Mittwoch, 6. November 2024

Dienstag, 5. November 2024

Zum Wahltage: Vater und Sohn

 Die Anti-Politik

 Mein Vater, der vor vierzig Jahren starb, war CDU-Mitglied. Und so war er natürlich nicht sonderlich glücklich, als es 1969 zur ersten sozial-liberalen Koalition kam. Ich, der ich damals noch gar nicht wählen durfte, war es umso mehr. Ich freute mich. Endlich Ende der großen Koalition, einer Koalition, die damals wirklich noch groß war

Aber dann sagte er etwas, was fortan mein Denken über Politik nachhaltig prägte. Das sei ja nicht so schlimm, denn im Bundesrat haben  CDU/CSU die Mehrheit und nach zwanzig Jahren der Kanzlerschaft von CDU und CSU seien alle entscheidenden Jobs in der Verwaltung mit Mitgliedern des konservativen Teils besetzt. Zudem würden CDU/CSU im Bundestag die größte Fraktion bilden. So begann damals die heißeste Phase in der noch jungen Geschichte der Bundesrepublik. Sitzungen des Bundestages, zumal dann, wenn Franz-Josef Strauß (CSU) sich mit einer Rede ankündigte und die Debatte im Fernsehen live übertragen wurde, waren regelrechte Straßenfeger. Tagsüber. Dann, wenn die Bundesrepublikaner und Bundesrepublikanerinnen zu arbeiten hatten. Politik war wichtiger als alles andere – und man hatte das Gefühl, keiner hatte zu viel Macht.

Damals lernte ich, dass es gut ist für eine Demokratie, wenn die sie tragenden Institutionen nicht in einer Hand versammelt sind, sondern auf durchaus verzwickte und komplexe Weise auf viele verteilt ist. Die Gefahr einer „totalen Verwaltung“ (Max Horkheimer), sich in eine “totalitäre Verwaltung“ zu verwandeln, bestand kaum. Und die Gewaltentrennung tat ihr Übriges. Das Parlament war die höchste und vornehmste Institution.

Das Charisma der frühen Jahre ist längst verschwunden. Die Leidenschaft, die uns damals über alle Parteigrenzen, alle Differenzen hinweg in gegenseitiger Toleranz  miteinander verband, weicht mehr und mehr einem Gefühl des dumpfen, irrationalen Hasses aufeinander.

In einem mich sehr nachdenklich machenden Essay des Londoner „Economist“ wird diese Tendenz als „negative Parteinahme“ und „Antipolitik“ bezeichnet. Und mit dem heutigen Wahltag in den USA werden wir davon nun ein Paradestück erleben und möglicherweise den Höhepunkt dieser Antipolitik – einer Entwicklung, die mit den neunziger Jahren begann, mit dem Fall der Mauer und dem Fehlen eines äußeren Feindes, der nach altbekannter Weise, den inneren Zusammenhalt stets fördert.

Mit dem Ende des Kalten Krieges verlegte sich stattdessen der Konflikt ins Innere. Von diesen Konflikten haben wir so viele inzwischen, dass der Anteil dessen, was wir gut finden, sich auf ein Minimum reduziert.

Die Wahlen in 50 Ländern zwischen 1961 und 2021 hat der Economist gemeinsam mit Wahlforschern in einer 274 Wahlen umfassenden Studie untersucht – und ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass auf einer Skala von 0 bis 10 bis etwa 1980 die Zustimmung für die eigene Partei gestiegen ist – auf fast acht Punkte. Mit den neunziger Jahren sank sie auf knapp über sieben Punkte. Das wirkt letztlich immer noch stabil. Doch rapide sank die Sympathie für gegnerische Parteien von ehedem mehr als vier Punkten auf fast zwei, sie halbierte sich praktisch. Der Argwohn: es ist fast schon zum Geschäftsmodell der Politik geworden, die latent sicherlich in gewisser Weise stets vorhandene emotionale Ablehnung des anderen zu schüren. Weltmeister darin ist natürlich der Mann, der gerne wieder Präsident der Vereinigten Staaten werden will. Aber wir spüren dies in unserem Land nicht nur in dem sich gegenseitig zersetzenden Verhalten in der Koalition, sondern in den hiesigen Beurteilungen der kriegerischen Auseinandersetzung in Israel und in der Ukraine. Da ist oftmals so viel Scheinheiligkeit dabei, dass man schon gar nicht mehr anders kann, als zu dem Eindruck zu kommen, dass es in Wahrheit nur noch um das Polarisieren geht. 

