Vorbemerkung: Seit etwa zwei Jahren versuche ich das, was ich mir so im Laufe der Jahre so zusammengeschrieben habe, in einer Abfolge von gesprochenen Filmen zu ordnen. Und zwischendurch experimentiere ich innerhalb des Experimentierens mit weiteren Experimenten. Irgendwann hatte ich im vergangenen Jahr die Idee, das mal in ein Bühnenstück umzusetzen. Da Ihr für mich zwar ein anonymes Publikum seid, ihr mir trotzdem irgendwie vertraut seid, habe ich hier mal einen kleinen Ausschnitt zum Besten. Formuliert hatte ich dies, nachdem ich im Juli 2023 bei Facebook hinausgeworfen wurde.
Ich weiß nicht, was ich
habe, was ich gebe,
und eines empfind ich klar: ich lebe.
Arno Nagel (1877-1943), litauischer Musikwissenschaftler und Schriftsteller
Die Bürokratie - ein Drama
Von Raimund Vollmer
Sprecher 1: Alle wollen alles von uns allen. Der Allstaat, die Allwirtschaft, die Allwissenschaft. Und alle haben die besten Absichten. Dennoch herrscht Angst, abgrundtiefe Angst.
Ich zitiere: „Jeder möchte die Werte der offenen Gesellschaft bewahren“, sagt die norwegische Krimi-Schriftstellerin und Politikerin Anne Holt, geboren 1958, „gleichzeitig aber schaut der Staat tiefer in jedermanns Leben – das macht mir eine Scheißangst. Es wird immer schwieriger eine Privatperson zu sein. Das ist die Kontrolle eines Polizeistaates. Und die Menschen sind bereit, es zu akzeptieren, weil sie Angst haben.“
Gesagt hat sie dies im Jahr 2004. Gegenüber der Tageszeitung ‚Die Welt‘. Es war das Jahr, in dem Facebook gegründet wurde. Der Urknall des Metaverse, in dem nichts und niemand mehr privat ist. Der Weltalgorithmus einer neuen Bürokratie, die sich als unser zweites Ich aufspielt und es ersetzt – durch ein Nicht-Ich. Es ist ein Fremdes in sich selbst. Es saugt uns aus - für sich selbst. Facebook genügt sich selbst.
Der Staat kann uns einsperren, Facebook aber kann uns aussperren. Der Staat tut dies im Namen des Gesetzes, hoffentlich, das andere aber, Facebook & Co., tritt neben das Gesetz. Hier herrscht das Hausrecht.
Aber die größte Sperre ist die Lüge.
Sprecher 2: Wir glauben inzwischen jede Lüge, nicht die plumpe, die dreiste. Wir sind den weißen Lügen ausgesetzt, den Lügen, die die wahren Absichten verschweigen. Wir wollen sie nicht wissen. Wir wollen sie nicht hören. Uns werden sie auch nicht erzählt. Wir glauben an das Gute.
Wir haben eine solche Scheißangst vor der Bürokratie, die uns doch eigentlich alle Angst nehmen soll – in ihrer Fürsorglichkeit, in ihrer Sozialstaatlichkeit, in ihrer Rechtsstaatlichkeit – dass wir mit allem einverstanden sind. Ja, wir haben selbst schon damit angefangen, über uns zu wachen. Und wehe, wir tun das nicht!
Sprecher 1: Aber wahrscheinlich ist das Quatsch. Die Bürokratie wünscht sich eine Welt ohne uns, allenfalls noch in der Rolle eines unkritischen Konsumenten. Schon jetzt schwebt sie über uns, folgt sie allein ihren eigenen Gesetzen. Unsere irdischen Bindungen und Bedürfnisse gelten ihr nichts. Nur Formulare und Vorschriften. Sie sind ihre Methode. Sie halten die Welt zusammen. Sie sind ihr alleiniger Gegenstand.
Bürokrat (Schattenmann): Schluss mit diesem Geschwätz! Wir sind dabei, die Welt in Abermilliarden von Einzelschritten zu zerlegen und in unendliche Lieferketten zu vereinen. In Bits & Bytes. Null und eins. Eins nach dem anderen.
