschehen?

„Kontrolle ist gewiss ein entscheidender Aspekt des politischen Prozesses“, meinte 1972 der Soziologe und ehemalige EG-Kommissar Ralf Dahrendorf in seinem Buch ‚Konflikt und Freiheit‘, aber er sah in diesem Prozess zugleich eines der „wichtigsten Probleme moderner Gesellschaften“. Und das ist es bis heute geblieben. „Alle politische Initiative ist in einem Horizont sozialer Möglichkeiten eingebunden“, eine Erfahrung, die wir ja gerade unmittelbar spüren. „Wird dieser Horizont überschritten, so setzt der Widerstand gegen die Entscheidungen ein: Unlust, Abkehr, Abwehr, Protest“. Man könnte hinzufügen: Verschwörungstheorien haben Konjunktur. Dabei unterscheidet Dahrendorf zwischen

– aktiver Öffentlichkeit, die ihre Initiativen selbst definiert, wie es die Umweltszene tut,  

– und einer passiven Öffentlichkeit, die aus dem Halbdunkel ihren Widerstand anmeldet und äußert, wie es sich bei dern Erfolgen der AfD zeigt.

Die Aufgabe der Medien sei es, dazwischen zu vermitteln. Seitdem Dahrendorf dies formulierte, hat sich indes eines deutlich verändert: Alle Seiten leben heute im Modus der Großinszenierung. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Finanzmärkte, Medien, Staat. Man pusht sich gegenseitig hoch, ohne noch nach der Substanz zu fragen. Die Inszenierung ist alles. „Der moderne Staat beruht prinzipiell auf seiner Selbstbegrenzung – ein Satz, der durch faktische Verletzungen im wirklichen Staatsleben nicht umgestoßen wird“, hatte der deutsche Philosoph Helmut Kuhn (1899–1991) vor 50 Jahren geschrieben.[11] Doch er ahnte schon, dass gegen die „Elephantiasis der Verwaltungsmaschinerie“ auf Dauer kein Kraut gewachsen sein würde. Das Überschreiten der Grenze wurde mehr und mehr zur Routine, ein schleichender Prozess, dem der Bürger fassungslos gegenüber steht und sich angwidert zurückzieht. Kuhn:  „Allseitig vom Staate bedrängt, möchte er am liebsten vom Staate nichts wissen.“ Je weniger er aber vom Staat wissen will, desto höher steigt dessen Einsatz, um auf sich aufmerksam zu machen. Die Systeme drehen voll auf. Schließlich hört keiner mehr dem anderen zu. Und die Parlamente, unsere Vertretung, betreiben derweil ihre phantasielose Politik am Katzentisch.

***

Es ist ein blindes Wettrüsten, angeheizt durch die Pandemie, aus dem es – einmal gestartet - wohl kein Entkommen mehr gibt. Bei 750 Milliarden Euro an Unterstützung durch die EU-Bürokratie hörte jedes Vorstellungsvermögen auf. Es war Geld, das in die Wirtschaftsprozesse hineingeworfen wurde. Vielleicht ist das überhaupt der Megatrend hinter allem. „Unternehmen lösen sich auf – in virtuelle Unternehmen, also auf neue Art; oder ganz altmodisch, im Konkurs“, hatte der Soziologe Karl Otto Hondrich (1937–2007) bereits 1997 geahnt.[12] Wozu noch Firmen, wozu noch Institutionen, wenn alles Handeln sich in die Prozesse verlagert. Die Digitalkonzerne machen es uns doch auf grandiose Art und Weise vor. Ja, man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, dass die Virtualisierung aller Prozesse der verzweifelte Versuch ist, unsere völlig aus dem Ruder laufenden Systeme vor dem altmodischen Bankrott zu schützen. Hondrich spürte, was dann auf uns zukommt: „Wo die Institutionen – vermeintlich – sich auflösen, bleibt nur das Individuum als Problemlöser.“ Ein Vierteljahrhundert nach dieser Mutmaßung spricht manches dafür, dass wir selbst die Lösung sein müssen, während um uns herum die Institutionen jedes Maß verlieren. Aber sind wir überhaupt dazu bereit? Eher nein. Dazu sind wir viel zu bequem. Denn wir selbst haben uns längst den Versorgungsprozessen, die uns Amazon & Co. bieten, ausgeliefert. Der Einzelhandel blüht. Im Netz. Aber nicht in den Shops der Innenstädten.

