Freitag, 7. Juni 2024

Zum Tage

 „Ein wunderbares Zeichen dafür, dass der Mensch als solcher ursprünglich philosophiert, sind die Feragen der Kinder. Gar nicht selten hört man aus Kindermund, was dem Sinne nach unmittelbar in die Tiefe des Philosophierens geht.“

Karl Jaspers (1883-1969), deutscher Philosoph

Donnerstag, 6. Juni 2024

Zum Tage: Für Udo 70

 Freiheit ist die Macht, die wir über uns selbst haben.

Hugo Grotius (1583-1645), niederländischer Staatsmann und Jurist

 

Mittwoch, 5. Juni 2024

Zum Tage

 Neugierde ist nur Eitelkeit. Meistens will man nur etwas erfahren, um darüber sprechen zu können.“

Blaise Pascal (1623-1662), französischer Philosoph und Mathematiker

Dienstag, 4. Juni 2024

Zum Tage

 „Eigentlich sollte ich mich schämen, Gott mit meiner Person zu behelligen. Aber seltsam, ich fühle, dass sich Gott mit mir beschäftigt.“

Karl Gutzkow (1811-1878), deutscher Schriftsteller

Montag, 3. Juni 2024

Zum Tage

 Demut ist eigentlich nichts anderes als eine Vergleichung seines Wertes mit der moralischen Vollkommenheit.

Immanuel Kant (1724-1804) deutscher Philosoph

Sonntag, 2. Juni 2024

Zum Tage

 Erfahrung heißt reich werden durch Verlieren.

Ernst von Wildenbruch (1845-1909), deutscher Schriftsteller

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 45): Kultur ohne Kultur

1999: „Im Zeitalter der Trance bewegen sich die Menschen mit den Dingen ausgeglichen. Halb Chip, halb Tiefe, bleibt ihnen kein Zwischenraum, zu reflektieren. Die Dinge sind ihnen eingegeben wie im ersten Zeitalter der Trance die Götter.“

Botho Strauß (*1944), deutscher Schriftsteller

Was den Deutschen abgeht

Von Raimund Vollmer

 „Im XVIII. Jahrhundert beginnt, und seit 1815 eilt in gewaltigen Vorwärtsschritten auf die große Crisis zu: die moderne Cultur“, erkannte der große Schweizer Historiker Jacob Burckhardt (1818–1897) eine Welt, in der alles auf Erwerb und Verkehr ausgerichtet ist. Im Gefolge der Französischen Revolution, aber auch der Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress und die Gründung des Deutschen Bundes (beides 1815) wurde der Begriff Kultur für ihn zum Synonym für Kommerz.[1]  Die „moderne Cultur“ hat nur noch wenig mit Feinsinnigkeit zu tun, mit Bildung, mit Erbauung.

Nach dem Sieg Deutschlands über Frankreich, 1870/71, befürchtete er, dass nun das Profane, das Professionelle über alles andere triumphiert. Und er fragt sich, ob das Militärische, die „Staats- und Verwaltungsmaschine“, Rettung verheißt. Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900) sah es 1888 ähnlich: „Die Cultur und der Staat – man betrüge sich hierüber nicht – sind Antagonisten: ‚Cultur–Staat‘ ist bloß eine moderne Idee.“ Der Philosoph Theodor W. Adorno (1903–1969), Mitbegründer der legendären Frankfurter Schule, schrieb: „Wer Kultur sagt, sagt auch Verwaltung, ob er will oder nicht.“[2] Die Bürokratie erhebt sich über alles, sie beansprucht für sich den Oberbefehl – gerne auch gemeinsam mit der Wirtschaft, aber am allerliebsten noch darüber.

In einem Essay analysiert Nietzsche das, was er unter der Überschrift „Was den Deutschen abgeht“ beobachtet hat: je stärker Staat und Wirtschaft, desto niedriger die Kultur. Nach der Gründung des Deutschen Reiches strotzt dieses Deutschland nur so vor Kraft. Die Konsequenz: „In dem Augenblick, in dem Deutschland als Großmacht herauskommt, gewinnt Frankreich als Culturmacht eine veränderte Wichtigkeit.“ Noch meint Nietzsche, dass die Kultur, nicht Staat und Wirtschaft, „die Hauptsache“ sei, aber in dieser Beziehung „kommen die Deutschen nicht mehr in Betracht.“ Wir sind weg vom Fenster. Kultur ist nichts. Wirtschaft und Staat sind alles. Gespart wird immer zuerst an der Kultur. Sie wehrt sich ja auch kaum. Dabei ist sie – so meinen Beobachter – wahrscheinlich der größte Wirtschaftsfaktor. Nur hat die Kultur nichts zu sagen. Das haben andere, die auch anderes im Sinne haben, andere Hauptsachen. 

