Samstag, 11. Mai 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 27) HEUTE: DIE BUNDESREPUBLIK (7)

 „In unserer Welt droht alles zum Markenartikel zu werden.“

Heinrich Böll (1917-1985), deutscher Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger

 

Von Raimund Vollmer 

Befehl und Gewahrsam


„Die Menschen, die ich am meisten respektiere, verhalten sich so, als seien sie unsterblich und als ob die Gesellschaft ewig bestehe“, hat der britische Schriftsteller Edward Morgan Forster (1879-1970) gesagt.[1] Es sind Menschen, die einen Gegenentwurf zu dem haben, was uns heute plagt. Das sind vor allem Künstler, wie Otto Rank, der große und abtrünnige Meisterschüler Sigmund Freuds in seinem Buch „Kunst und Künstler“ schon 1930 analysierte. Doch da haben wir in kollektiver Anstrengung alles dichtgemacht.[2] Wenn jemand trotzdem noch aufmuckt, wird er sofort mundtot gemacht oder in Toleranz erstickt. Nein, Gegenentwürfe gibt es nicht mehr. Wozu auch? Eine Gesellschaft, die einen solchen Gegenentwurf diskutieren würde, existiert ja auch nicht mehr. Es gibt keine Gesellschaft mehr. Die neue Ewigkeitsformel heißt „klimaneutral“. Sie ersetzt alles. Es ist der alles beherrschende Gegenentwurf. Dazu müssen wir uns verhalten. Das ist unser „nachhaltiges“ Innovationsmuster.

Alles andere ist nur noch Ableben, kein Abheben mehr in tausend und ein Thema, wie es sich für eine gute Gesellschaft gehört. Es gibt nur noch einen Befehl, der keinen anderen neben sich duldet: „Stoppt den Klimawandel!“ Das ist die gewaltige Gemeinschaftsleistung, die wir erbringen müssen. Dagegen erstarrt alles andere. Das einzige, was uns sonst noch interessiert, sind Stilfragen wie Laschets Lachen oder Baerbocks Mogeleien. Der hoch angesehene deutsche Althistoriker Christian Meier (*1929) meinte 1994: „Das ganze Land ist verkrustet, und die Kultur auch.“[3] Uns ist der Lebenssaft ausgegangen. Corona brachte dann diese Kultur vollends auf einen demütigenden Mitleidskurs. Was übrigbleibt, sind Sprengsel wie „Cancel Culture“, ein Begriff, so geschmacklos wie das, gegen das er sich richten will. Kultur ist ohnehin nur noch zu reiner Stilfrage verkümmert und zersplittert – Willkommenskultur, Essenskultur, Alltagskultur, Diskussionskultur, Unternehmenskultur. Alles depraviert zu bloßer Methode, wir selber sind nur noch Funktionen. Ist das noch ein Leben? Ist das der neue Mensch? 

Am Vorabend der Corona-Pandemie, am Neujahrstag 2020 knüpfte der hochbetagte Meier im ‚Deutschlandfunk an seine Worte von 1994 an: „Wir leben in einer totalen – vielleicht kann man sogar sagen: anthropologischen – Krise. Was sind eigentlich zukünftig Menschen?“ Was wird aus uns? Meier blickt dabei auf die wichtigste Freiheitsgarantie, auf die Demokratie: „Auf jeden Fall braucht Demokratie ein gewisses Vertrauen untereinander. Es muss eine horizontale Solidarität geben. Also die Solidarität der Menschen untereinander, mit ihresgleichen.“ Demokratie ist mehr als nur Gemeinschaft, Demokratie ist Vielfalt der Ideen, der Gedanken, der Meinungen. Dazu braucht sie vor allem Gesellschaft – und umgekehrt. Aber die Pandemie hat auch die letzten Reste dessen getötet, was uns eine Gesellschaft vor allem bietet: das ewige Gespräch miteinander. Es ist zur Norm erstarrt.  

Nichts ist mehr unsterblich. Nur das Gesetz herrscht ewig, über allem und in uns allen. Als Staat. Dessen Würde zu schützen und zu achten, ist längst unser aller  Verpflichtung und Bürde. Im Staat sind wir ganz im Sinne Hegels „aufgehoben“. Er ist unser letzter Halt, unser Gewahrsam. Er ist unser Ersatz für das Fehlen von Gemeinschaft und Gesellschaft. Alles ist Gesetz. Juristen fühlen sich momentan sauwohl.

Wir sind im Geisterreich der Paragraphen, dem Elysium des Staates, der seit der Gründung der Bundesrepublik um uns herum ein filigranes Beziehungsgeflecht aus 1842 Gesetzen und 3500 Verordnungen mit mehr als 85.000 Einzelbestimmungen erdichtet hat.[4] Zu allem und jedem. Hier sind alle Lebensverhältnisse aufgehoben. „Ordnung, Ordnung über alles, über alles in der Welt“, das ist unsere Strophe – zu unserem Schutz und Trutze. Denken wir. Aber die Gesetze und Erlasse kommen nicht von unseren Abgeordneten, unseren Repräsentanten, den Gesetzgebern. Sie kommen nicht aus unserer Mitte, aus unserer Gesellschaft. Sie kommen noch nicht einmal von der Regierung, sondern von deren Beamten. Sie schreiben nicht nur die Gesetze, sie schreiben vor allem die Gesetze für die Gesetze. Alles ist ‚Procedure‘, alles ist Verfahren. Ausgestattet mit der normativen Kraft des Bürokratischen nehmen sie sich selbstherrlich jedes Problems an – gerne der übergeordneten Art. Sie unterwerfen unser Leben ihren Verfahren. Die Exekutive schafft sich ihre Institutionen, die sie sogar mit legislativer Autorität ausstattet, damit ihr niemand vorwerfen kann, sie sei nicht demokratisch. Die Situation ist Verfahren, großgeschrieben und klein gedacht. 

BISHER ERSCHIENEN


Teil 1: Der Zukunftsschock  // Teil 2: Der Sturz des Menschen // Teil 3: Das Prinzip Verantwortung //Teil 4: Fehler im System // Teil 5: Goethe und der Maschinenmensch // Teil 6: Unter dem Himmel des Friedens // Teil 7: Auf dem Weg ins Wolkengooglesheim // Teil 8: Die Seele und der Prozess // Teil 9: In diktatorischer Vertikalität // Teil 10: Über das Über-Über-Ich // Teil 11: Die demente Demokratie // Teil 12: Welt der Befehle // Teil 13: Fridays sind für die Future // Teil 14: Das Systemprogramm // Teil 15:  Die alltägliche Auferstehung // Teil 16: Vater User, der Du bist im Himmel // Teil 17: Der Prozess // Teil 18: Unter Zeitzwang // Teil 19: Die Uran-Maschine und das Jetzt // Teil 20: Die digitale Stallfütterung // Teil 21: Die unpolitische Politik  // Teil 22: Verordnung statt Ordnung // Teil 23: 1974 - Das verlorene Jahrzehnt // Teil 24: Die Pandemokratie //  Teil 25: Die Kritik der gemeinen Vernunft // Fortsetzung folgt



26 Kommentare:

Anonym hat gesagt…



„In unserer Welt droht alles zum Markenartikel zu werden.“ Böll
--- Ja, wie Böll einer war. Gut beworben, gut vermarktet, gut geseufzt, als Schriftsteller eher von der Qualität eines Sonntagspredigers. Nicht umsonst ist sein moralisches Glockengeläut heute bereits verhallt.

Anonym hat gesagt…

"Moralisch ungläubig ist der, welcher nicht dasjenige annimmt, was zu wissen zwar unmöglich, aber vorauszusetzen moralisch notwendig ist."
Immanuel Kant in "Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen", 1800. Einleitung

Anonym hat gesagt…

Was ist an einem Markenartikel bedrohliches?

Anonym hat gesagt…

Hä? Zu wissen unmöglich, aber moralisch vorauszusetzen?
Wenn ich als Katholik die Bibel nicht verstehe, aber weiß dass es sie gibt, bin ich moralisch ungläubig?

Anonym hat gesagt…

Was man nicht wissen kann, kann man durchaus glauben – oder auch nicht

Anonym hat gesagt…

Ich weiß, dass ich nichts weiß
Sokrates

Anonym hat gesagt…

Wenn der Althistoriker Meier 1954 meint, das Land und die Kultur seien ( damals ) verkrustet, dann hatte er recht. Es fehlte seinerzeit Frau StaatsministerIn Claudia Roth.

Anonym hat gesagt…

Wir haben aber unsere Jubiläen : Kant, Kafka, Beethovens Neunte, 75 Jahre Hessischer Rundfunk (überstanden. Es gibt immer noch lange nachwirkende Kriegsschäden), und ........, ..........,
(bitte ergänzen).

Anonym hat gesagt…

Kann man auch unmoralisch gläubig sein?

Anonym hat gesagt…

Was hat das aber mit Moral und Unmoral zu tun?

Anonym hat gesagt…

Nur den Gläubigen jagt die Unmoral!
Ich bin aus der Kirche ausgetreten und keine Gewissensbisseim Swingerclub.

Anonym hat gesagt…

Dass hier unentwegt Historiker über die Zukunft faseln.....
Ist die Historie zu Ende, dass sie nichts mehr zu tun haben?
Geben Zukunftsforscher auch unentwegt Expertisen über die Vorsokratiker ab?

Anonym hat gesagt…

Auch Swinger sind längst digitalisiert und nutzen kaum noch herkömmliche Swingertreffs - viele Swinger vereinbaren Kontakte bequem über Online-Portale. Natürlich gibt es aber auch noch Oldtimer🤣

Anonym hat gesagt…

Moral ist viel mehr als nur Sexualmoral, sondern die Reflexion über die in der jeweiligen Gesellschaft geltenden Normen und Werte. Nur Eremiten brauchen keine Moral

Anonym hat gesagt…

Die Oldtimer sollten aufpassen, dass die UNESCO nicht vorbeischaut. 😃

Anonym hat gesagt…

Eremiten haben bereits eine Moral, deshalb sind sie's.

Anonym hat gesagt…

Moral geht auch ohne Reflexion.
Z.B. bei den Kirchen.

Anonym hat gesagt…

„Kann denn Liebe Sünde sein?“ zarah leander

Anonym hat gesagt…

Glauben heißt nicht wissen

Besserwisser hat gesagt…

Die Situation ist verfahren, kleingeschrieben und hausgemacht...
Meiers Formulierung der „Krise ohne Alternative“ bedeutet nicht, dass es seinerzeit in Athen und Rom keine Alternative zur Krise der Republik gegeben hätte, sondern dass die damaligen Akteure (zumindest anfangs) über keinen alternativen Entwurf zur bestehenden, in eine Krise geratenen politischen Ordnung verfügt hätten. Das passt auf heute wie A*sch auf Eimer 😎

Anonym hat gesagt…

Die Bäume
Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.
Franz Kafka, 1908

Anonym hat gesagt…

Gesetz, Gefängnis der kleinen Leute.
Manfred Hinrich (1926 - 2015), deutscher Philosoph

Besserwisser hat gesagt…

Interessant das Thema der Dissertation von Dr. Hinrich - "Die Angst. Ihre Rolle in der deutschen Existentialphilosophie am Beispiel Heideggers."

Anonym hat gesagt…

Meier spricht von 1954!
Nicht von Rom.

Anonym hat gesagt…

Klingt interessant.

Anonym hat gesagt…

Die Angst könnte auch eine treibende Kraft dieses Blogs sein. Oder die Sorge, die Vorsicht und die Unsicherheit?