Dienstag, 18. Juni 2024

Zum Tage

 1993: »Das ist doch keine Schande: das Schreiben von Computerprogrammen erzeugt nun mal einen höheren Mehrwert für eine Volkswirtschaft als die Produktion vom Computerplatten.«

The Economist am 20. Februar 1993


Montag, 17. Juni 2024

Zum Tage

 2000: »Wir müssen bei der Technologie die Nummer 1 sein – sowohl auf der Seite des Internets als auch bei Autos.«

Jürgen Schrempp, Vorstandsvorsitzender bei DaimlerChrysler, am 6. März 2000 in Fortune

Sonntag, 16. Juni 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 49): Droht uns China? (4)



Niemals dürfen wir die hochmütige Haltung von Großmacht-Chauvinisten annehmen und wegen des Sieges unserer Revolution und einiger Erfolge bei unserem Aufbau überheblich werden. Jedes Land, ob groß oder klein, hat seine Vorzüge und Mängel.

Worte des Vorsitzenden Mao Tse-Tung, Eröffnungsansprache auf dem VIII. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas 15. September 1956

 

 

Im Jetztstream

 Von Raimund Vollmer 

Unser Bewusstsein bekommt Konkurrenz. Künstliche Konkurrenz. Künstliche Intelligenz. Mächtige Konkurrenz. Sie ist in den Händen von Autokratien ein verführerisches, gottgleiches Instrument, das aber auch – auf lange Sicht – selbst die Regierung übernehmen könnte. 

Die Künstliche Intelligenz ist ein Strom objektiver Erfahrungen, die sich Moment für Moment programmieren. Sie ist das Virtuellste, was es gibt. Sie ist das einzige auf der Welt, das keinen Zweifel kennt – und über kurz oder lang auch ohne uns auskommt. Für immer. Aber ohne Bewusstsein. Automat statt Büromat.

Dieser Automat, dieser verführerische Autokrat, meint es nur gut mit uns. Er nimmt uns das Jetzt ab. Deswegen brauchen wir keine Demokratie mehr, wie wir sie seit der Französischen Revolution kennen.

So denkt offenbar die chinesische Regierung.

Da sie ja die Bevölkerung permanent befragt und auch berät, habe sie allein von der Input-Seite her schon die absolute Legitimität. Denn was der Datenstrom, der Jetztstream erfasst, kann keine Demokratie mit ihren umständlichen Stimmrechten erbringen. Und Wahlergebnisse sind ohnehin nur Momentaufnahmen. Da die kommunistische Partei Chinas zudem eine erfolgreiche Politik betreibe, habe sie auch die Output-Legitimität. Es ist ein fulminantes Konzept, das allerdings nur solange funktioniert, solange der Output stimmt – und nicht nur die PR.

Beim Output aber scheint es momentan zu hapern. Unzufriedenheit mit der wirttschafgtlichen Situation ist das, was die Machthaber in Peking am meisten zu fürchten haben. Das wissen sie seit 1989. Schon deswegen setzen sie auf die digitale Diktatur.

An die Stellen der bewussten Entscheidungen, die das alte demokratische Konzept des Westens verlangt, tritt der permanente Datenstrom. „Extensive, whole-process socialist democracy“, zitiert etwas steif Qin Gang, Chinas Botschafter in Washington, diese Philosophie, die seit März 2021 so etwas wie Verfassungsrang besitzt. Wahlen werden da unnötig. Alles wird fortan in einem unendlichen Prozess der informellen Abstimmung zwischen der Bevölkerung und der Partei  konfiguriert und korrigiert. Aus sich selbst heraus, permanent, eingebettet in den von Politik und Wissenschaft aufmerksam gesteuerten Datenstrom. Die Bevölkerung selbst schwimmt darin als somnambule Wesen, handelt in willigen Reflexen, lebt von Jetzt zu Jetzt, das nunmehr andere steuern.