So denkt auch der mit Nietzsche offenbar seelenverwandte Burckhardt. Die militärische Macht sei nun die Hauptsache: „Alles andere“ ist „als beliebig, dilettantisch, launenhaft in einen zunehmend lächerlichen Contrast gerathen zu der hohen und bis in alles Detail durchgebildeten Zweckmäßigkeit des Militärwesen“, fürchtet Burckhardt sich 1872 – im Gefolge der Reichsgründung – in einem Brief. Andererseits sorgt er sich um die Arbeiterschaft, um „jene Menschenanhäufungen in den großen Werkstätten“, die dem Markt, also der „Gier und der Noth“, ausgeliefert sind. „Der Militärstaat muss Großfabrikant werden“, fordert er gleichsam den Überstaat. Man dürfe den Markt nicht dem Markt überlassen. Sonst werde wohl alles „zum bloßen business“, ahnt Burckhardt. Es wird alles „wie in America“. Dort übernahm die Wirtschaft, also die neue, vollkommen auf Konsum gerichtete, millionenfach entfesselte Kultur, mehr und mehr den Staat. Mit dieser Entwicklung rücke das Individuum in den Vordergrund – aber nur in seiner erbärmlichsten Gestalt: als Konsument, als Verbraucher.

„Glaube das Neue schon als fertiges zu schauen, nämlich als eine verarmte, materiell sehr reduzierte Welt“, bemerkt Burckhardt. Es ist eine Welt, in der alles transparent wird, nimmt der Historiker des 19. Jahrhunderts fast schon das Big Data des 21. Jahrhunderts vorweg. „Vorhänge können plötzlich weggezogen“ werden, zitiert ihn 1997 der Journalist und Schriftsteller Henning Ritter und spürt in dessen Ausführungen eine Ahnung auf, die tatsächlich weit in die Zukunft weist, in unsere Zeit. „Die Ausleuchtung aller Verhältnisse, eine immer größere Sichtbarkeit und die schwindende Chance, unsichtbar bleiben zu können, abgeschirmt zu sein von einer zudringlicher werdenden Öffentlichkeit“ war nach Meinung Ritters das, was Burckhardt als den „Zug der Zeit“ ansah. 

Der Mensch ist nicht mehr Subjekt, nur noch Objekt. Ja, er ist noch nicht einmal mehr Mensch, er ist Funktion. „Individuelle Leistung ist in standardisierte Effizienz umgewandelt worden“, schrieb 1941 der deutsch-amerikanische Philosoph Herbert Marcuse (1898–1979). Das Individuum, das ja – übersetzt – das „Ungeteilte“ heißt, ist in 1000 Funktionen und Algorithmen zersplittert. Es war die „empirische Sozialforschung“, die diese Welt im 20. Jahrhundert bestens aufbereitet hat. Sie „verfährt so, als ob sie die Idee des sozialen Atoms wörtlich nähme“, warnte 1952 Adorno. In ihren Statistiken sind die Menschen „keine Menschen“, sie sind Sachen und so werden sie behandelt. Adorno meinte, dass die Sozialforschung die Wirkung ihrer eigenen Fragen und deren Wortlaut nicht hinterfragt, sondern das Erfragte „so zurichtet. dass es zum Atom wird“.[3]

Ja, das Hinterfragen ist nicht erwünscht.

Wir sind nicht mehr wir selbst, wir sind atomisiert und können damit leicht irgendwelchen Algorithmen unterworfen werden. Wir selbst sind ohne Eigenwert, wir sind unserer Individualität beraubt,  von vorne bis hinten berechenbar und bewertbar: In Geld, das demnächst alles – jede Transaktion – in Blockchains festhält.[4]

Samstag, 1. Juni 2024

Zum Tage

 Wer sich zwischen den Sternen bewegt, kann nur noch lächeln über die kostbaren Fußböden der Reichen.

