Samstag, 20. Juli 2024

Arche Nova (2): 1986

1986: Gespräch mit Codd

Es war das seltsamste Interview, das ich je geführt habe. Mein Gesprächspartner war niemand anders als Dr. Edgar F. Codd (1923-2003), dem Schöpfer des relationalen Modells, 1969, und Träger des Turing Awards, 1981. Das Gespräch mit Codd fand 1986 in Schulungszentrum der IBM in Herrenberg statt. Hier hielt er einen Vortrag über seine zwölf Gebote, denen ein echtes Relationales Datenbank-Management-System zu entsprechen habe. Zwei Jahre zuvor war er bei IBM ausgeschieden, wo er, ein Brite, zuletzt in kalifornischen Santa Teresa Forschungslabor gearbeitet hatte. Das Interview war insofern seltsam, weil er während des Gesprächs immer wieder ein Nickerchen einlegte. Der Hintergrund: Codd war gerade von einer Erkrankung genesen und hatte zudem noch den Jetlag in den Knochen. Er hatte im Foyer der Halle Platz genommen, und ich hatte ihn ganz einfach angesprochen, ob ich ihm ein paar Fragen stellen dürfe. Er sagte zu, warnte mich aber zugleich, dass er zwischendurch mal die Augen schließen werde. Mir war alles recht, Hauptsache, ich bekam mein Interview, das ich dann folgendermaßen festhielt:

Nein, ein Nachfolgemodell für sein Relationenmodell kann sich E.F. „Ted“ Codd nicht vorstellen.

Ja, natürlich „freue ich mich, dass heute alle Welt meine Theorie akzeptiert“ (Wirkpause) – „vor allem, wenn ich daran denke, dass man vor zehn Jahren über sie nur gelächelt hat“.

Nein, „kein Hersteller ist so blöd, dass er auf ein relationales Datenbanksystem verzichtet“ (Wirkpause) „selbst IBM nicht“.

Ja, „was immer in der Informationsverarbeitung Zukunft hat, wird sich der Codd’schen Theorie bedienen. Expertensysteme, künstliche Intelligenz, neue Computerarchitekturen. „Relationale Dabenbanklen unterstützen diese Anstrengungen.“

(Auszugsweise veröffentlich)

Nachtrag 2024: Ich erinnere mich, dass ich Dr. Codd fragte, ob er sich vorstellen könne, dass seine Theorie und die darauf basierenden Datenbanksysteme noch in dreißig Jahren Gültigkeit haben werden. Er lächelte. Und er gab seinem Modell fast so etwas wie eine Ewigkeitsgarantie. Ich habe nur gestaunt. Ich ließ mir seine Visitenkarte geben mit der Bitte um ein Autogramm. Diese Karte, was mir nicht leichtgefallen ist, habe ich später einem Freund geschenkt – als Dank dafür, dass er mir einmal aus bitterer Not geholfen hat.

Raimund Vollmer

 

Zum Tage

 „Wahrheitsliebe ist ein Privileg der Glücklichen, die nichts zu verlieren haben.“

Christian Diekholtz (*1928), deutscher Verleger

Freitag, 19. Juli 2024

Arche Nova (1): 1996

 Vorbemerkung: Im nächsten Jahr ist es 50 Jahre her, dass mich mein Weg als Journalist in die IT-Branche führte. Ich hatte gerade meinen Redakteursbrief erhalten (Volontariat bei der Westdeutschen Zeitung in Düsseldorf) und wollte eigentlich in Tübingen studieren. Doch daraus wurde nichts, weil ich meine Zukunft in der Zukunft sah, in der - wie man damals altmodisch sagte - EDV-Branche. Nach einer Woche bei der CZ hatte ich allerdings schon die Schnauze voll: Und blieb - wenngleich mit ziemlicher Unruhe, weil ich, um mein mangelndes Wissen zu kompensieren, immer die Perspektive wechselte. Und das war einfach in einer Branche, die selbst immer wieder ihre Perspektive wechselte, bis sie sich auf sich selbst einpendelte. Nun habe ich angefangen, mal in meinen Texten herumzustöbern - und zu gucken, was ich in diesen fünf Jahrzehnten so alles journalistisch angestellt habe. Es ist eine willkürliche Auswahl, hat keine Struktur - wie diese Branche, die sich immer gerne eine geben möchte, aber dann auch immer wieder wunderbar daran scheitert. Weil irgendjemand eine bessere Idee hat. Raimund Vollmer

Das Protokoll des Marktes (1996) 

In Kali­for­nien begann an der Stan­ford Uni­ver­si­ty ein junger Mann namens Vinton G. Cerf (*1943) mit seinem Studium. Mathematik war das, was ihn faszinierte. Aber er interessierte sich in steigendem Maße für Com­pu­ter. Kurzum: Er war auf dem besten Weg, ein typischer IBMer zu werden.

So geschah es. 1965 heuerte er bei Big Blue an, um die Company zwei Jahre später wieder zu verlassen. Er drückte noch einmal die Schul­bank an der University of California in Los Angeles. Er machte dort seinen Doktor in Computerwissenschaften. Und 1969 geriet auch er in die Fänge des Staa­­tes. Für die Defence Advanced Research Pro­jects Agency (DARPA) sollte er den Aufbau eines gewaltigen, martialischen Netzwerkes leiten: das Advanced Re­search Projects Agency Net­work, besser & kürzer bekannt unter den Buchstaben AR­PA­NET. Es sollte den Wissenschaftlern helfen, noch schneller noch bessere Waffen zu ent­wickeln. Was auf dem Netz geschah, war Cerf indes so ziem­lich egal. Wie es zu funktionieren hatte, das war seine Aufgabe. Ein Bil­der­buch‑Ingenieur war gebo­ren. Er war auf dem Marsch zum Internet.[1]

Cerf ist heute eine weit über den Computerbereich gefeierte Be­rühmt­heit. Er gilt als der Mitbegründer des Internets, des schon jetzt legendären Pro­totyps der Infobahn, die unser Leben radikal ver­än­dern wird. Dabei hatte Cerf auf das, was mit seiner Schöp­fung ge­schah, nur einen geringen Einfluss.