„Bald mehr Bürokraten als Kühe“
Überschrift am 21. April 1998 in der FAZ
Bürokrat: Die Digitalisierung vollzieht sich mit Hilfe von durch und durch rationalen Verfahren und modernsten Technologien. Man nannte dies bis in die achtziger Jahre hinein Electronic Data Processing, Elektronische Datenverarbeitung (EDV).[2] Nur um Ihnen, meine Damen und Herren, einen Eindruck zu geben, in welchem Tempo sich dies vollzog, habe ich für Sie folgendes Narrativ vorbereitet.
Bildschirm zeigt entsprechende Bilder.
Begonnen hatte es etwa 1950, als Röhren in den Rechnern die Relais ersetzten. Dann ersetzten die Transistoren die Röhren. Schließlich kamen die Integrierten Schaltkreise und schluckten die Transistoren. Ein Wandel, der sich innerhalb eines Jahrzehnts vollzog.
Wie war das möglich? Antwort: Durch uns: durch die Bürokraten.
Wir, die vielgeschmähte Bürokratie, wir waren es, die allein über diese Technologien verfügten. Gut, Wissenschaftler auch. Aber die zählen nicht wirklich.
Wirklich anders wurde es 1975. Ab da übernahmen die Mikroprozessoren das gesamte Geschäft. Der PC kam. Das Netz. Seitdem müssen wir uns mit Menschen herumschlagen, mit Usern. Das ist alles andere als rationell.
2023: Seit
über 20 Jahren bin ich
jetzt der Sklave von Jeff Bezos.
Wolfgang Rüger, Antiquar in Frankfurt
Ich weiß, solche Wahrheiten darf man heute nicht mehr sagen. Aber es muss doch gesagt werden. Alles andere wäre verlogen.
Abgang
Sprecher 1: Hast du das gehört?
Sprecher 2: Ja, ich war die ganze Zeit stand-by.
Sprecher 1: Ich auch.
Sprecher 2: Was sagt denn unser Zeitzeuge dazu?
Erstes Ich (RV): Bleisatz, ich sage nur Bleisatz. Jeder Satz war Bleisatz, als ich am 2. Juli 1973 mein Volontariat begann. In Mönchengladbach, nicht in Düsseldorf, über der Königsallee. Zwei Jahre später war alles Fotosatz. Jeder Satz war Fotosatz. Aber geschrieben habe ich auf der Schreibmaschine, erst mechanisch und dann elektrisch – mit Korrekturtaste. Das war Fortschritt genug. Zehn Jahre später hatte ich meinen eigenen Computer, ein Schreibsystem. 23.000 Mark hat der gekostet. Viel Geld, aber ich war mein eigener Herr. Nicht mehr in Düsseldorf, sondern in Reutlingen. Verheiratet, Vater, freier Journalist. Wieder zehn Jahre später, war ich alles in einer Person: Schreiberling, Verleger, Setzer, Publizist. Großartig. Alles, was ich tat, war in meinem Kopf. Alle Prozesse, alle Verfahren. Unwichtig. Hauptsache, ich konnte schreiben. Über das, was in der Welt so geschah.
Sprecher 1: Schreiben? Als sei das wichtig! Chat-GPT schreibt jetzt. Heute spricht auch keiner mehr von EDV. Altmodisch. Jetzt heißt es vor allem IT – Information Technologies. Verarbeitung haben die IT-Systeme nicht mehr im Sinn – sondern Prozesse, Geschäftsprozesse. Und die stecken nicht im Kopf, sondern in der Maschine. Es geht um systemübergreifendes Management. Mit ätherischer Software, möchte man sagen, nicht mit isolierter, irdischer Hardware. Korrekturtaste! So etwas…
Sprecher 2: Mit
der Korrekturtaste gegen die Weltgeschichte – was für ein Größenwahn!
Plakat: Es lebe der historische Prozess, der mich zertrampeln wird wie einen Kuhfladen, und der die alten Gesellschaftsordnungen zertrampeln wird wie ich diesen Tisch.