Seneca (0-65 nach Christus), römischer Philosoph

 

Freitag, 31. Mai 2024

Zum Tage

Die Seele jeder Ordnung ist ein großer Papierkorb.

Kurt Tucholsky (1890-1935), deutscher Schriftsteller

Donnerstag, 30. Mai 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 44): Die Großen der Wirtschaft und der Protektionismus

 

1984
1975: »Freiheit erzeugt immer Ungleichheit. Und materielle Gleichheit kann nur unter Verlust von Freiheit erreicht werden.«

Friedrich von Hayek (1899–1992), österreichischer Nobelpreisträger[1]


Die Macht der Wirtschaft

Von Raimund Vollmer

Nachdem der Ausbau der Eisenbahnen in den USA vollendet war und mit der Dampfschifffahrt die Seetransport­kosten um 75 Prozent gesunken waren, luden die Amerikaner ihre überschüssigen Waren auf ihre schnellen Frachter und machten sich auf den Weg nach Europa. Vor allem die deutsche Landwirtschaft bekam nun die Getreide-Konkurrenz aus der Neuen Welt mächtig zu spüren. Auch die Industrie geriet durch Stahl-Importe unter Druck. Beide, »Rittergut & Hochofen«, verlangten energisch nach Schutzzöllen. Bismarck musste sich schließlich der massiven Lobby aus Junkern und Stahlbaronen beugen. Er sah ein, dass „wir unsere Tarife zu tief heruntergesetzt“ hatten. Schutzzölle sollten den „Verblutungsprozess“ (Bismarck)
stoppen.[1] So kam es.

Am 9. Juli 1878 verabschiedete der Reichs­tag einen neuen Zolltarif, mit dem der Einfuhr von Eisen zu Schleuderpreisen Einhalt geboten wurde. Das war das Ende einer bis­lang schrankenlosen Wirtschaftsfreiheit. Protektionismus machte sich breit. Staat und Wirtschaft rückten enger zusammen.

Hinzu kam, dass die In­dustriestaaten zwischen 1870 und 1895 infolge von Über­pro­duktion eine Reihe von Krisen durch­machten. Der Freihandel wurde durch Schutzzölle mehr und mehr eingedämmt. Jedes Land ver­suchte, durch Zusam­men­schlüsse und Produktionsverflechtungen die Krisen in den Griff zu be­kommen. In der Folge bil­de­ten sich mit staatlichem Wohlwollen gewaltige Unter­nehmergesellschaften, die national und in­ternational die klei­neren und mittleren Betriebe auszuschalten suchten. Die Gründerzeit war zu Ende. Die Unternehmer mussten mit ansehen, „dass viele staatliche Maßnahmen auf den Unternehmerbetrieb ganz anders wirken als auf den ausgereiften Betrieb“, der von Managern geführt wurde. „Was für den ersten schädlich sein kann, das kann dem zweiten nützen“, befindet der Ökonom John Kenneth Galbraith Galbraith. [2]

Es kam die Zeit der Old Economy.

In Deutsch­land gab es 1907 rund 3,2 Millionen Betriebe. Davon waren nur 0,9 Pro­zent Großunternehmen. Diese

- beschäftigten jedoch 39,4 Prozent aller Arbeiter,

-  nutzten 75,3 Prozent der Dampf­kraft und

-  verbrauchten 77,2 Prozent der Elektrizität.

„Das Deutsche Reich war in seiner Wirklichkeit ein ungeheuer starker, konzentrierter, von dem Motor einer machtvollen Industrie vorwärtsgetriebener Nationalstaat“, schrieb Golo Mann in seiner „Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ über die Kaiserzeit.[3]

In den USA war der Un­ter­schied zwischen Groß & Klein ebenfalls auffällig. 1909 galten dort lediglich 1,1 Prozent aller Unternehmen als Großbetriebe. Es waren Firmen, die mehr als eine Million Dollar umsetz­ten. Doch sie ver­einten 32,8 Prozent der ame­ri­kanischen Produktion. Trusts, Konzerne und Kartelle bildeten bis in den Beginn des 20. Jahrhun­derts hinein die alles überragende Wirtschaftsmacht, verstärkt durch Großbanken, die von Unternehmertypen gegründet worden waren. Darauf deuteten in den USA schon die Namen der  Investmentbanken hin. Sie heißen J.P. Morgan, Goldman Sachs oder E.F. Hutton..