Lektion 1: 1976 erhielt Cerf den Auf­trag, als Chefwissenschaftler der DAPRA zwei neue Kommu­ni­­kationsstandards zu ent­wic­keln: das Transaction Control Pro­to­col und das In­ter­net Protocol. Sechs Jahre später war das TCP/IP fertig, und 1983 wurde es konstitutioneller Bestand­teil des ARPANET. Zu diesem Zeit­punkt war das ARPANET vor allen Din­gen ein mili­tä­risches Netz. Es verband das Pentagon mit der zi­vi­len Rechner­welt. 300 Knotenrechner waren daran ange­schlos­sen, über die rund 50.000 amerikanische und euro­pä­ische Wis­sen­schaftler im Bereich der militärischen Forschung vir­tu­ell ko­ope­rierten. Doch der amerikanischen Regierung unter Präsident Ronald Reagan wurde dieses un­heim­lich. Sie hatte Angst, dass der bö­se Osten in das Netz ein­drin­gen und es zu Spionagezwecken miss­­­brau­chen würde. Kurzerhand kappte das Ver­tei­di­gungsministerium im Herbst 1983 die Leitungen und mauerte sich im Namen der Strategic Defence Ini­tia­tive (SDI) sein eigenes Hochsicher­heitsnetz, das MILNET. Die be­freun­de­ten Regie­run­gen waren er­bost, sahen sich vom Datenfluss abge­schnit­ten.[2] Es herrsch­ten je­doch die Gesetze des Kalten Krieges, den die USA ge­winnen wollten. Das ARPANET wurde in die Freiheit entlassen und verwandelte sich bald zu einem zi­vilen Wissenschaftsnetz, dem Internet. 1987 waren bereits 28.000 Rechner an­geschlossen. Aber das Netz ge­hörte niemandem. Bald konn­ten alle mitmachen. Ein neuer Markt ent­stand, aus dem institutionelle Macht für immer und ewig verbannt scheint. Hier zählten nur die »Kernkompetenzen der Hippie‑Kultur«, erinnert das britische Wirtschaftsmagazin ‚The Economist‘ an die Ur­sprünge des Netzes, das immerhin zur Zeit des kalifornischen Flower Powers initiiert worden war.[3] Vergeblich ver­suchten seit­dem die Re­gie­rungen die Kontrolle über das Internet zurückzuge­win­nen. Bald un­terwarfen sich sogar die mäch­ti­gen Computerfirmen und Telekoms seiner Marktmacht.

Lektion 2. Deren Entzauberung als Visionäre des Fortschritts geht übrigens ebenfalls zurück auf die achtziger Jahre ‑ und auf Cerf. Während des Kalten Krieges Zeit tobte nämlich noch eine ganz andere Ausein­an­der­setzung: der Krieg der Standards. Das Stichwort lautet Open Sy­stems Interconnection, das von der International Standar­di­sa­tion Organisation (ISO) seit 1977 angedacht und nun am Markt gegen IBMs proprietäre Systems Net­work Architecture (SNA) durchgesetzt werden sollte. Vor allem die Behörden und staatlichen Fernmelde­or­ganisationen legten sich mächtig dafür ins Zeug. Die ge­samte staat­liche Gewalt, von den Po­lizeibehörden bis hin zum Bil­dungs­­sektor, stand dahinter. Der Kampf wurde fast mit derselben Leidenschaft ge­führt wie der um das Betriebssystem Unix. Ja, beide standen für offene Systeme. Die Compu­ter­industrie, am Ende ganz besonders sogar die IBM, kuschte vor dieser institutionellen Macht. Mitte der neunziger Jahre redete niemand mehr von OSI. Aber nicht SNA hatte gesiegt, sondern TCP/IP ‑ und der Markt.

Woran war OSI gescheitert? Die Standardisierer hatten be­reits bei der Definition versucht, al­les hineinzupacken, was an Ent­wick­lungen am Horizont sichtbar wur­de. Vor allen Dingen aber wollten sie alles sicher & sauber machen. So scheiterten sie, weil Märkte weder sicher noch sauber sind. Sie woll­ten mit vorausei­len­der Intelligenz introvertiert und bürokratisch verwalten, was sich in der explosiven Genialität der Märkte von alleine gestaltet. Diese hatten sich bereits 1987 längst um TCP/IP ar­rondiert und damit arrangiert: Der Grund: TCP/IP war zwar nicht sicherer und sauberer als Open Systems Interconnec­tion, dafür aber offener.

Lektion 3. Ein weiteres Jahr später sollten sie überhaupt keinen Grund mehr ha­ben, sich OSI zuzuwenden. Der Ostblock löste sich auf, und das Internet konnte sich endlich aus jeglicher Form staatlicher Um­klam­merung befreien. Cerf hatte auf der ganzen Linie ge­siegt. Die Märkte, die politischen und die wirt­schaft­­li­chen, hatten für ihn die Arbeit gemacht. Mit dem Fall der Mauer in Berlin meldete sich das 21. Jahrhundert lautstark zu Wort. Damit wurde der alte institutionelle Rahmen, der des Ostens und der des Westens, gesprengt. Wie in einem Zeitraffer durchlebte seit­dem die wiedervereinigte Stadt noch einmal das alte Jahrhundert, wäh­rend sich gleichzeitig kaum weniger schnell das neue entfaltete.

 Ausgang 2024: ungewiss, ob sauberer, ob sicherer – mehr als fraglich.

 

(Verfasst 1996, Raimund Vollmer)


Zum Tage: Home Office 1967

 1967: "Künftig werden wir in dem durch die elektrischen Medien gestalteten Raum zu Hause arbeiten – mit Firma und Chef durch Fernsehen verbunden.

Herbert Marshall McLuhan (1911-1980), kanadischer Philosoph und Kommunikationstheoretiker in seinem 1967 erschienenen Buch „The Medium is the Message

Donnerstag, 18. Juli 2024

Zum Tage: Werbung

 1951: „Es gibt keine zurückgezogenen und bequemen Perspektiven mehr, weder künstlerich noch national. Alles ist im Vordergrund anwesend. Werbung ist die Handchrift an der Wand.“

Marshall McLuhan (1911-1980), kanadischer Philosoph und Kommunikationstheoretiker in seinem 1951 erschienenen Buch „Die mechanische Braut“

Mittwoch, 17. Juli 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 63) (Staat ist Trump)

 

„Es gibt zwei Wege für den politischen Aufstieg: entweder man passt sich an, oder man legt sich quer.“

Konrad Adenauer (1876-1967), erster deutscher Bundeskanzler

 

Die Faust-Formel

Von Raimund Vollmer

Der Staat sieht uns gerne überall – nur nicht in der „Öffentlichkeit“. Sie ist sein ärgster  Feind, in den Demokratien ebenso geduldet wie gefürchtet, gilt sie als ein unberechenbarer Moloch, den man so gerne besiegen möchte, aber nicht besiegen darf. In den Autokratien ist sie, soweit nicht staatlich organisiert, schlichtweg verboten.