„Den Bürgern muss ihr eigenes Leben wieder zurückgegeben werden“, hatte 2006 der FDP–Politiker Wolfgang Gerhardt geschrieben. „Der dem Recht verpflichtete Staat darf nicht alles. Er kann im Übrigen auch nicht alles. Er tut nur so.“[13] Aber die Digitalkonzerne können es. Sie können, wenn sie wollen, auch Staat. Sie versorgen uns. Sie haben die Logistik. Sie haben die Pläne. Sie haben die Routine. Sie sind schnell, effizient, profitabel. Wie soll da der Staat gegenhalten? Mit noch mehr Regeln und Verordnungen, mit gigantischen Geldsummen und höchster Verschuldung? Er hat eigentlich nur ein Mittel: sein auf dem Gewaltmonopol basierendes Schutzangebot. Wird er’s vermasseln? Wieder einmal?

„Die Angst vor einer unerwarteten Gefahr, die plötzlich über einen hereinbricht kennt jeder“, schrieb zehn Jahre nach Nine–Eleven der deutsche Literaturwissenschaftler Christian Metz (*1975). „Diese geheimnisvolle Bedrohung versetzt uns in einen kontinuierlichen Ausnahmezustand, sie schränkt unser Denken und Handeln ein. Sie bewirkt aber auch, dass wir zunehmend dazu bereit sind, unsere persönliche Freiheit zugunsten von staatlich verordneten Sicherheits- und Überwachungsmaßnahmen aufzugeben.“[14] Keine gute Perspektive.

Diesen „kontinuierlichen Ausnahmezustand“ haben wir im mehrmonatigen Lockdown–Rhythmus durchexerziert. Und im Rahmen dieses Prozesses reduzierten wir uns selbst auf den Staat. Wir verwandeln uns in eine „Unsicherheitsgesellschaft“ (Metz). Und wenn im selben Jahr, 2011, in dem Metz seine Gedanken äußerte, in Warschau eine Kunstausstellung unter dem Thema „Regress/Progress“ eine große Endzeitstimmung aufkommen ließ, dann bemerkte der Kritiker Thomasz Kurianowicz (*1983): „Interessanterweise spielt das Individuum in diesem Kaleidoskop eine untergeordnete Rolle.“ Er bemerkt bei dem Rundgang durch die Installationen, die inhaltlich zwischen Dystopie und Utopie schwanken, dass „der Fortschrittsglaube, der die Wirtschaft jahrzehntelang wie ein Deus ex machina anzupeitschen vermochte, sich in einer tiefen Glaubenskrise befindet. Ja, auch die geradezu religiös anmutende Hoffnung auf ewiges Wachstum schwindet.“[15]

In dieser Ausstellung ahnt die Kunst uns ins Nichts hinein – eine Welt ohne uns. Doch kommt die Gefahr wirklich von uns selbst oder nicht vielmehr von unseren Systemen, die auf dem Weg sind, nur noch sich selbst zu sehen? Allem voran der Staat. „Unser Hirn ist nicht darauf angelegt, die Welt in ihrer ganzen Komplexität und Widersprüchlichkeit abzubilden“, meinte 2017 der Psychologe Ulrich Kühnen (*1968) in dem Heft ‚Reihe 5‘, dem ‚Magazin der Staatstheater Suttgart‘. „Schon der Alltag ist im Prinzip eine permanente Überforderung des Hirns. Um diese Komplexität zu meistern, braucht es Orientierung.“[16]  Genau diese Orientierung fehlt. Kein Wunder, dass dann Verschwörungstheorien ins Kraut schießen. Auch Kühnen verwendet „die Angst vor dem Unbestimmten, vor dem Nichtvorhersagbaren, der Orientierungslosigkeit“, die uns erfasst und der man eigentlich nur mit dem Gefühl der Freiheit, „die man ausfüllen muss“, begegnen kann. Aber der Lockdown war das genaue Gegenteil von Freiheit. Diese sei ein „Wert, den wir alle schätzen sollten, weil er auf lange Sicht für alle großen Nutzen und viele Vorteile bietet“, sagt Kühnen.