Wer sich einmal in eine mehr oder minder fragwürdige Position verrannt hat, ist bereit, auch Lügen zu akzeptieren, wenn sie denn der eigenen Meinung dienen und die „negative Parteinahme“ stärken. Ja, man sei sogar bereit, seinen  eigenen Interessen zu schaden, wenn am Ende der Gegner weitaus stärker belastet wird.

Es ist ein ungutes Klima, das auch Deutschland längst erfasst hat. Und ein großer Teil der Politik und der Publizistik wirkt daran mit, weil es die Aufmerksamkeit fördert. Dies ist mehr und mehr unverantwortlich. Und um Verantwortung geht es denen, die da schüren, in der Tat schon gar nicht.

Letzten Endes ist dies aber eine Bankrotterklärung der Politik, die nicht mehr in der Lage ist, eine positive Parteinahme in den Vordergrund zu stellen. Zugegebenermaßen: sie hat auch auf den traditionellen Feldern einer Erfolgsstrategie keine Unterstützung mehr. Wir sehen das Missmanagement in der Wirtschaft, wir sehen den fehlenden Mut auf der Unternehmerseite, wir spüren die Überwältigung aller Lebensverhältnisse durch administrative Verfahren, wir ersticken in Anpassungsprozessen, die eigentlich nur sich selbst zum Ziel haben: die Anpassung. Wir transformieren uns in absolute Sinnlosigkeit.

Es wäre an der Zeit, wieder zurück zu einer positiven Einstellung zu Politik und Gesellschaft zu kommen. Sie wird aber bestimmt nicht über die traditionellen Felder (z.B. Wohlstandspolitik) kommen. Denn wenn die jetzige Periode irgendeinen Sinn hat, dann den, dass es nicht Wohlstand und Technik sind, die Menschen einen und den Hass besiegen. Die Menschen wollen als Menschen wahrgenommen werden – und nicht als Smartphone.

So habe ich vor 65 Jahren Politik erlebt - zwischenmenschlich und nicht medial gepusht. Uns haben vorrangig die Themen bewegt. Und es war auch im Widerstreit der Institutionen ein tolles, intellektuelles Schauspiel, das uns geboten wurde. Heute zanken sie nur noch ums Geld, das in erster Linie dazu dient, sich selbst zu erhalten – und nicht die Aufgaben zu erfüllen, für die man sie dereinst geschaffen hat. Vielleicht ist diese Art der Entfremdung das Grundübel. Wir haben uns alle voneinander entfernt.

Ich weiß, dass ich damals mit meinem Vater gerne über Politik diskutiert habe. Leidenschaftlich von meiner Seite, überlegen von der Seite meines Vaters. Bitterbös wurde es nie, weil er mich verstand und ich ihn mit der Zeit auch.

Raimund Vollmer

Montag, 4. November 2024

Zum Tage: Zu spät

  "Es pflegt leider sehr schnell zu spät zu sein."

Thomas Mann (1875-1955), deutscher Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger

Sonntag, 3. November 2024

Zum Tage: Qualprognose?

 1934: Wer den Geist tötet, tötet das Wort.  Und wer das Wort schändet, schändet den Geist, untrennbar sind sie einander verbunden.  Und immer wieder verliert der Mensch die Sprache, immer wieder entgleitet ihm der Geist, entgleitet ihm das Absolute, immer wieder wird er zurückgeschleudert in das Schweigen seines düsteren Urzustandes, das heute noch die Dumpfheit des Primitiven ist, in seine Grausamkeit, in sein düsteres Leid…

 

Hermann Broch  (1886-1951), österreichischer Schriftsteller, in seinem Vortrag:  „Geist und Zeitgeist“


Samstag, 2. November 2024

Zum Tage: Sprachverbote

"Ganze Literaturen
In erlesenen Ausdrücken verfasst
Werden durchsucht werden nach Anzeichen,
Dass da Aufrührer gelebt haben,wo Unterdrückung war."