„Öffentlichkeit“, schrieb bereits vor Ewigkeiten der Schriftsteller Karl Krolow (1915–1999), „ist ein komplizierter Leviathan geworden, ein Ungeheuer, mit dem sich Experten mühsam abzugeben haben“.[1] Dieser andere, dieser unberechenbare Leviathan ist der letzte große Gegenspieler des Staates, den er nicht in den Griff bekommt. Trotz all der Helfer, der Qualitätsjournalisten, Medienwissenschaftler, Soziologen und Psychologen, die nicht merken, dass dieses „Monstrum“ sie längst verschlungen hat.

Sie haben sich selbst in der Öffentlichkeit verloren. Und auch Ex-Präsident Donald Trump weiß nun, dass die Öffentlichkeit ein tödlicher Ort ist, und die Öffentlichkeit weiß es auch. Aber zugleich ist die Öffentlichkeit der Ort, den er ganz besonders liebt. Hier ist er Trump. Hier kann er‘s sein.

Vielleicht ist dies im tiefsten Grunde sein Erfolgsgeheimnis, seine unausgesprochene Legende. Er steht da, ist jederzeit angreifbar, von dunklen Mächten umschlungen, jederzeit Todesgefahren ausgesetzt, nur von einem auserwählten Publikum geschützt, jederzeit einem Rechtssystem ausgeliefert, das ihn vernichten will.

Aber er, er reckt die Faust in alle Weltöffentlichkeit hinein. Er triumphiert. Er ist ein Held, kein Apparat. Er steht in der Öffentlichkeit – über Freund und Feind. Die Öffentlichkeit ist sein Freund, der Staat ist sein Feind, den es zu besiegen gilt, mehr noch zu beherrschen gilt. Darum muss er wieder Präsident werden,

Und so sagt er sich: Trump first.

Kann die Demokratie mit so einem fertig werden? Es wird Zeit, dass wir uns darüber Gedanken machen.

***

Dass die Demokratie als Regierungssystem vor allem vom wachsenden Wohlstand profitiere, wie lange angenommen wurde, scheint zudem immer weniger zu stimmen. „Die Union Gesellschaft-Staat-Wirtschaft ist auf Produktionszuwachs, Umverteilung, Soziale Sicherheit und Internationale Kooperation hin gebaut“, hielt  der Philosoph und Soziologe Arnold Gehlen (1904–1976) diese Entwicklung in den sechziger Jahren für „irreversibel“. Wir sind aufeinander angewiesen durch unsere Institutionen. Gehlen: „Es handelt sich um eine stationäre Subventionsordnung der Gesamtgesellschaft. Sie ist, so könnte man sagen, ein Äquivalent der alten Naturordnung.“

Jeder ist abhängig von jedem, „zur Anpassung zwingend“.[2] Warum kann es dann einen wie Trump geben? Könnte es soeinen auch in Deutschland geben, einen der uns die Höcke vollügt?

Geht’s der Wirtschaft gut, dann ist auch die Demokratie intakt – eine Beschwörungsformel im Rang eines Naturgesetzes, dem sich jeder Politiker unterwarf und das der Wirtschaft ungeahnte Macht zuschanzte. Doch der britische Historiker Niall Ferguson bemerkte 2008, dass ausgerechnet „jene Volkswirtschaften, die seit 2000 am schnellsten gewachsen sind, keine Demokratien“ gewesen seien. Und er nennt dabei vor allem China. Bitter. Eine florierende Wirtschaft braucht noch nicht einmal mehr Demokratie, sie braucht nur eine möglichst knallharte Regierung. Selbstbehauptung ist alles. Welch eine Verlockung für jede Bürokratie und Technokratie! 

Trump oder Biden? Wer reitet das System

 

Noch war Ferguson optimistisch und meinte: Was vielmehr zähle, so die Erkenntnis, seien Regeln, „die sich selbst verstärken. Je öfter sie angewendet werden, desto mehr werden sie respektiert“.[3]

Regeln haben wir mehr als genug. Und deren permanente Kommunikation kann perfekter kaum sein. Das ist eigentlich eine gute Botschaft, aber diese Regeln werden nicht mehr verstärkt durch Menschen, sondern durch Maschinen, durch Softwareprogramme, durch mobile Apps. Sie durchdröhnen vollautomatisch unser ganzes Leben. Im Bus. In der Bahn. Auf den Flughäfen. In den Geschäften. Überall ertönen Automatenstimmen, die uns – laut und deutlich – regelmäßig an unsere Maskenpflicht erinnerten. Es war die Stimme der Corona, Big Brother’s Sister. Es war unheimlich. Das war nicht Trump. Das war nicht menschlich. Das war Software.

Wenn man daran denkt, dass nichts so sehr auf Regeln basiert wie gerade Software, die in jedem Augenblick in milliardenfachem Echo ihre Befehle durch den Äther jagt, erleben wir längst die Diktatur des Programmiats. Nur hören wir es nicht. Wir nehmen sie – wenn überhaupt – nur unbewusst wahr.

Die Algorithmen verwandeln sich in subtile Instrumente, in die die ganze Staatskunst hineinprogrammiert werden kann. Aus Kunst wird der diskrete Befehl, dem sich alles zu unterwerfen hat. Das ist ein ebenso faszinierendes wie bestürzendes Angebot, das von der Technologie ausgeht, von der Wirtschaft und Wissenschaft – von der digitalen Transformation, der künstlichen Intelligenz und der Virtualisierung des Lebens. Die Zeichen für eine solche Entwicklung hatte der Philosoph Hans Jonas schon bald fünf Jahrzehnten deutlich erkannt. Er hatte dagegen sein „Prinzip Verantwortung“ gesetzt: „Primär ist Verantwortung von Menschen für Menschen“, erklärt er klipp und klar. Doch er sah auf seinem Radarschirm „die langfristige Umgestaltung der Lebensbedingungen durch die Technik zu einer typologischen Veränderung des Menschen, dieses plastischsten der Geschöpfe“. Er befürchtete, dass dieser Wandel kaum in die Richtung eines ethisch–utopischen Ideals gehen würde. Die „technologische Ordnung“, die uns in Schutz nimmt, die Gewere (also der Schutz der Dinge), würde demnach die Staatskunst, die der Munt (also dem Schutz des Menschen) dient, nach und nach verdrängen.[4]

Wir werden selbst zur Sache. Und das zerstört auf Dauer das „Prinzip Verantwortung“. Ein Typ wie Trump kann als Präsident machen, was er will. Er steht über den Dingen – und über uns. Und plötzlich wird er als das kleinere Übel angesehen. Einer wie Trump gaukelt uns vor, dass da noch einer ist, der etwas zu sagen hat.