Aber Freiheit ersetzen wir lieber durch Vielfalt und fühlen uns wohl, gut und im Reinen mit uns selbst.

Wer die Freiheit an den Katzentisch verbannt, darf sich nicht wundern,  wenn uns der Staat – wie im Lockdown geschehen - mit einer deutlichen Überschreitung seines Horizontes konfrontiert. Deswegen wäre es eigentlich kein Wunder, wenn sich immer wieder massive Gegenwehr regen würde – zumindest  in Teilen der passiven Öffentlichkeit, aber sie tat es nicht immer glücklich, sondern eher unbeholfen. Wir sind Widerstand nicht gewohnt.

Anfangs verhielt sich die deutsche Politik, um mit Dahrendorf zu sprechen, durchaus „marktrational“. Man wusste von vornherein und sagte dies auch, dass die Maßnahmen keineswegs perfekt sein würden. Der Staat kannte seine Grenzen. Die Menschen zogen mit, den Kipppunkt immer vor Augen: Pandemie oder Rebellion. Man ahnte: Beides wäre nicht mehr kontrollierbar – weder durch den Staat noch durch den Bürger. Und diese Ungewissheit, diese Angst, spielte dem Staat voll in die Hände.

Zwischen diesen Extremen lavierte die Politik, die in Deutschland zuerst und lange Zeit auf jede Großinszenierung verzichtete. Sie fühlte sich bei aller nur sanft und konform geäußerten Kritik recht gut aufgehoben, weil die Interessen zwischen passiver und aktiver Öffentlichkeit weitgehend übereinstimmten. Es herrschte monatelang  ein gemeinsamer Wille. Doch wie lange konnte man eine Bevölkerung einsperren? Wie lange konnte man Interessen gleichschalten? Wie lange hielten Menschen das Unbestimmte aus? Wann rebellierten sie? Oder zogen sie sich gar völlig zurück? Letzteres könnte möglicherweise der sich nun entwickelnde Megatrend sein: das Verschwinden. Zwar unter Protest. Zwar verbunden mit viel Querstänkerei, aber am Ende ziehen wir uns zurück in das Nirwana der Corona, die uns virtuell immer noch bindet.

So ist mehr Schein als Sein in unserer Welt.

18 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ja, ich denke auch, dass sich die Bürger vom Staat zurückziehen. Was die in Berlin so im Alltag regieren, interessiert nicht besonders. Wenn es tatsächlich mal zu bunt wird, meckert man dazwischen und weiß, dass dann irgendwelche Lobbygruppen den Ärger aufgreifen. Chatgruppen köcheln ein Thema an. Den Rabatz übernehmen diese dann und dazwischen wehen jedesmal die Fahnen der Gewerkschaften und die Regenbogenfahne.
Der Tagesspiegel veröffentlicht täglich die angemeldeten Demos in Berlin; 20 bis 40 sind es, je nach Tag. Gäbe es die Satierezeitschrift Pardon noch, könnte sie aus den Demothemen eine Kolumne machen.

Anonym hat gesagt…

„Die fantastische Inszenierung einer aufgeklärten Gesellschaft als Grundlage zu deren grenzenlosen Manipulation ist womöglich das größte Verbrechen in der Geschichte der Menschheit.“
Unbekannt - Michel Foucault???

Anonym hat gesagt…

Wer regiert dann den Staat mit, neben der Wirtschaft?
Es ist die amorphe Macht der Subventionsempfänger mit ihren Lobbygruppen, Organisationen, Initiativen, die intransparente Netzwerke geschaffen haben, sich thematisch und anlassbezogen verbünden und mit NGOs zusammenarbeiten.
Diese sitzen wie Zecken am Staat und saugen ihn aus. Lähmen ihn, weil sie unablässig den Staat mit ihren Themen beschäftigen, ihn damit personell aufblähen und sehr darauf acht geben müssen, dass ihre Finger immer in den Geldtöpfen des Staates bleiben.
Ihre Vertreter sitzen in allen Gremien, Ausschüssen, Beiräten, Rundfunkräten, Aufsichtsräten und Beratergremien.
Die Macht der Subventionsempfänger ist gigantisch. Deshalb gehen Subventionen auch immer nach oben - egal wie schlecht es dem Staat sonst auch geht.

Anonym hat gesagt…

Jetzt überwacht sogar das Rote Kreuz das ZDF. Was hat das Rote Kreuz im Vorsitz des Rundfunkrats zu suchen?

Anonym hat gesagt…

So wie die Parteien die Politik übernommen haben - anstatt mitzuwirken - wie es vorgesehen ist, haben Wirtschaft und Lobbygruppen als Gegenstrategie den Staat übernommen.

Besserwisser hat gesagt…

🤮

Besserwisser hat gesagt…

"Jetzt überwacht sogar das Rote Kreuz das ZDF. Was hat das Rote Kreuz im Vorsitz des Rundfunkrats zu suchen?"

Was ist das denn für ein Schwachsinn: Der Fernsehrat vertritt die Interessen der Allgemeinheit gegenüber dem ZDF. Deshalb ist er kein Expertengremium, sondern so vielfältig wie die Gesellschaft selbst. Seine Mitglieder werden von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen entsandt. Der Fernsehrat tagt öffentlich. Sowohl die Tagesordnung als auch die Zusammenfassungen der wesentlichen Ergebnisse der Sitzungen werden im Internet veröffentlicht.
Das Deutsche Rote Kreuz ist mit Sicherheit eine solche Gruppe, ist also völlig zu Recht im Fernsehrat des ZDF vertreten, der als Sachwalter der Allgemeinheit keine Partikularinteressen zu vertreten hat. Er überwacht das Programm, genehmigt den vom Verwaltungsrat beschlossenen Haushalt und wählt den Intendanten oder die Intendantin des öffentlich-rechtlichen Senders. Der Fernsehrat setzt sich aus 60 Vertreterinnen und Vertretern verschiedener gesellschaftlicher Gruppen zusammen.
Die Ex-Bundesministerin Gerda Hasselfeldt wurde vom ZDF-Fernsehrat kürzlich im ersten Wahlgang mit 49 von 53 Stimmen zur Nachfolgerin der bisherigen Vorsitzenden Marlehn Thieme gewählt, die nach acht Jahren im Amt nicht mehr antrat. Hasselfeldt ist heute Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes (DRK). Sie gehört dem Fernsehrat bereits seit 2019 als Vertreterin des DRK an, seit 2022 war sie stellvertretende Vorsitzende.

Also: So what?

Besserwisser hat gesagt…

"Wer regiert dann den Staat mit, neben der Wirtschaft?"

Sind wir das nicht alle – nicht nur die Zecken? Wenn es viele Zecken gibt, gewinnen die natürlich viel Einfluss. Das ist ganz normal. Die Aufgabe wäre also, die sozial schlecht gestellten Menschen – ich rede ungern von Zecken – zu fördern. Es mangelt doch allerorten an Arbeitskräften, wenn ich den Chef des Arbeitgeberverbandes MiesBezahlteDrecksjobs richtig verstanden habe. Oder??? Der sollte mal überlegen, warum das so ist...

Anonym hat gesagt…

Der Fernsehrat vertritt die Interessen der Hörer/Seher, nicht der Allgemeinheit. Er ist u.a. für die Programmstruktur zuständig.
Woher nimmt die Präsidentin des DRK die Zeit für den Vorsitz des Fernsehrats?
Sie leitet eine Organisation mit vielen strukturellen und finanziellen Problemen, die jährlich deutlicher werden.
Der Vorsitz des Fernsehrat s ist eine zeit- und arbeitsaufwendige Beschäftigung. Über ihren Schreibtisch laufen alle Eingaben, Beschwerden, wichtigen Programm- und Senderentscheidungen.
Ihre Aufgabe ist die Einhaltung der Programmgrundsätze.
Mit ihrer Person wird die vom Bundesverfassungsgericht festgelegte Zahl der Politiker umgangen weil sie gleichzeitig CSU-Funktionen ist.
Im übrigen: Schwachsinn verbitte ich mir!

Besserwisser hat gesagt…

Der Fernsehrat gleicht einem Aufsichtsrat. Der ist nicht operativ tätig. Gefragt ist, wie der Name schon sagt, der Rat erfahrener Menschen mit unterschiedlichem Background. Der Zeitaufwand wird vergütet, ist aber überschaubar. Muss im Falle von Angestellten wie Frau Hasselfeldt vom Arbeitgeber genehmigt werden. Wo ist das Problem? Ich finde, das ist eine gute Instanz - das ganze müsste natürlich richtig gelebt werden…
Hasselfeldt ist seit 2017 nicht mehr MdB und zwar noch Mitglied der CSU, aber maximal noch als graue Eminenz, Weil sie kein politisches Amt mehr bekleidet. Ist also keine Politikerin (mehr).

Und noch eine Anmerkung: Waren in der Amtsperiode von 2020 bis 2024 nur 24 Frauen vertreten, sind es nun 45 und damit 75 Prozent. Allein unter den von den 16 Bundesländern Entsandten sind sieben Männer ausgeschieden und durch Frauen ersetzt worden. Eine Entwicklung, die auch die scheidende Vorsitzende Thieme schon beobachtet hatte: »Der Fernsehrat ist seit 2016 weiblicher, jünger, diverser und auch staatsferner geworden. Damit bildet er die Gesellschaft umfassender ab.« Die Vielfalt der Perspektiven habe auch die Diskussionskultur verändert, so die ehemalige Vertreterin der evangelischen Kirche.

Ich finde das ganze fortschrittlich – es müsste nur noch fruchten😉

PS: Und um es angesichts der abstrusen Verschwörungstheorien mit Cato zu sagen: „Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Schwachsinn auch beim Namen genannt werden muss“

Anonym hat gesagt…

Vorschlag zur Güte: Wir sollten den Ball flach halten und uns informieren, zum Beispiel hier: https://www.zdf.de/zdfunternehmen/fragen-an-das-zdf-108.html

Anonym hat gesagt…

Dort steht nur weichgespülte PR.
Es gibt aufgeklärtere Seiten, auch Wiki ist aufschlussreich.

Anonym hat gesagt…

Hier: https://www.deutschlandfunk.de/zdf-fernsehrat-staatsfern-politik-100.html

Anonym hat gesagt…

Nichts kann ein Volk stoppen, dass zu hoffen gelernt hat

Anonym hat gesagt…

Manchmal ist es auch nur sehr gut, wenn ein Volk erkennt, was es nicht will

Anonym hat gesagt…

Hasselfeldt ist noch im Vorstand der CSU

Anonym hat gesagt…

Warum geht es dann den Nordkoreanern so schlecht? Die leben doch in großer Hoffnung seit Jahrzehnten.

Besserwisser hat gesagt…

Wo sehe ich Frau Hasselfeld denn im Parteivorstand?
https://www.csu.de/partei/vorstand/

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