Jean-Paul Sartre , französischer Schriftsteller, in seinem 1955 uraufgeführten Stück Nekrassow
Bürokrat kehrt zurück Bildschirm ist eingefroren
Bürokrat: Entschuldigt, wenn ich dazwischenfunke. Die Bürokratie hat endlich das Instrumentarium gefunden, das sie braucht, um ihren ständig wachsenden Aufgaben gerecht zu werden. Ich meine damit die Cloud. Hier ist das Feld der Profis, hier findet endlich wieder rasanter technischer Fortschritt statt, von dem die ganze Welt profitieren wird. Ich sage nur: Neuronale Netze, Quantencomputer, Artificial Intelligence, Big Data.
Sprecher 2: Aber ist dieser Fortschritt nicht das Verdienst der Computer Science, der Informatik, der Wissenschaft? Was hat das mit Bürokratie zu tun?
Bürokrat: Alles. Es hat alles mit Bürokratie zu tun. Hier beginnt alles. Hier endet alles. Glaube mir!
Sprecher 2: Ich bin sprachlos.
(Abgang: Bürokrat)
22 Kommentare:
Aus einer Facebook Gruppe rausgeschmissen? Oder wurde der Account insgesamt gesperrt? Letzteres ist gar nicht so ohne weiteres zulässig.
https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/digitale-welt/soziale-netzwerke/konto-bei-instagram-oder-facebook-gesperrt-hier-widerspruch-erstellen-82906
Angst ist ein schlechter Ratgeber, aber ein guter Spion. – Angst essen Seele auf!
Brasilianisches Sprichwort / Rainer Werner Fassbinder
«Glauben heisst: Nicht wissen»
Volksmund
Halte uns, wo wir haltlos gehn,
rate, wo wir ratlos stehn,
sprich du, wo wir sprachlos flehn.
Aus einem alten Pfingstgebet
Ich frage mich: Warum muss ich bei Facebook sein? Welchen klitzekleinen Vorteil habe ich davon? Posten kann ich doch auch hier 😇
Im Bleisatz hatte das Wort noch Gewicht!!!!
Ich ließ mich vor 40 Jahren einen Tag lang von einem Setzermeister im Handsatz unterweisen, weil ich das mal kennenlernen wollte.
Ich habe großes Respekt vor diesem ausgestorbenen Beruf.
"Des Lebens ungemischte Freude ward keinem Irdischen zuteil."
Der Ring des Poykrates
Friedrich Schiller
"Noch keinen sah ich fröhlich enden,
Auf den mit immer vollen Händen Die Götter ihre Gaben streun."
Der Ring des Polykrates
Friedrich Schiller
Ode an Ricarda
So schreiten keine ird'schen Weiber!
Die zeugete kein sterblich Haus!
Es steigt das Riesenmaß der Leiber
Hoch über Menschliches hinaus.
Der Teufel scheißt immer auf den dicksten Haufen
Volksmund
Da hört man auf den höchsten Stufen
Auf einmal eine Stimme rufen:
„Sieh da! Sieh da, Pisotorius,
Die Kraniche des Ibykus!“
😏
Paulus schrieb von Patmos aus,
ihr fehlt mir nicht,
macht euch nichts draus.
Paulus schrieb, bleibt zuversichtlich,
das Klauen bleibt meist ungerichtlich.
Paulus schrieb an die Badenser,
beim Gottesdienst seid ihr oft Schwänzer.
Doch wenn es Messwein gibt, ihr Lieben,
ist nie jemand daheim geblieben.
Paulus schrieb an die Schwaben:
Wenn ihr Wein trinkt, dann aus Baden 😉
Paulus schrieb an die Schwaben-Leut',
bei euch sind nur 2 von 7 g'scheit.
: Paulus schrieb an seine Pälzer,
drei Schoppen reichen für die Hälser.
Paulus schrieb an die Westfalen:
Besser ist’s, für Bier zu zahlen
Paulus schrieb an's Kölner Völkli,
weil es kein Bier gibt,
herrscht ein Woelky.
Kölsch ist auch ein Bier - allen Unkenrufen zum Trotz 😇
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