Der Soziologe Ulrich Beck meinte 1996: „Verantwortung meint nicht Pflicht“, weil sie nicht auf „abrufbarer Gefolgschaft oder blinden Gehorsam aufsetzt“. In ihren Forderungen muss sie gut begründet sein, um ihre Wirkung zu entfalten. „Verantwortung ist das Gegenteil von Fanatismus“, sagt Beck, „entwickelt aber eine eigene Ansteckungskraft. Denn sie beruht auf Freiwilligkeit, und Freiwilligkeit kann – jedenfalls in Kulturen des eigenen Lebens – durchaus mehr Überzeugungs– und Bindungskraft entwickeln als erzwungene, von oben gesetzte Vorgaben.“[5]

Dann kam Corona, der Weltbrandbeschleuniger des 21. Jahrhunderts. Das Virus, das uns mit seiner Rationalität in den Konflikt von „blinder Gefolgschaft“ oder „Freiwilligkeit“ trieb – ausgerechnet durch von oben gesetzte Vorgaben.  

Es war cverrückt: Es bot die einmalige Chance, einerseits der guten, alten Staatskunst noch einmal zu altem Glanz zu verhelfen, also uns zu schützen, andererseits uns einen möglichen Nachfolger zu präsentieren, dessen Amtszeit unkündbar sein würde – wie die eines Monarchen. Dessen Nachfolge basiert dann nicht auf Vererbung, sondern auf Updates. So wie der Weltbrand von 1914 das Kaiserreich von der Republik trennte, so trennte nun das Virus die Demokratie von der Digitaldiktatur. Eine schaurige Vorstellung, die eigentlich nur an einem scheitern kann: an der Technik selbst, an ihrer Hybris, an ihrer Selbstüberschätzung – gegen die das Ego eines Trumps Bexcheidenheit symbolisiert.

So nähern wir uns allmählich dem Höhepunkt einer Verschwörungstheorie, die zu nennen verboten ist, weil dieses Verbot ihr allergrößtes Geheimnis ist.

***

Keiner schien in Deutschland - zumindest für eine Weile - die Zeichen der Zeit so gut verstanden zu haben wie der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (*1967). Er wurde der Mann der Stunde, der beherzt und vorauseilend zeigte, dass auch nach dem Ende der Ära Merkel menschliche Staatskunst möglich sein werde – eben als Verantwortung von Menschen für Menschen. So wurde seine Botschaft empfangen, die zudem aus einem Bundesland kam, dessen Image seit den Zeiten eines Franz-Josef Strauß verbunden war mit hoch aufgerüsteter, technologischer Führerschaft. Regression und Progression – das eine herrschaftlich, das andere technisch. Es gab keine bessere Paarung.

Munt und Gewere.

Söder zeigte, wer der Hausherr war. Er war der „Corana–Chef“, meinte der ‚Economist‘.[6] Der Ministerpräsident stand wie kein anderer archetypisch für die altdeutsche „Munt“. Sie war die im germanischen Recht verankerte „Gewalt des Hausherrn über die in der Hausgemeinschaft lebenden, von ihm zu schützenden Personen“, sagt uns der ‚Duden‘. Die andere Gewalt, die „Gewere“, erweiterte das Herrschaftsrecht auf die Sachwelt, auf die Technologie. Wer also „Munt und Gewere“ beherrscht, der ist auf dem Weg zum „Staatsmann“ (Jonas), auf dem Weg zur Staatskunst.

Heute wissen wir, dass es die Staatskunst nicht mehr gibt, auch niemanden, der sich auf dem Weg dahin befindet. Und das macht uns ratlos.

Munt und Gewere müssen ausgeglichen sein. In Wirklichkeit sind sie außer Rand und Band – vor allem dort, wo sie Typen anvertraut wurden, denen die Menschen und Dinge, die ihnen anvertraut wurden, völlig egal sind.

Seltsamerweise sind es die drei Supermächte USA, China und Russland, die uns darauf aufmerksam machen. Vielleicht sind solche Typen wie Trump noch das kleinste aller Übel, einer, der seine Faust reckt. In aller Öffentlichkeit. Als Opfer, nicht als Täter.

Irgendwie bedrückend, Mister President. 


Zum Tage: Über Sprache

 1986: „Eine der Schwierigkeiten beim Nachdenken über Sprache besteht darin, dass man die Sprache zum Nachdenken braucht.“

Eric A. Havelock (1903-1988), britischer Philologe und Medientheoretiker

Dienstag, 16. Juli 2024

Zum Tage: Auf Kosten anderer

 „Die meisten Menschen können sich in der Gesellschaft nur auf Kosten anderer unterhalten.“

Luc de Vauvenargues (1715-1747), französicher Moralist

Montag, 15. Juli 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 62) (Der Staat und wir)

2018: »Früher waren wir mutiger.«

Sigmar Gabriel (*1959), SPD–Politiker und Vizekanzler in Merkel-Zeiten

Die Demokraturen

Von Raimund Vollmer


 

Erinnerungen an eine Pandemie

 

Wir können schreiben und denken, was wir wollen. 

Der gute Staat hat gewonnen. Er hat die Hoheit über den Stammtischen. Er hat das Obereigentum über allem. Er schwebt über uns, weit über uns. Über unserem Geld und unserem Eigentum. Über Medien und Kunst. Selbst die Kritik an ihm hat er unter permissiver Kontrolle. Kritik kann ihn nicht mehr treffen, ist allenfalls Teil eines rein rhetorischen Medienspectaculums, sie ist nicht wirklich ernst, liegt auf jeden Fall immer auf seiner Linie, in mitunter gespielter Leidenschaft. Diskurs nennt man dies in altkluger, artiger Weise. Denn im Diskurs ist alles methodisch „eingehegt“, weit weg von jenen scharfen Debatten, mit denen die Generation der 68er den staatlichen Organen den Marsch blasen wollte, bevor sie dann selbst den Marsch durch die Institutionen antrat und in ihnen versackte. Nun hinterlässt diese Generation einen Staat, der unangreifbar geworden ist, an dem alles abprallt, durch dessen Maske nichts mehr dringt. Jede Kritik wirkt nur noch lächerlich. Ihr sind sämtliche Zähne gezogen. Selbst das Parlament, unser aller Repräsentation und erste Gewalt im Staat, muckt nicht mehr auf – und wenn doch, dann hat es den Anstrich einer Inszenierung. Man zählt die Clicks.

Dringt doch mal etwas an Pöbelei durch, dann wird dies schleunigst in die Hass- und Schmuddel-Ecke der Social Media verbannt, wo jene, die man sowieso nicht mag, für deren Löschung verantwortlich gemacht werden. Die Finger schmutzig machen sich immer nur die anderen. Ansonsten wird Kritik, je nach Tonlage, auf subtile Weise geächtet, auf arrogante Weise verachtet, verpönt und verhöhnt oder gutmütig an die Seite geschoben. So ging Woche für Woche ins Land. Der Lockdown funktionierte.

Noch nie war zugleich die professionelle Kritik dem Staat so treu und wir selbst dem Staat so nah wie in den Corona-Monaten des Jahres 2020. Eine verrückte Situation. Man möchte fast sagen: eine perfekte Verschwörung, wenn einem angesichts einer solchen Behauptung nicht das schlechte Gewissen packen würde. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Aber es gab keine Trennung mehr zwischen Staat, Wissenschaft, Wirtschaft, Medien. Jene Sphäre, die alles voneinander separierte und ordnete, existierte nicht mehr: die Gesellschaft. Der Bürger war isoliert. Zuhause. Home–Office. 

 „Abstand halten“ galt nur für uns, untereinander, als Ungesellschaft, nicht zum Staat, der war un so nah wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Im Lockdown kam alles zu einem Halt, es war so, alle wolle man für einen Moment innehalten, um sich zu orientieren und um dem Strom der permanenten Veränderung eine neue Richtung  zu geben. Es war, als habe die Politik nur auf diese Pause gewartet, die ihr die Corona-Pandemie bescherte, um sich selbst neu auszurichten. Sie bekam die Zeit, die sie brauchte, um ihre Macht zurückzugewinnen. Im Antlitz edelster Motive. Und sie genoss es.

Endlich konnte die Politik wieder ihre ganze Staatskunst zeigen, zumindest nach außen, nach innen sah es ganz anders aus: „Eine Verantwortung der Staatskunst ist, dass künftige Staatskunst möglich ist“, hat der Philosoph Hans Jonas (1903–1993) in seinem 1979 erstmals veröffentlichten Buch „Das Prinzip Verantwortung“ geschrieben. Jonas meint, dass diese Verantwortung darauf zielt, dass nicht „Lakaien oder Roboter“ die Macht übernehmen, ein Maschinenstaat entsteht, ein Leviathan, sondern ein Menschenstaat. Jede Regierung muss an die nächste Regierung denken – solange sie das tut, ist alles gut. Und sie muss – wie wir alle – daran denken, „dass das, worauf Verantwortung sich sinngemäß bezieht, aktuelles und potentielles Leben ist, und zuallererst menschliches.“[2]

Das ist Munt, womit im Mittelalter der Schutz des Menschen gemeint war. Das ist die Inszenierung. Nach außen.

Aber nun stehen sie da – diese Regierungen. Irgendwie ohne Nachfolger mit mehr oder minder starker Tendenz zu Autokratien. In einer Demokratie ist die Nachfolge bis in die Verfassung hinein geregelt. Durch die Wahlen, durch das Parlament. Wenn dies indes an Bedeutung verliert, sich gar – wie in Ungarn selbst zeitweilig entmachtet – dann wird jede Verfassung hohl. Es wirkt wie eine Umkehrung der jüngsten Geschichte.

„Mitte der siebziger Jahre galt rund die Hälfte aller Staaten als ‚Autokratie`“, erinnerte 2008 der britische Star-Historiker Niall Ferguson (*1964) an den lange Zeit unaufhaltsamen Aufstieg der Demokratie. Diktaturen waren ein Auslaufmodell. „Bis 1998 hatte sich (deren) Zahl ziemlich genau halbiert. Und bis 2002 war sie auf weniger als 30 gesunken.“ Mehr als die Hälfte der Menschen lebten nun in einer Demokratie. Doch dann brach die Welle der Demokratisierung. So beobachtete dies jedenfalls die Denkfabrik Freedom House 2019, die die Entwicklung bis zurück ins Jahr 2005 analysiert. Und 2023 sei der Trend zu weniger Demokratie auch in den Ländern sichtbar, die zur freien Welt gehören. Eine unheimliche Entwicklung.

Autokratien sind im Vormarsch, schleichend und schleimend. Sie bedienen sich dabei vor allem der neuen Technologien.

Der Weltmeister in dieser Disziplin, China, würde sogar inzwischen sein reichhaltiges Instrumentarium an Überwachungs- und Zensurtechniken in die ganze Welt exportieren. Überall fänden sie gelehrige Schüler. Inzwischen verbietet Deutschland den Einsatz von Bauteilen des Elektronik-Konzerns Huawei in 5G-Netzen und ordnete deren Ersatz an.

Selbst in den Demokratien mit großer Tradition sei ein Nachlassen zu vermerken. Ein schleichender Prozess. Immer mehr Regierungschefs würden zum Beispiel versuchen, ihre Amtszeit über die gesetzlichen Bedingungen hinaus zu verlängern.[3] Ein Trump drohte sogar damit, selbst nach seiner Abwahl nicht zurückzutreten. Als das Freedom House ein Jahr später wieder seinen Bericht vorlegte, erfährt die Welt, dass nun auch im 14. Jahr hintereinander die Freiheit gelitten hatte. Und der Trend ist ungebrochen. „Der führungslose Kampf um die Demokratie“, nannte die Denkfabrik 2020 ihren Report.[4] Wieder ist es China, das über die Technik der Mobilfunknetze immer mehr „Einfluss über entscheidende Teile der Informations–Infrastruktur anderer Länder gewinnt.“ Die Technik gewinnt. Klammheimlich.  

Da deutet sich ein Wandel an, der uns beunruhigen sollte. Aber wir sind es nur oberflächlich – vielleicht auch aus dem Gefühl der Ohnmacht heraus, aber noch mehr der Bequemlichkeit.

Ansonsten nehmen wir unseren ganzen Mut zusannen und hauen uns selbst in die Tasten…

 



[1] Reutlinger General-Anzeiger, 21. November 2018, Isabelle Wurster: „Früher waren wir mutiger

[2] Hans Jonas, Frankfurt 1985, (Ersterscheinung 1979): „Das Prinzip Verantwortung, Seite 189

[4] Freedom House, 2020, „A Leaderless Struggle for Democracy

Zum Tage: Zerstörte Zivilisation

 1990: „Ich träume von einem Theater, das Mut macht. Es ist ein Theater für hungrige Menschen, für die Theater nicht ein delikates Dessert ist, sondern eine lebensnotwendige Mahlzeit, ohne die sie in der zerstörten Zivilisation zugrunde gehen.“

Peter Zadek (1926-2009),  deutscher Theaterintendant und Regisseur

Sonntag, 14. Juli 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 61) (Der Staat und wir)

2017 - Als die Welt noch in ihrer Ordnung war

 1811: »Wie  der  Wille, 
so  muss  auch  der  Gedanke 
beim  Gehorsam anfangen.«

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), deutscher Philosoph

 

 

Tod und Teufel

Von Raimund Vollmer

 

Die Exekutive ist sich ihrer eigenen Macht nicht sicher. Weil das so ist, will sie immer mehr davon, immer mehr Macht. Am Ende dominiert das Motiv Selbstbehauptung alles. „Inzwischen sind überall gewaltige Apparate entstanden, und alle mit der Lebenslänglichkeit der Beamten. Ist das notwendig?“ So fragte 1969 der Tübinger Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg (1904–1999) zu einem Zeitpunkt, als der Staat als Arbeitgeber erst so richtig aufdrehte und immer mehr Menschen in seine Solonichtselbständigkeit aufnahm. [1] Aus einer Million öffentlich Bediensteter wurde über alle Privatisierungswellen hinweg mit den Jahren knapp fünf Millionen, davon ein gutes Drittel als Beamte. Zur Selbsterhaltung ist dies allemal nützlich.

Notwendig ist diese Lebenslänglichkeit indes nicht, sondern ein wichtiger, strategischer Teil der Selbstbehauptung. Um die geht es. Überall. Um die Selbstbehauptung der Gesundheitssysteme, des Bildungswesens, der Regierung, der Parteien, der Bundeswehr, der Polizei, der Bundesbank, der diversen Institute, überhaupt aller Institutionen, auch des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Kurzum: Die Systeme sind systemrelevant. Punkt. Aber sind sie auch menschheitsrelevant? Wenigstens als unsere Schutzmacht, dem Urauftrag des Staates?

Die Lebenslänglichkeit des Beamten sichert nicht nur den Arbeitsplatz, sondern festigt vor allem die Loyalität der Mitarbeiter, die noch vor 25 Jahren von 65 Prozent der Deutschen als eine „privilegierte Klasse“ gesehen wurden.[2] Daran wird sich wohl nichts geändert haben. Eine Forsa-Umfrage ergab, dass 61 Prozent der Bürger den Staat bei der Erfüllung seiner Aufgaben für überfordert halten. Kein sehr positives Urteil. Das war vor Corona. 2019.[3]  Das spricht nicht gerade für eine Legitimation auf der Basis eigener Leistung. „Überall (…) arbeiten Beamte auf Lebenszeit mit stark herabgesetztem Arbeitsplatzrisiko, dafür aber mit hoher Unabhängigkeit“, schrieb 1992 Klaus Otto Nass (1931–2017), ehedem Staatssekretär und Völkerrechtler an der Universität Hannover.[4]

Da kam die Verheißung auf lebenslange Anstellung allen zupass. Nun aber wird es eng. Denn an der Seitenlinie steht ein mächtiger Feind, einer der alle Verhältnisse umdrehen kann. Aus einer Bundespost mit angehängter Paketpost wurde unter der Herrschaft von Amazon eine Paketpost mit angehängter Briefpost. Doch das war ja nur das Vorspiel. Die eigentlichen Attacken kommen noch. Und sie werden  alle Ebenen staatlichen Handelns traktieren.

Sie greifen nicht das Gewaltmonopol des Staates an, sondern sein bislang sorgsam gehütetes und bestens verstecktes Datenmonopol. Es ist das Big Thing, das der Staat bislang für sich selbst beanspruchte – als ein irgendwie gesetzlich verbrieftes Monopol. Aber darüber redet er nicht gerne.

Alle Daten gehen vom Volke aus.

Doch dieses Datenmonopol wird ihm, dem Staat, von fremden, zudem auch noch ausländischen Mächten mehr und mehr streitig gemacht. Es lauert die Gefahr des imperialen Datentotalitarismus. Dem Staat droht dabei in seinem Bemühen, seine Autorität zu schützen und zu wahren, eine weitaus größere Gefahr als von wildgewordenen Finanzmärkten oder wütenden Medien.

Die Gefahr kommt von den Digitalkonzernen, wie er sie gerne mit abfälligem Unterton nennt. Sie sind die teuersten Unternehmen der Welt, Firmen, die wie Facebook vor 20 Jahren entweder noch gar nicht existierten oder wie Google oder Amazon geheimnisumwittert waren. Die, die wie Microsoft und Apple schon länger im Geschäft waren, glaubte man im Griff zu haben. Pustekuchen. 

2007: »Cyberspace ist gesetzloses Territorium,
zumeist außerhalb wirksamer Regierungskontrolle.«

 Michael Stürmer (*1938), deutscher Historiker

Heute treiben diese Giganten die staatlichen Bürokratien in aller Welt vor sich her, nur vor autokratischen Systemen kuschen sie schon einmal und bringen den Steuerstaat in Bedrängnis. Prompt schlägt er zurück: „Wenn Amazon, Apple und Google sich im Rahmen der Globalisierung die günstigsten Lücken im Steuerrecht aussuchen, dann kann der Staat auf dieselbe Weise die Gewaltenteilung umgehen und alle gesetzlichen Hemmnisse abstreifen, seine Stärke, die im Innern gebunden ist, im Außenraum endlich ausleben“, meinte 2014 der deutsche Schriftsteller Günter Hack (*1971). Der Horizont wird überschritten. Es gibt kein Halten mehr. Die ganze Widersprüchlichkeit einer unkontrollierten Kontrolle hatte damals der Whistleblower Edward Snowden aufgedeckt, als er die weltweiten Geheimdienstaktivitäten der USA und Großbritanniens bloßstellte. Hack: „Snowden hat nichts weiter getan, als den Stöpsel aus der Badewanne dieses Leviathans zu ziehen, nun liegt das mythische Monstrum nackt vor uns und windet sich.“[5] Ja, der Staat windet sich.

Der Rechtsstaat wackelt, je mehr er sich zum Machtstaat aufschwingt. Er schlägt unreflektiert um sich. In seiner Gier, alles zu kontrollieren oder kontrolliert zu sehen, hat er sich selbst nicht mehr im Griff. Er kauft „Steuersünder–CDs“ von Informanten, die auf illegale Weise die feilgebotenen Daten erworben haben.[6] Immer wieder bohrt er in Deutschland nach der Vorratsdatensammlung. In Großbritannien boxte Premierminister Boris Johnson ein Gesetz durch, das die Regierung ermächtigt, in den EU-Brexit-Nachverhandlungen Rechtsbruch zu begehen, wenn er sein „Sicherheitsnetz“ bedroht sähe.[7] In den USA ließ sich ein Präsident durch nichts und niemanden mehr bändigen. Und. Und. Und.

Selbst die Gerichte demonstrieren mit aller Macht – ihre Ohnmacht. „An die Stelle der Vernunft tritt der Wille, an die Stelle der Wahrheit das Interesse“, schreibt Volkmann. Und man musste in jenen bereits verdrängten Corona-Monaten nur nach Asien schauen, um zu erkennen, wie Regierungen alles Recht hinter sich lassen. Schon war man eher bereit, sich den Wünschen Chinas zu unterwerfen als den Berechtigten Ansprüchen des NATO-Partners USA zu folgen.

Aus alldem kann man wunderbare Verschwörungstheorien mixen und dabei sogar die besten Denker und Dichter als Kronzeugen auffahren lassen. Das ist umso leichter, weil an der Oberfläche all die Elemente, die man für eine schlüssige Verschwörungstheorie braucht, sehr kompakt sind und sich geradezu beliebig miteinander konfigurieren lassen. Wir sind schon längst voll in der gedanklichen Virtualisierung aller Lebensverhältnisse. Gekämpft wird jetzt um die Oberhoheit. Da ist der Bürokratie die Autokratie Chinas näher als die Demokratie Amerikas, der Staatsanspruch wichtiger als der Privatanspruch der Digitalkonzerne. 

»Der Staatsmann muss die Dinge rechtzeitig herannahen sehen und sich darauf einrichten. Versäumt er das, so kommt er mit seinen Maßregeln meist zu spät.«

Otto von Bismarck (1815–1898), deutscher Staatsmann    

Der lange Zeit sich gedemütigt fühlende, beleidigte Staat lässt nach und nach alle Hemmungen fallen und nutzt jede Chance, seine Macht zu demonstrieren. Ihm mangelt es dabei an genau jener Sittlichkeit, die Hegel dereinst von ihm  forderte. „Es steht schlecht mit dem Ansehen des Staates in unserer Welt“, hatte 1971 der Philosoph Helmut Kuhn (1899–1991) geschrieben, „Hegel hatte ihm Göttlichkeit zugeschrieben – ein Prädikat, auf das er keinen Anspruch hat.“[8] Aber der Staat versucht’s immer wieder, ein Teufel mit Heiligenschein, der sich – wie es der „deutschen Innerlichkeit“ zu bemächtigen sucht. So nannte es der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Thomas Mann (1875–1955), als er am 29. Mai 1945 in der Library of Congress in Washington in einer Rede erklärte, dass „es nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug. Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute.“ Eine harte Aussage von jemandem, der damals gerade an seinem Doktor Faustus arbeitete. Der Staat ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und doch nur das Böse schafft.

Nein, nein, das ist unerträglich. Für den Staat.

Auch jetzt sucht er ja das Gute – im Namen seiner Sittlichkeit. Der Staat sucht die Hoheit über Wirtschaft und Gesellschaft, über Forschung und Entwicklung, über unser Zuhause und unsere Arbeit. Über uns. Seine Motive sind vielfältig. Im tiefsten Innern – vielleicht gar nicht im vollen Maße bewusst – befürchtet er indes, dass die mächtigen Digitalkonzerne ihm weit voraus sein könnten. Es ist eine uralte Angst, die vor langer Zeit von den Giganten der Wirtschaft erzeugt wurde – von den Rockefellers, J.P. Morgans, von AT&T und IBM. Diese Riesen standen im Verdacht, die Macht nicht nur über ein Land, sondern über die ganze Welt zu übernehmen.

Wer zu mächtig wird, das lehren uns vor allem die USA, dem droht staatlicherseits die Zerschlagung. Und die Europäer machen es ihnen nach, obwohl in Geld lieber ist. Auch die Chinesen agieren so. Dabei wäre eine Zerschlagung per Richterspruch gar nicht nötig. Denn in der Zwischenzeit vernichten sich die Wirtschaftsriesen zumeist selbst von ganz allein. Aber solange mag und kann der Staat nicht warten. Er will derjenige sein, dem das Verdienst zukommt, die Kontrolle behalten zu haben. Jedenfalls möchte er diesen Schein wahren. Vor allem aber will er sich selbst schützen.

So gehen die Kartellämter, Teil der Exekutive, nicht der Jurisdiktion, gerne in Position gegen Google und Facebook, Amazon und Apple. Und die Parlamente folgen treu und brav: „Diese Firmen haben zu viel Macht“, hieß es 2020 in einem 449 Seiten starken Report des US–Repräsentantenhauses, an dem die Abgeordneten über ein Jahr lang gearbeitet hatten.[9] Die Digitalmächte hätten „ihre Monopolmacht ausgenutzt, um sich als Torwächter des Marktes“ aufzuführen, meinte der Republikaner Ken Buck.[10] Irgendwann werden sie vielleicht sogar die Torwächter des Staates sein, ihn kontrollieren, statt von ihm kontrolliert zu werden.

Die Big Four oder auch Big Five sind die neuen Götter, die das Potenzial besitzen, die alten Institutionen zu zerschmettern. Es wäre die Fortsetzung der „Dialektik der Aufklärung“ im 21. Jahrhundert. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schauen vom Philosophenhimmel herab fasziniert zu.

Das amerikanische Ehepaar Alvin und Heidi Toffler, dereinst die Weltstars unter den Zukunftsforschern, hatte 1994 in dem Buch „Überleben im 21. Jahrhundert“ vorgeschlagen, sogar das Führen von Kriegen Privatkonzernen zu überlassen.[11] Heute alles machbar: Amazon sorgt für die Logistik, Facebook für die Soldaten, Apple für die Walkie-Talkies, und Google steuert die Waffensysteme. All die anderen Digitalkonzerne können das Ganze noch mit ihren Systemen arrondieren. Eine bürokratische Supermacht ließe sich konfigurieren, die auch den Frieden managen kann und dabei „die moralische Beurteilung vollständig vom menschlichen Handeln trennt, aufgrund der Wahnvorstellung, die Welt vollständiger zu machen, als sie ist“, möchte man Zygmunt Bauman zitieren, der dies 1993 auf die Potentiale einer „bürokratischen Ordnung der modernen Welt“ bezog. Nichts anderes sind die Digitalgiganten: die Bürokraten des 21. Jahrhunderts. Wir wissen es nur noch nicht. Auf jeden Fall – so unser teuflischer Verdacht und unsere diabolische Unterstellung – hätten sie mit ihren ungelernten, unterbezahlten, jederzeit kündbaren Mitarbeitern die Pandemie besser gemanagt.

Die Angst davor, dass Digitalkonzerne den Staat an den Rand drängen könnten, ist durchaus real. Die Digitalisierung bindet schon jetzt mehr Bürger an diese Konzerne, als es einem Staat gefallen kann. Nur noch ein  autokratischer Totalstaat wie China kann das Geschehen auf diesen Plattformen rigoros kontrollieren. Ein gewaltiges Dilemma tut sich somit auf. Denn der Erfolg der Chinesen legitimiert Nachahmung. Der Staat schützt dabei weniger seine Bürger als vielmehr sich selbst – nicht vor uns, sondern vor diesen Digitalkonzernen.

„Wir leben in einer Welt, in der eine Handvoll Technologiefirmen und eine größere Gruppe von Milliardären, denen sie gehören, eine Macht besitzen, die beinahe absolut ist – unangefochten nicht nur von der Politik, sondern auch von den Medien“, schrieb 2016 Evgeny Morozov (*1984), amerikanischer Publizist weißrussischer Abstammung, in der `Süddeutschen Zeitung‘.[12] Dagegen helfen auch nicht die  Datenschutzgrundverordnung und alle anderen „Acts“. Sie sind eher ein Zeichen der staatlichen Schwäche. Denn sie werfen die Verantwortung zurück auf den einzelnen Bürger, schützen ihn nicht wirklich.

Um dem Bürger zu helfen, müsste der Staat die Erfassung, das Sammeln und Speichern von Daten grundsätzlich verbieten, also auch sich selbst. Weil er das natürlich nicht will, ist so etwas wie die Grundverordnung nur eine Attrappe, ein Ausdruck der Hilflosigkeit, eine Bestimmung ins Unbestimmte. Zugleich unternimmt der Staat immense Anstrengungen, um seine Kontrolle auszuweiten. „Es sind großflächige Identifikations- und Speicherpflichten für Bezahlvorgänge vorgesehen, die ein deutliches Zeichen setzen: Anonymes Bezahlen wird es nicht mehr geben“, warnte im selben Jahr die deutsche Informatikerin Constanze Kurz (*1974), Sprecherin der Chaos Computer Clubs, in ihrer exquisiten, aber wohl nicht mehr wieterverfolgten  ‚FAZ‘–Kolumne ‚Aus dem Maschinenraum‘.[13] Und Markus Morgenroth (*1977), Informatiker und Autor, meinte 2013: „Der Mensch ist digital vermessbar – je mehr Daten zur Verfügung stehen, desto besser lässt sich sein Verhalten entschlüsseln und prognostizieren.“[14] Naja, für die Verhaltens-Steuerung durch die Pandemie reichte es noch nicht, aber das war ja auch nur das Vorspiel.

Dennoch schien es lang so, als würde Corona den alten Schutzstaat wieder in Amt und Würde zu setzen. Alle suchten seinen Schutz – und stärkten ihn anfangs damit in seiner Rolle als Schutzmacht. In Deutschland. In Europa. Überall in der Welt. Das diente auch seiner eigenen Rettung. Der Staat gewann an Vertrauen und Glaubwürdigkeit, um dann im nächsten Augenblich genau die Strategie zu wählen, um sie wieder zu verlieren. Er schützte nur sich selbst.

Durch Corona war anfangs alles abgedeckt. Das Virus garantierte Generalabsolution und versetzte den Staat wieder in den Zustand höchster Sittlichkeit. „Wir werden in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen“, hatte uns der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (*1980) im Frühjahr 2020 gewarnt. Wir ahnen inzwischen, dass dieses gegenseitige Verzeihen oberflächlich bleiben wird. Darunter lauert der alte Leviathan, und er plustert sich mächtig auf – zum Zerplatzen.

Im Zeichen der Pandemie mutierte der Staat zu einem Schutzmonster, zu einem Schuldenmonster, einem Regulierungsmonster, einem Supermonster. Vor allem aber zu einem gigantischen Datenmonster. Überall in der Welt. Das war die Außenwirkung. Nach innen aber wusste er nur zu genau, dass ihm alles aus den Händen glitt. Die Finanzkrise hatte uns doch schon 2008 offenbart, dass der Staat auch nicht annähernd wusste, was er da eigentlich zu kontrollieren und zu regulieren versuchte. Und Wirecard hat ihm dies noch einmal ins Stammbuch geschrieben. Lesen wird er es nicht. Nein, er scholzt sich in die Erinnerunglücken.  

Das Geld, um das es in der Finanzkrise 2007/2008 ging, war in gigantischen Dunkeltaschen der Bilanzen, in Derivaten unvorstellbaren Ausmaßes, versteckt. Unsichtbar. Wie das Virus, das man auch nicht sieht. Da half nur noch Schauspielerei, die Selbstinszenierung. Damals wie heute. Und dieses Geschäft beherrscht der Staat wie kein anderer. Aber dazu muss er uns eine Heimat geben, ein Refugium, einen emotionalen Raum. Und er zog alle Register.

Mal tat er sanft, der Staat, mal machte er Angst. