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Vor 60 Jahren in der Zeitschrift "Die Zeitung"
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Von Raimund Vollmer
„Computer sind die Dampfmaschinen der neuen Zeit, kein
Betrieb kann sie entbehren“, schrieb 1970 Kurt Blauhorn, Edelfeder beim 'Spiegel',
in seinem Buch „Europa – Erdteil zweiter Klasse?“.
Sein Thema war, wie schon zuvor bei seinem französischen Kollegen Jean-Jacques
Servan-Schreiber „die technologische Lücke“ zwischen den USA und Europa.
Mindestens fünf Jahre sei der Abstand, hieß es damals. Die OECD hatte die Lücke
damals genau ermittelt, aber auf Geheiß der Amerikaner hielt sie das Ergebnis
unter Verschluss. Das „technological gap“ war einfach zu groß.
Die Lücke muss so bedrohlich groß gewesen sein, dass die
Nationalstaaten in den sechziger Jahren begannen, ihre Computerindustrie mit
Milliardensummen an Subventionen aufzupäppeln. Die Abhängigkeit von den USA war
ihnen unheimlich. Zwischen 1967 und 1979, als in Deutschland das mit 1,6
Milliarden Mark ausgestattete. DV–Förderungsprogramm auslief, hatte der Bund vor
allem fünf Firmen gefördert. An sie flossen 80 Prozent der Mittel.
Später sollte der Bundesrechnungshof diesen Fördertöpfen absolute Nutzlosigkeit
attestieren.
War es auch Wahnsinn, so hatte es doch internationale
Methode. Man solle – bei gleichem Preis–/Leistungsverhältnis – den nationalen
Hersteller wie Siemens in Deutschland, ICL in Großbritannien, CII in
Frankreich, Philips in den Niederlanden oder Olivetti in Italien bevorzugen,
hieß es mehr oder minder offiziell. „Die einzige Firma, die von der britischen
Regierung Aufträge bekam, war das heimische Unternehmen ICL“, resümierte 1982
der 'Economist'.
Da schwang mehr mit als nur ein subtiler Hauch von
Protektionismus. Da formierte sich ein „Kartell der Angst“. Das sollte sogar
unter dem Namen Unidata unternehmerische Gestalt bekommen. Siemens, Philips und
CII sollten den Kern bilden. Doch am 19. Dezember 1975 war das europäische
Projekt, als Äquivalent zum Airbus gedacht, bereits zu Ende. Was in der
Flugzeugindustrie gelingen sollte, scheiterte in der europäischen
Datenverarbeitung. „Das ruhmlose Ende der trinationalen Computer-Allianz
Unidata offenbarte auf deprimierende Weise, wie schwer sich europäische
Unternehmen selbst da mit grenzüberschreitenden Kooperationen tun, wo ein
Zusammengehen der einzig erfolgversprechende Weg ist“, schreibt der Journalist
Hans-Otto Eglau 1982 in seinem Buch „Kampf der Giganten“.
Dabei hieß es immer wieder: „Die Computerindustrie ist eine
Schlüsselindustrie.“ Bis in die
achtziger Jahre wurde dies gebetsmühlenartig wiederholt, um Subventionen und
staatliche Eingriffe zu rechtfertigen. Doch der Abstand zu den USA ließ sich
einfach nicht verringern. Im Gegenteil: „Seit der dritten Computergeneration“,
die in den sechziger Jahren geboren wurde, „verliert die Computerbranche in der
Bundesrepublik und Europa technologisch an Boden“, formulierte noch 1987 der „Arbeitskreis
Informationstechnik“ des VDE in einem Strategiepapier „Informationstechnik 2000“.
Vor einem „strategischen Engpass“ stünde die europäische Computerindustrie –
vor allem gegenüber den Amerikanern. Und dann wird die Studie sehr deutlich: „Aus
dem Blickwinkel der staatlichen Forschungsförderung liegt die Bundesrepublik im
Verhältnis zu den USA erheblich zurück.“
Aber an etwaigen Rückständen in der Forschung hatte es wirklich nie gelegen,
sondern an etwas ganz anderem: Die Amerikaner denken ganz einfach weiter und
vor allem großflächiger als die Europäer. Es geht ihnen nicht um die
Technologie an sich, sondern um deren Nutzen und um deren Bereitstellung. Eine
Tatsache, auf die wir uns eigentlich schon vor 150 Jahren hätten einstellen
können.
Damals waren die Vereinigten Staaten von Amerika dabei, ihr
weites Land von Osten nach Westen mit Eisenbahnlinien zu überziehen. Dahinter
stand ein immenser Aufwand, der ohne die Hilfe der Regierung niemals hätte
erbracht werden können. Aber im Wilden Westen war alles möglich. Washington
erteilte ohne Rücksicht auf das Eigentum anderer an Grund und Boden die
Wegerechte, gewährte Straffreiheit bei ziemlich allen Delikten, die im
Zusammenhang mit dem Bau der Eisenbahn standen, und verzichtete auf jedweden
Wegezoll.
1869 stand die erste transkontinentale Bahnlinie.
Bis 1883 errichteten Einwanderer aus Europa und unter härtesten Bedingungen chinesische
Kulis »vier große Strecken quer über den Kontinent, oft in Kämpfen mit den
indianischen Ureinwohnern. Die Nordstaaten gewannen den Bürgerkrieg auch
deshalb, weil es zu jener Zeit schon 20.000 Meilen Eisenbahnstrecke gab, im
Süden aber nur die Hälfte, und die Yankees daher den Nachschub schneller
heranführen konnten«, erinnert sich 1979 'Der Spiegel'. Vor mehr als 100
Jahren, 1916, auf dem Höhepunkt des amerikanischen Eisenbahn-Wunders, verfügte
das Land über 254.000 Meilen und beförderte über den Schienenweg 77 Prozent
aller Frachten und 98 Prozent aller Passagiere.
Die Amerikaner hatten mit ihren Eisenbahnen eine gewaltige
Logistikmaschine errichtet, die in ihrer Wirkung ähnlich war wie die des
Internets. Millionen von Einwanderern waren in die USA gekommen und hatten auf
eigene Faust die weiten Agrarflächen des Westens erschlossen. Parallel dazu war
mit den Eisenbahnen eine Infrastruktur entstanden, die den Amerikanern den
Zugang zu neuen Absatzmärkten eröffneten. Was Nahrungsmittel anbelangte,
avancierten die Vereinigten Staaten zur größten Exportmacht der Welt.
Industriell überholen sie alle anderen Nationen.
Irgendwie war es nicht viel anders als bei der Ausgestaltung
des Internets. Es hatte sich in den neunziger Jahren mehr und mehr selbst
gebaut. Je mehr Menschen dazu kamen, desto stärker lockte die
Kommerzialisierung. Diese immensen Auswirkungen hatte Bill Gates beim Blick auf
das Internet anfangs unterschätzt. Als er aber die Bedeutung dieser
Zukunftsmacht erkannte, beauftragte er in den neunziger Jahren Historiker
damit, genau zu untersuchen, wie das damals war, als die Eisenbahnen gebaut
wurden.
Wahrscheinlich haben die Forscher ihm erzählt, dass man
dafür Typen braucht, die keineswegs zimperlich sind, vor nichts zurückschrecken
und den Segen der Regierung genießen. Doch in Zeiten der Antitrustverfahren
wäre das keine gute Einstellungspolitik für Microsoft gewesen.
Immense Kapitalien waren für den schnellen Ausbau der Eisenbahnstrecken
notwendig gewesen. Es war Geld, das sich die Herren der Stahlrösser
langfristig geliehen hatten. Die Northern
Pacific Railways Corp. hatte zum Beispiel 1896 Schuldverschreibungen in
Höhe von 320 Millionen Dollar aufgelegt – mit einer Laufzeit von 100 und 150
Jahren. Sie mussten dafür als Sicherheit 39 Millionen „Acres“ an Landbesitz hinterlegen.
(Ein Acre sind etwa 4000 Quadratmeter.) Aber das war kein Problem. Denn Geld
wollten sie ja nicht mit Grund und Boden verdienen, sondern mit dem, was über
die Schienenwege bewegt wurde. Mit dem Transport.
Zugleich aber schufen die Eisenbahnen, ohne übrigens für
sich selbst je ihre wahre Wirtschaftlichkeit beweisen zu müssen, mit immensem
Aufwand an Menschen, Material und Kapital einen gewaltigen Markt. Für die
amerikanische Wirtschaft kam diese Logistikmaschine aus Stahl und Eisen, aus
Dampf und Kohle gerade rechtzeitig. Vor dem Ersten Weltkrieg hatten die USA „die
am höchsten entwickelte Eisenbahn“ der Welt, meinte 1991 der britische 'Economist'.
Deshalb war es auch kein Wunder, dass die Industrie des Landes so schnell
wuchs. „Ein
explosiver, unerhörter Wirtschaftsaufschwung beanspruchte fast alle Energien
der amerikanischen Bevölkerung“, schreibt 1964 der Historiker Klaus Schoenthal
in seinem Buch „Amerikanische Außenpolitik“.
Während der eine Teil des Landes der Überzeugung war, dass
die USA sich selbst genügen sollten, standen andere, einflussreichere Kräfte
unter dem Einfluss von Charles Darwin. Dessen Lehre vom „Survival of the
Fittest“ belebte den „alten Glauben an die besondere Mission der Vereinigten
Staaten“ (Schoenthal).
Es war die Zeit eines heute seltsam anmutenden Sozialdarwinismus. Die
Amerikaner überwanden in imposanter Weise die große Kränkung, die durch Darwin
erfolgte Abstufung des Menschen vom Ebenbild Gottes zu einem Derivat der
Primaten.
Die USA befanden sich auf dem Weg in die Massenproduktion,
die mit der Erfindung des Fließbandes Anfang des 20. Jahrhunderts ihren ganz
großen Durchbruch erleben sollte. In der Folge bildeten sich immer mehr Trusts,
deren Entwicklung die Eisenbahnbarone durch besondere Preisnachlässe auch noch
förderten. Kurzum: Eine Hand wusch die andere.
Es war wie beim Internet. Nicht das Netz an sich brachte das
große Geld, sondern das, was darauf transportiert wurde, avancierte zum wahren
Renner und förderte eine Entwicklung, die keineswegs auf die USA beschränkt
blieb. Es kam zum Überfall. Auf Europa.