Wie zum Beispiel in der mehr als umstrittenen Minderheitenpolitik Chinas, besonders im Umgang mit den Uiguren. Da geht es - wie 2018 sogar vor der UNO erklärt wurde – um die „Standardisierung menschlichen Verhaltens“, um auf diese Weise eine „gesellschaftliche Stabilität“ zu erreichen. Was die Partei darunter versteht, kann man in den Umerziehungslagern sehen. Da würden „neue Menschen“ geschaffen, heißt es in einem Bericht von Adrian Zenz, Wissenschaftler an der Stiftung  Victims of Communism Memorial Foundation in Washington, in der ‚FAZ‘: „Ein Augenzeuge beschrieb es treffend: Die Internierten hätten merkwürdig leere Gesichter, sie erschienen seelenlos, wie Roboter.“[1]

Wollen wir solche Zustände? Die BASF ist sehr nachdenklich geworden – und VW steht ebenfalls unter Druck.

Noch sind wir wach und bei vollem Bewusstsein. Als Person. Als Generation, als Menschheit, sogar als zukünftige Menschheit. Das hoffen wir jedenfalls. „Es ist höchste Zeit, dass wir dem nicht mehr tatenlos zusehen“, meinte 2019 der deutsche Anthropologe Zenz. Wir sind alarmiert. Wir haben etwas zu verteidigen: unser Bewusstsein. Wir wissen offensichtlich, wie wir es zerstören können, aber nicht wie es entsteht. Wir ahnen nur: Es ist uns Glaube, Hoffnung, Liebe, kurzum: es ist durch und durch menschlich[2].

Wunderbar, aber eigentlich ohne Platz in dieser Welt. Wir verkümmern zu einem kollektiven Unterbewusten. Wir verlieren unsere Identität, unser Ich, dessen stärlsdtes Ausdruckmittel ist die Sprache. Wir sind dabei, sie an die Algorithmen zu verlieren.

Algorithmen werten längst unsere ureigenste, größten und auch rätselhafteste Errungenschaft aus: die Sprache. Mit positivistischer Gewalt: „Die Herkunft der Sprache bleibt auch nach jahrzehntelanger Forschung ein Mysterium“, meinte einmal der Schriftsteller Tom Wolfe. Die Sprache ist wie das Bewusstsein. „Menschen haben die Sprache erschaffen“, mutmaßt Wolfe. Und sie kann, wie der geniale Schriftsteller uns erzählt, auch ohne Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auskommen. Das lehrt uns im brasilianischen Dschungel der Stamm der Pirahas: „Ein primitives Völkchen, das offenbar sehr glücklich ist. Sie reden nie über die Zukunft oder Vergangenheit, nur über die Gegenwart“, erzählt uns der Schriftsteller. [3]  

Wir staunen und verstehen die Botschaft. Eine Sprache, in der es nur noch die Gegenwart gibt, macht uns glücklich. Und Software ist die Sprache der zeitlosen Gegenwart. Sie kennt nur die Befehlsform.

Autokraten werden eine solche Sprache lieben… 

Vielleicht werden auch wir bald glücklich sein, wenn sich unser persönliches Bewusstsein völlig dem Jetzt und dem kollektiven Bewusstsein ergibt, dem „Tianxia“, der neuen Staatsphilosophie Chinas. Dann wird unser eigenes Bewusstsein eingebettet in einem gewaltigen, ins Unermessliche anschwellenden Datenstrom, dem Ur-Strom, dem Schicksalsstrom unseres Zeitalters, seines eigenen Zeitalters. Wir selbst sitzen am Ufer, blicken völlig verblödet auf die Strömung oder lassen uns von ihr treiben. Jeder Tag ist fortan ein Nullpunkt. Wir sind dement, das heißt „ohne Geist“. Tolle Aussicht. Die Dementokratie.

