Montag, 22. Juli 2024

Arche Nova (4): (2024)

Grönemeyer und
die Babyboomer

In Kommentaren zu meinem Beitrag "Arche Nova (2)"  kam das Gespräch auch auf den Sänger Herbert Grönemeyer (Jahrgang 1956). Ich äußerte meine Meinung, dass mir seine Texte eher peinlich seien und mir Anlass zum Fremdschämen gäben. Das war für einige Kommentatoren Grund, meine pauschale Kritik durch Belege aus seinen Liedern zu korrigieren. Da Grönemeyer wie ich zur Generation der Babyboomer gehört, reagiere ich vielleicht besonders empfindlich auf diese Art von Texten. Ich bin von Jugend an ein Bewunderer von Bob Dylan - wegen dessen Texten wie zum Beispiel "Sometimes even the President of the United States has to stand naked" (Aus der Erinnerung zitiert). Dylan hatte uns eigentlich die Schlagertexte ausgetrieben. Aber nicht ganz: deren Süßlichkeiten schleichen sich in die Songs vieler deutscher, besonders populärer Liedermacher wieder ein. So ist mein Empfinden. Beispielhaft daür steht für mich Herbert Grönemeyer.


Ich halte Grönemeyer für infantil im Sinne einer Generation, die vielleicht gerne Kind geblieben wäre und am Ende doch nur kitschig ist. Das ist mir alles zu süßlich - und erinnert mich an eine Aussage von Joseph (Jossif) Brodskij, der - nach seiner erzwungenen Ausreise 1972 aus der Sowjetunion - schrieb, dass "derjenige, der nach außen das Böse bekämpft, sich automatisch mit dem Guten identifiziert und sich für einen Träger des Guten zu halten beginnt". Im Grunde entzieht man sich damit der Verantwortung. Er bezog dies damals auf politische Bewegungen, aber als Dichter natürlich auch auf seine persönliche Verantwortung. Als einen solchen "Träger des Guten" hält sich meines Erachtens Herbert Grönemeyer, was bei Bob Dylan nie der Fall war und bei Brodskij ebenfalls nicht. Beide bekamen den Literaturnobelpreis - und zwar nicht deshalb, weil sie zuckersüße Texte schrieben.

Der Text von Brodskij, aus dem ich zitiere, erschien 1972 in der "Zeit", ich habe ihn nicht gegoogelt, sondern seit damals aufbewahrt. (Vielleicht findet ihr ihn dort: 24. November 1972, "Blick zurück ohne Zorn".) Da er physisch auch Teil meiner "Arche Nova" ist, habe ich ihn jetzt beim Stöbern wiedergefunden und muss sagen, ich war auch nach 50 Jahren mehr als beeindruckt. Ich war baff über das, was dieser Mann damals geschrieben hat. 

Grönemeyers Lied "Kinder an die Macht", das in den Kommentaren zitiert wird, hat insofern eine große Bedeutung für uns als die Generation der "Babyboomer", weil es unsere Haltung entlarvt - unfreiwillig und schräg. Denn wir machen die Kinder zu "Träger des Guten", jenes Guten, mit dem wir uns identifizieren. Im Grunde genommen steht dahinter eine infantile Sehnsucht nach einer Welt, die es nie gab und nie geben wird, weil wir selbst durch unser Verhalten die Hoffnung darauf zerstört haben. Und dafür müssen wir auch die Verantwortung übernehmen.

Grönemeyers Lieder treffen auf das, was der Philosoph Odo Marquard (1928-2015) bereits 1987 als "wachsende Illusionsbereitschaft" bezeichnet hat. Er schreibt: "Das hängt damit zusammen, dass unter Wandlungsbeschleunigungsbedingungen unsere Lebenserfahrung immer mehr veraltet. Denn in unserer Beschleunigungswelt kehren - wo sie sich durch immer schnellere Innovationen  verändert - jene Situationen immer seltener wieder, in denen und für die wir unsere Erfahrungen erworben haben. Darum rutschen wir - statt durch stetigen Zuwachs an Erfahrungen erfahren und weltkundig, d.h. erwachsen zu werden - zunehmend immer wieder in die Lage derer zurück, für die dieWelt überwiegend neu, unbekannt, fremd und undurchschaubar ist: in die Lage der Kinder. Die Welt bleibt uns fremd, und wir bleiben weltfremd. Wir werden nicht mehr erwachsen." (Die Welt, 20. Dezember 1987, Odo Marquard: "Von der Schnelligkeit der Welt und der Langsamkeit des klugen Menschen", auch dieser Artikel it physisch Teil meiner Arche Nova) 

Ich gebe zu, dass ich auch nicht frei bin von dieser Sehnsucht zurück in die Kindheit - und so sage ich oft spaßeshalber: "Wenn ich noch einmal auf die Welt komme, dann als Kind". Und damit ist nun dieser doppeldeutige Satz auch Teil meiner "Arche Nova", genauso wie dieser Beitrag. 