Bert Brecht (1889-1956), deutscher Schriftsteller und Dramatiker

 



1949: Brothers in arms

1949: Etwa 20 Prozent der polnischen Armee bestehen gegenwärtig aus sowjetischen Soldaten in polnischer Uniform. So melden es westliche Geheimdienste. 

Journalyse-Quelle: Die Welt

Freitag, 1. November 2024

Zum Tage: Allerhöchste

 Hab Achtung vor dem Menschenbild
Und denke, dass, wie auch verborgen,
Darin für irgendeinen Morgen
Der Keim zu allem Höchsten schwingt!

Friedrich Hebbel (1813-1863), deutscherSchriftsteller

Donnerstag, 31. Oktober 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 70): Detroit versus Deutschland - Erinnerungen an Weltkrieg II (1)

 

Mit dem 2. Weltkrieg steigen die USA endgültig zur Supermacht auf. Wider Willen. Nun liest man, dass die Vereinigten Staaten diese Rolle satt hätten. "America first" heißt es. Wie stark diese Tendenz ist und sich durchsetzen wird, erfahren wir mit den kommenden Wahlen. Grund genug, einmal zurückzublicken in eine Zeit, die für Deutschland die schlimmste in seiner Geschichte war. 

Welt in Trümmern

  Von Raimund Vollmer 

 Es ist das Kriegsjahr 1942. Westlich von Detroit wird eine neue, vierspurige Straße eröffnet, genannt der Industrial Expressway. Er vereint die Autostadt mit dem 30 Meilen entfernten Willow Run zu einem „der größten High-Tech-Zentren“ (‚The Economist‘) der damaligen Welt.[1] Denn hier baut die Ford Motor Company im Auftrag der Regierung seit 1941 die schweren und gefürchteten B-24-Bomber. 1943 verlässt jede Stunde eine neue Maschine die Fabrik. Das braucht Menschen. Das braucht Material. Das braucht Straßen wie diesen Expressway. Hier entstehen aber auch die Motoren, die Stalins Panzer antreiben. Und als sich der sowjetische Diktator Ende 1943 mit dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt traf, meinte Stalin, dass es die Kriegsfabrik Detroit ist, die Deutschland schlagen wird.

Die USA haben wieder einmal ihre gewaltige Logistikmaschine in Gang gesetzt. Diesmal soll sie ein Land vernichten, das wie kein anderes zuvor Not und Elend über die ganze Welt gebracht hat und selbst wie eine einzige Logistikmaschine zu funktionieren scheint: die Kriegsmaschine namens Deutschland.

Als die größte Materialschlacht der Geschichte zu Ende ist, liegt Europa danieder. Deutschlands Städte bestehen nur noch aus Schutt und Asche. Für den Krieg selbst hatten die Deutschen zwischen 1939 und 1945 rund 570 Milliarden Reichsmark aus dem Staatssäckel bezahlt. Geld, das mit einem Anteil von 510 Milliarden Reichsmark allein für die Wehrmacht ausgegeben worden war.[2] Das Ergebnis war verheerend.

600.000 Menschen, darunter 60.000 Kinder, sterben im Bombardement der Alliierten. Deutschland ist ein Schutthaufen aus 400 Millionen Kubikmeter Trümmern. 2,8 Millionen Wohnungen sind vernichtet, 41,2 Prozent von allen. Überall Zerfall. Bombenhagel und schwere Artillerie haben alles zerstört. „Nicht nur die Häuser, Fabriken, Geschäfts– und Verwaltungsgebäude waren vernichtet, auch die unterirdischen Abwasserleitungen waren in den Städten zu hunderten zerschlagen und zerbrochen. Das gleiche galt von den Wasser– und Gasleitungen, Telefonkabeln und elektrischen Stromzuführungssträngen. Sanitäre Anlagen und Wasserleitungen konnten deshalb nicht benutzt werden. Die Frischwasserentnahme war unmöglich, das Wasser musste weit entfernt an einzelnen Pumpen mit Eimern geholt werden.“ So erinnerte sich 1953 die Bundesregierung in ihrem Bericht „Deutschland heute“.[3]

Bundeskanzler Konrad Adenauer schreibt im Vorwort: „Deutschland hatte das Vertrauen der Welt verloren.“   

So ist die Situation in der Stunde Null. Deutschland verdient keine Gnade.

Der Krieg hat 55 Millionen Menschen weltweit das Leben gekostet. Niemand spricht von Befreiung, sondern von Besetzung. Es gibt kein Pardon: „In heart, body and spirit every German is Hitler“, bestimmte erbarmungslos die amerikanische Soldatenzeitung „Stars and Stripes“.[4]

Die Wut auf die Deutschen und das Entsetzen über die Deutschen sind grenzenlos.

Doch der Mann im Weißen Haus, der dieses Nazi–Land „kastrieren“ und keinesfalls befreien will, ist tot. Am 12. April 1945 ist Franklin Delano Roosevelt (FDR) gestorben. Er war bestimmt von dem Gedanken des „industrial disarmament“, wie der Historiker Bernd Greiner vom Institut für Sozialforschung in Hamburg schreibt. „Aber die industrielle Entwaffnung einer hochentwickelten Nation war noch von niemandem versucht wurden. Auf diesem Gebiet gab es weder ausgebildete Experten noch konzeptionelle Blaupausen. Entsprechend ratlos waren die Bürokraten im Schatzamt, im Justizministerium und in den diversen kriegswirtschaftlichen Planungsstäben.“[5] So schreibt Greiner, der mit einer Studie über die „Morgenthau–Legende“ habilitierte. Nun – die Legende war mit dem Tode Roosevelts zu Ende.

Vizepräsident Harry S. Truman übernimmt. Er ist nun Präsident des mächtigsten Landes der Welt, des einzigen, das im Juli 1945 wissen wird, dass es eine Atombombe besitzt.[6]

Mit Trumans Ernennung sind auch die Pläne des bisherigen Finanzministers und Roosevelt-Getreuen, Henry Morgenthau, Makulatur. Jetzt muss er abtreten. Noch 1944 wollte er das Ruhrgebiet stilllegen lassen, Deutschland zerschlagen und unter den Nachbarn aufteilen.[7] Der Historiker Golo Mann erinnert uns daran, „dass die Alliierten bis tief in das Jahr 1945 hinein nicht zur Zweiteilung, sondern zur Vielteilung des Landes umgegangen waren.“ Allenfalls als Agrarstaat sollte Deutschland weiter existieren dürfen. Selbst Segelfliegen würde verboten sein. Deutschland sollte am Boden bleiben, war zur totalen Demontage freigegeben. Das war der Morgenthau-Plan.

„Auf der Seite der Alliierten überschatteten Misstrauen und Argwohn dem besiegten Nazi-Deutschland gegenüber noch jahrelang alle Gefühle“, erinnert sich 1990 die Journalistin Marion Gräfin Dönhoff an diese Zeit. Selbst nach der Gründung der Bundesrepublik befürchteten die westlichen Alliierten, dass der neue Staat „Zuflucht in einer Schaukelpolitik zwischen Ost und West suchen und sich am Ende dem Osten zuwenden“ werde, weil er allein „das bieten könne, worauf es den Deutschen ankomme“, schrieb die einstige Herausgeberin der Wochenzeitung ‚Die Zeit‘.[8]

In wessen Hände würde also dieses Deutschland fallen?


Zum Tage: Dämonen

 „Die Dämonen repräsentieren für mich gewissermaßen die Wege, wie die Welt funktioniert. Anstatt zu sagen, dies sind die Dinge, die geschehen, möchte ich sagen, dies ist die Weise, wie sich Dämonen verhalten.“

Isaac Bashevis Singer (1902-1991), polnischer, später amerikanischer Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger. Er schrieb jiddisch.

 

 

Mittwoch, 30. Oktober 2024

Zum Tage: Selbsttäuschung

 1875: „Unsere tägliche Selbsttäuschung gib uns heute.“

Wilhelm Raabe (1831-1910), deutscher Schriftsteller