„Es ist das Zeitalter der Großbanken“, hatte für den Historiker Golo Mann die Macht der Geldhäuser in Deutschland eine noch höhere Bedeutung als in den USA. „Meist schon vor 1870 gegründet“, also vor der Bildung des Deutschen Reiches, „werden sie zu Großbanken erst jetzt; zu Organisationen mit Tausenden von Angestellten, mit Marmorpalästen in der Berliner Friedrichstadt, Tempeln des neuen Gottes: Deutsche Bank, Dresdner Bank, Darmstädter Bank, Disconto–Gesellschaft, Berliner Handelsgesellschaft. Sie wachsen an der Industrie, deren Wachstum sie fördern; finanzieren ihre Expansion, beteiligen sich an Neugründungen, gründen selber. Ihre Direktoren sitzen, mitkontrollierend, in den Aufsichtsräten der industriellen Unternehmungen. In keinem anderen Land, sagen uns die Fachleute, besitzen einige wenige Großbanken einen so entscheidenden Einfluss auf die Steuerung wie in Deutschland.“ [4]

Es gab noch einen weiteren Unterschied zu den USA. Hier stand hinter dieser Konzentration aus Konzernen und Kapital nicht nur ein gewaltiger Markt, sondern auch eine lebendige Demokratie. Die USA entdeckten das Individuum, den Konsumenten, als wichtigsten Abnehmer. In Deutschland aber war es der Staat, der als Großabnehmer alle in den Schatten stellte. Er erhebt Anspruch auf alle Rüstungsprodukte.  Und er wird damit gefüttert, bis er platzt.

Über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges sang Bob Dylan in den sechziger Jahren: „The reason for fighting I never did get.“ Auf jeden Fall war dieser Krieg ein fürchterlicher Absturz. Vor allem für Deutschland.


Zum Tage: Am 30. Mai

https://youtu.be/EZ-Ug_1EQg8

Mittwoch, 29. Mai 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 43): Die Ursprünge des Technological Gaps

Vor 60 Jahren in der Zeitschrift "Die Zeitung"

   


Der Angriff über die Logistik

 

Von Raimund Vollmer

„Computer sind die Dampfmaschinen der neuen Zeit, kein Betrieb kann sie entbehren“, schrieb 1970 Kurt Blauhorn, Edelfeder beim 'Spiegel', in seinem Buch „Europa – Erdteil zweiter Klasse?“.[1] Sein Thema war, wie schon zuvor bei seinem französischen Kollegen Jean-Jacques Servan-Schreiber „die technologische Lücke“ zwischen den USA und Europa. Mindestens fünf Jahre sei der Abstand, hieß es damals. Die OECD hatte die Lücke damals genau ermittelt, aber auf Geheiß der Amerikaner hielt sie das Ergebnis unter Verschluss. Das „technological gap“ war einfach zu groß.

Die Lücke muss so bedrohlich groß gewesen sein, dass die Nationalstaaten in den sechziger Jahren begannen, ihre Computerindustrie mit Milliardensummen an Subventionen aufzupäppeln. Die Abhängigkeit von den USA war ihnen unheimlich. Zwischen 1967 und 1979, als in Deutschland das mit 1,6 Milliarden Mark ausgestattete. DV–Förderungsprogramm auslief, hatte der Bund vor allem fünf Firmen gefördert. An sie flossen 80 Prozent der Mittel.[2] Später sollte der Bundesrechnungshof diesen Fördertöpfen absolute Nutzlosigkeit attestieren.

War es auch Wahnsinn, so hatte es doch internationale Methode. Man solle – bei gleichem Preis–/Leistungsverhältnis – den nationalen Hersteller wie Siemens in Deutschland, ICL in Großbritannien, CII in Frankreich, Philips in den Niederlanden oder Olivetti in Italien bevorzugen, hieß es mehr oder minder offiziell. „Die einzige Firma, die von der britischen Regierung Aufträge bekam, war das heimische Unternehmen ICL“, resümierte 1982 der 'Economist'.[3]

Da schwang mehr mit als nur ein subtiler Hauch von Protektionismus. Da formierte sich ein „Kartell der Angst“. Das sollte sogar unter dem Namen Unidata unternehmerische Gestalt bekommen. Siemens, Philips und CII sollten den Kern bilden. Doch am 19. Dezember 1975 war das europäische Projekt, als Äquivalent zum Airbus gedacht, bereits zu Ende. Was in der Flugzeugindustrie gelingen sollte, scheiterte in der europäischen Datenverarbeitung. „Das ruhmlose Ende der trinationalen Computer-Allianz Unidata offenbarte auf deprimierende Weise, wie schwer sich europäische Unternehmen selbst da mit grenzüberschreitenden Kooperationen tun, wo ein Zusammengehen der einzig erfolgversprechende Weg ist“, schreibt der Journalist Hans-Otto Eglau 1982 in seinem Buch „Kampf der Giganten“.[4] 

Dabei hieß es immer wieder: „Die Computerindustrie ist eine Schlüsselindustrie.“  Bis in die achtziger Jahre wurde dies gebetsmühlenartig wiederholt, um Subventionen und staatliche Eingriffe zu rechtfertigen. Doch der Abstand zu den USA ließ sich einfach nicht verringern. Im Gegenteil: „Seit der dritten Computergeneration“, die in den sechziger Jahren geboren wurde, „verliert die Computerbranche in der Bundesrepublik und Europa technologisch an Boden“, formulierte noch 1987 der „Arbeitskreis Informationstechnik“ des VDE in einem Strategiepapier „Informationstechnik 2000“. Vor einem „strategischen Engpass“ stünde die europäische Computerindustrie – vor allem gegenüber den Amerikanern. Und dann wird die Studie sehr deutlich: „Aus dem Blickwinkel der staatlichen Forschungsförderung liegt die Bundesrepublik im Verhältnis zu den USA erheblich zurück.“[5] Aber an etwaigen Rückständen in der Forschung hatte es wirklich nie gelegen, sondern an etwas ganz anderem: Die Amerikaner denken ganz einfach weiter und vor allem großflächiger als die Europäer. Es geht ihnen nicht um die Technologie an sich, sondern um deren Nutzen und um deren Bereitstellung. Eine Tatsache, auf die wir uns eigentlich schon vor 150 Jahren hätten einstellen können.

Damals waren die Vereinigten Staaten von Amerika dabei, ihr weites Land von Osten nach Westen mit Eisenbahnlinien zu überziehen. Dahinter stand ein immenser Aufwand, der ohne die Hilfe der Regierung niemals hätte erbracht werden können. Aber im Wilden Westen war alles möglich. Washington erteilte ohne Rücksicht auf das Eigentum anderer an Grund und Boden die Wegerechte, gewährte Straffreiheit bei ziemlich allen Delikten, die im Zusammenhang mit dem Bau der Eisenbahn standen, und verzichtete auf jedweden Wegezoll.

1869 stand die erste trans­kontinentale Bahnlinie.[6] Bis 1883 errichteten Einwanderer aus Europa und unter härtesten Bedingungen chinesische Kulis »vier große Strecken quer über den Kontinent, oft in Kämpfen mit den indianischen Ureinwohnern. Die Nordstaaten gewannen den Bürger­krieg auch deshalb, weil es zu jener Zeit schon 20.000 Meilen Eisen­bahn­strecke gab, im Süden aber nur die Hälfte, und die Yankees daher den Nachschub schneller heranführen konnten«, erinnert sich 1979 'Der Spiegel'. Vor mehr als 100 Jahren, 1916, auf dem Höhepunkt des amerika­nischen Eisenbahn-Wunders, verfügte das Land über 254.000 Meilen und beförderte über den Schienenweg 77 Prozent aller Frachten und 98 Prozent aller Passagiere.[7]

Die Amerikaner hatten mit ihren Eisenbahnen eine gewaltige Logistikmaschine errichtet, die in ihrer Wirkung ähnlich war wie die des Internets. Millionen von Einwanderern waren in die USA gekommen und hatten auf eigene Faust die weiten Agrarflächen des Westens erschlossen. Parallel dazu war mit den Eisenbahnen eine Infrastruktur entstanden, die den Amerikanern den Zugang zu neuen Absatzmärkten eröffneten. Was Nahrungsmittel anbelangte, avancierten die Vereinigten Staaten zur größten Exportmacht der Welt. Industriell überholen sie alle anderen Nationen.

Irgendwie war es nicht viel anders als bei der Ausgestaltung des Internets. Es hatte sich in den neunziger Jahren mehr und mehr selbst gebaut. Je mehr Menschen dazu kamen, desto stärker lockte die Kommerzialisierung. Diese immensen Auswirkungen hatte Bill Gates beim Blick auf das Internet anfangs unterschätzt. Als er aber die Bedeutung dieser Zukunftsmacht erkannte, beauftragte er in den neunziger Jahren Historiker damit, genau zu untersuchen, wie das damals war, als die Eisenbahnen gebaut wurden.

Wahrscheinlich haben die Forscher ihm erzählt, dass man dafür Typen braucht, die keineswegs zimperlich sind, vor nichts zurückschrecken und den Segen der Regierung genießen. Doch in Zeiten der Antitrustverfahren wäre das keine gute Einstellungspolitik für Microsoft gewesen.

Immense Kapitalien waren ­für den schnellen Ausbau der Eisenbahnstrecken notwendig ge­we­sen. Es war Geld, das sich die Herren der Stahlrösser langfristig geliehen hatten. Die Northern Pacific Rail­ways Corp. hatte zum Beispiel 1896 Schuldverschreibungen in Höhe von 320 Millionen Dollar auf­ge­legt – mit einer Laufzeit von 100 und 150 Jahren. Sie mussten dafür als Sicherheit 39 Millionen „Acres“ an Land­besitz hinterlegen.[8] (Ein Acre sind etwa 4000 Quadratmeter.) Aber das war kein Problem. Denn Geld wollten sie ja nicht mit Grund und Boden verdienen, sondern mit dem, was über die Schienenwege bewegt wurde. Mit dem Transport.

Zugleich aber schufen die Eisenbahnen, ohne übrigens für sich selbst je ihre wahre Wirtschaftlichkeit beweisen zu müssen, mit immensem Aufwand an Menschen, Material und Kapital einen gewaltigen Markt. Für die amerikanische Wirtschaft kam diese Logistikmaschine aus Stahl und Eisen, aus Dampf und Kohle gerade rechtzeitig. Vor dem Ersten Weltkrieg hatten die USA „die am höchsten entwickelte Eisenbahn“ der Welt, meinte 1991 der britische 'Economist'. Deshalb war es auch kein Wunder, dass die Industrie des Landes so schnell wuchs.[9] „Ein explosiver, unerhörter Wirtschaftsaufschwung beanspruchte fast alle Energien der amerikanischen Bevölkerung“, schreibt 1964 der Historiker Klaus Schoenthal in seinem Buch „Amerikanische Außenpolitik“.[10]

Während der eine Teil des Landes der Überzeugung war, dass die USA sich selbst genügen sollten, standen andere, einflussreichere Kräfte unter dem Einfluss von Charles Darwin. Dessen Lehre vom „Survival of the Fittest“ belebte den „alten Glauben an die besondere Mission der Vereinigten Staaten“ (Schoenthal).[11] Es war die Zeit eines heute seltsam anmutenden Sozialdarwinismus. Die Amerikaner überwanden in imposanter Weise die große Kränkung, die durch Darwin erfolgte Abstufung des Menschen vom Ebenbild Gottes zu einem Derivat der Primaten.  

Die USA befanden sich auf dem Weg in die Massenproduktion, die mit der Erfindung des Fließbandes Anfang des 20. Jahrhunderts ihren ganz großen Durchbruch erleben sollte. In der Folge bildeten sich immer mehr Trusts, deren Entwicklung die Eisenbahnbarone durch besondere Preisnachlässe auch noch förderten. Kurzum: Eine Hand wusch die andere.

Es war wie beim Internet. Nicht das Netz an sich brachte das große Geld, sondern das, was darauf transportiert wurde, avancierte zum wahren Renner und förderte eine Entwicklung, die keineswegs auf die USA beschränkt blieb. Es kam zum Überfall. Auf Europa.