P.S.: Ansonsten möchte ich mich für die Kommentare bedanken, die mir sehr zu Herzen gingen und doch den Eindruck vermitteln, dass wir uns als Erwachsende fühlen. ;-)

Raimund Vollmer

29 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Aus
“gut” und “böse” aus der Perspektive der Philosophie
Von Armin G. Wildfeuer
Qualitätsurteile haben die Eigenschaft, dass die Feststellung der in ihnen ausgedrückten Qualität abhängt von einer bestimmten Hinsicht. Etwas ist „richtig“ oder „falsch“ immer in Hinsicht auf etwas, oder eben „gut“ oder „böse“ in Hinsicht auf etwas. Diese Hinsicht oder Relation zu einem Qualitätsmaßstab ist unverzichtbar, um überhaupt einen benennbaren und rational plausibilisierbaren Grund zu haben, warum etwas „groß“ oder „klein“, „schön“ oder „hässlich“, oder eben „gut“ bzw. „böse“ genannt wird. Auch kann etwas nicht in der gleichen Hinsicht gleichzeitig „gut“ oder „böse“ genannt werden. Im Hinblick auf den gleichen Qualitätsmaßstab schließen sich die gegensätzlichen Urteile mithin wechselseitig aus. Wohl aber kann das Gleiche in unterschiedlicher Hinsicht einmal „gut“ und einmal „schlecht“ genannt werden. Gerade dieser immer mögliche Wechsel der Hinsichten ist der Grund, warum es zu konflikthaften Dissensen in der qualitativen Beurteilung von Sachverhalten und Handlungen kommt: denn die Qualität von etwas kann sich in unterschiedlichen Hinsichten ganz anders darstellen. So kann z.B. eine Handlung in der einen Hinsicht verboten, aus einer anderen geboten und wieder aus einer anderen bloß erlaubt sein.

Im Konflikt stehen also immer unterschiedliche Qualitätsmaßstäbe der qualitativen, moralischen oder ästhetischen etc. Einzelbeurteilung von etwas. Wenn unterschiedliche qualitative Urteile zu ein und demselben Sachverhalt aufeinanderprallen, prallen evtl. sogar letzte Deutungshorizonte aufeinander, innerhalb deren sich die Diskutanten jeweils zu einem bestimmten Urteil berechtigt fühlen können. Solche Deutungshorizonte können unterschiedliche Weltanschauungen, Kulturen oder Religionen ebenso sein wie letzte Ordnungs- und Orientierungsgrößen – so etwa die Natur in der Antike, der sich in der Schöpfung zeigende Wille Gottes im christlichen Mittelalter, oder eben – wie seit der Neuzeit – die praktische Vernunft des moralischen Subjekts.

Anonym hat gesagt…

Ein Nachruf!

Anonym hat gesagt…

Ach Gott, ja.

Raimund Vollmer hat gesagt…

Zu "gut" und "böse" schrieb Brodskij 1972: "Und die Menschheit hat heute die Wahl nicht zwischen dem Guten und dem Bösen, sondern eher zwischen dem Bösen und dem Schrecklichen." Das ist nicht nur verständlicher, sondern auch unerbittlicher.

Anonym hat gesagt…

Grölemeyer: Ich kann mit diesen, mit einem Vorschlaghammer auf Reim gezimmerten Texten nichts anfangen, nur erahnen, dass sie wichtig und neu sein sollen, bemüht anders, bekokst.

Besserwisser hat gesagt…

Nicht alles, was Dylan geschrieben hat, ist es Nobelpreises würdig. Und Brodskys Schmähgedicht „ Über die Unabhängigkeit der Ukraine“ wohl auch nicht. Nur mal so, um die Nachdenklichkeit etwas anzuregen und die Absolutheit der Urteile zu relativieren

Anonym hat gesagt…

Grönemeyer will vor allem unterhalten, vielleicht auch noch etwas zur Nachdenklichkeit anregen. Das kann gefallen, muss aber nicht. Dafür gibt es doch genügend Sender, die auch anderes verstrahlen

Anonym hat gesagt…

Geschmäcker sind eben verschieden. Und das ist auch gut so.

Analüst hat gesagt…

Lay, lady, lay
Lay across my big brass bed
Lay, lady, lay
Lay across my big brass bed
Whatever colors you have
In your mind
I'll show them to you
And you'll see them shine

Raimund Vollmer hat gesagt…

Mein lieber Freund Besserwisser, weder Dylan noch Brodsky, der 1996 verstarb, haben die Weisheit mit Löffeln gegessen, aber sie berühren mich in meiner Seele, die bei Grönemeyer sich am liebsten verkriechen möchte. Sich Grönemeyer und dessen Texten hinzugeben, schafft sie einfach nicht. Der kommt mir vor, als würde er in einer ewigen Pubertät verharren. Für mich gehört er vielleicht nicht zu den Bösen, sondern zu den Schrecklichen (obwohl das zu sagen, jetzt wirkich böse von mir ist). Aber Dabke für Deine (?) vielen, vielen Kommentare, die immer sehr erwachsen klingen (und doch das Kind in Dir (?) nicht verleugnen).