„Im Grunde genommen befindet sich die ganze Gesellschaft bis auf ganz wenige Ausnahmen in einer Art von psychologischem Streik gegen die Welt“, urteilte 1994 der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk (*1947) und forderte, dass wir endlich wieder unsere Intelligenz, unsere Phantasie walten und wallen lassen. Aber streiken wir wirklich? Nein, wir sind vielmehr dabei, uns aufzugeben. Auch Sloterdijk ist pessimistisch: „Das ist gesellschaftsweit das beunruhigendste Syndrom: dass keiner mehr ehrgeizig genug ist, bei sich ausloten zu wollen, wie weit das Verstehen reicht. Intelligenz ist das letzte utopische Potential.“

Da kommen einem die Demonstrationen für die Demokratie fast schon wie Ersatzhandlungen vor. Eine Äußerung, der das Innere fehlt. Das müssen wir wieder auffüllen. Dann erledigen sich Parteien wie die AfD von allein. Aber das kostet Kraft, das kostet Selbstkritik, das verlangt intellektuelle Anstrengungen. Demonstrationen wirken da wie das Hochamt des Jetzt.

Wie gerne wäre man dabei, wenn diese Demonstrationen nicht so selbstbezüglich wären. Algorithmen für Deutschland – das ist das Feld, auf das der Verfassungsschutz sein Augenmerk richten sollte.

Auf zur Gegenwehr, Gegenangriff, stürmt die Bastille der Algorithmen! Nichts wie raus aus dem narkotischen, komatösen Jetzt. Revolution! Hinein in die letzte „terra incognita, die die Menschheit noch besitzt“, um mit Sloterdijk zu sprechen. Hinein in die „Galaxien des Gehirns“, in „die Milchstraßen der Intelligenz.“[1]

Ach, wenn das nur so einfach wäre, diese neue, große Revolution! Due Revolution gegen uns selbst! Gegen den Stumpfsinn. Gegen die Ödnis. Gegen die große Langeweile. Die hat übrigens Tom Wolfe schon 1988 für das 21. Jahrhundert vorhergesagt. Corona trieb uns vollends dahin.

Wir kämpfen nicht wirklich. Wir taumeln nur von einem Augenblick zum nächsten. Wir leben den Corona-Rausch der Bürokratie innerlich weiter. Vielleicht haben wir uns unbewusst schon daran gewöhn: Geimpft, genesen, gehorchen. Das ist der Befehlsdreisatz, aus dem sich  ganz allmählich der Charakter des Menschen im 21. Jahrhundert bildet – ein in die ganze Welt eingesperrtes Wesen. So will es Tianxia. Alles ist leere Innenwelt. Alles ist jetzt.

Wir sind gegen unseren eigenen Verstand, gegen unser eigenes Ich geimpft.

„Über den nächsten Augenblick hinweg kann nicht gesehen werden, nur gedacht werden“, meinte 1962 – vor sechs Jahrzehnten – der deutsche Philosoph der Hoffnung, Ernst Bloch (1885-1877).[2] Klar, wir denken uns Ziele, nennen uns Zeiten, setzen uns Daten, geben uns Regeln, über deren Verwirklichung wir heute, jetzt, entscheiden. Wir wissen, wenn wir jetzt nicht gehorchen, werden wir nicht überleben. Jetzt. Jetzt. Jetzt. Das einzige, was zählt: Jetzt. Ohne das gibt es keine Zukunft, keine Hoffnung. Wir klammern uns an den Augenblick.

Das Jetzt ist – um mit dem Jahrhundert-Genie Sigmund Freud zu sprechen – unser Über-Ich geworden, mehr noch: es ist unser Über-Über-Ich. Es steht weit über unserem eigenen, persönlichen Über-Ich. Es radiert es sozusagen aus. Dieses Über-Über-Ich ist jetzt nicht mehr die Kultur, wie sie dem großen Psycho-Meister vor bald 100 Jahren Unbehagen bereitete. Es hat jetzt, technisch gesprochen,  weitaus größere Dimensionen: Es sind nicht nur die Umweltkatastrophe, der totale Klimawandel, es ist die Zerstörung des Individuums. Aber deswegen geht niemand auf die Straße.