Raimund Vollmer hat gesagt…

Mein lieber Analüst,
vielleicht trifft das uns beide:

I dream the dream
that makes me sad
concerning myself
and the first few friends I had...

Analüst hat gesagt…

👍
With hungry hearts through the heat and cold
We never much thought we could get very old
We thought we could sit forever in fun
And our chances really was a million to one

Besserwisser hat gesagt…

Aus "Hey, Hey, my my" (Into the Black) von Neil Young
...
The king is gone but he's not forgotten (Johnny Rotten, Johnny Rotten)
Is this the story of Johnny Rotten? (Johnny Rotten, Rotten Johnny)
It's better to burn out 'cause rust never sleeps
The king is gone but he's not forgotten

[Guitar Solo]

Hey hey, my my
Rock and roll can never die
There's more to the picture than meets the eye

Anonym hat gesagt…

Bei all den hier diskutierten Unterschieden zwischen Grönemeyer und Dylan haben beide doch eines gemeinsam: man versteht sie kaum🤣🤣🤣

Raimund Vollmer hat gesagt…

... aber wir zitieren ihre Texte...

Anonym hat gesagt…

Grönemeyers Texte sind nicht zum Lesen, sind ja auch nicht als Gedichte geschrieben, eignen sich gerade so zum Singen.
Wenn ich Grönemeyers Texte lese, drängt sich mir die Vorstellung von Zettels Traum (wörtlich) auf: er hatte eine Themenidee, notiert gelegentlich alles was ihm dazu einfällt, anschließend tackert er alles zusammen. Reime, Struktur, Linie, Aufbau, sind ihm egal - ist ja auch egal, gesungen, wenn die Stimmung, die hineingestanzte Seele zum Tragen kommen. Und das kommen Sie, weil die antrainierte Stimme wie aus einer Staublunge die Texte dem Revierkumpel raushustet und ihn zu sich ranholt.
Das hat eigenen Charakter, Stil, Stimmung und - wie jedes eigene - trennt nach Liebhaber und Hasser.

Anonym hat gesagt…

Bitte Grönemeyer nicht zitieren, singen!

Anonym hat gesagt…

Texte aus einer anderen Zeit, und jetzt kann man dazu wieder unbekümmert kiffen und glauben, jede Zeile wäre nur für uns geschrieben.

Anonym hat gesagt…

Grönemeier liebt das Singen, nicht das Text und schon gar nicht das Dichten...

Anonym hat gesagt…

So geh'n Texte auch: „Fahrrad fahr’n“ (zu dem es auch ein herzallerliebstes Video gibt): „Manchmal ist das Leben ganz schön leicht. Zwei Räder, ein Lenker und das reicht…“

Anonym hat gesagt…

Achso, fast vergessen. Von Max Raabe

Besserwisser hat gesagt…

Man hört: Wer singen kann wie Max Raabe, ist klar im Vorteil.
Seeeehr schön...

Anonym hat gesagt…

Bei Herbert Grönemeyer ist es eigentlich journalistische Handwerkskunst wie bei Horst Schlämmer („Immer janz discht dran und knallhart nachjefracht.“).

Anonym hat gesagt…

Oh, ein Feuilletonredakteur vom Stadtmagazin 😃

Analüst hat gesagt…

Max Raabe gelingt sogar die Symbiose von Fahrrad fahr'n und Kinder an die Macht:
https://www.youtube.com/watch?v=RMKLT7ALUyA

Er ist halt auch ein Lebenskünstler

Anonym hat gesagt…

Wer singen kann, hat mehr vom Leben.
Wenn ich auch feststellen muss, dass hier trotz Zeitenwende und bevorstehender Kriegstüchtigkeit wenig gesungen wird.
Die Nahles ist ja auch nicht mehr im Bundestag.
🎶🎶

Anonym hat gesagt…

Künstler und Rentner haben das größte utopische Potential, nämlich die Freiheit zum Abenteuer
(Iso Camartin)

Anonym hat gesagt…

Wo man singt, da lass dich ruhig nieder! Böse Menschen singen keine Lieder…
Volksmund

Anonym hat gesagt…

Lief gestern Abend am TV: REHRAGOUT-RENDEZVOUS ! Hier das Musikvideo „Eine Flasche Bier“! Passt irgendwie

https://m.youtube.com/watch?v=H_eEXqOBYM0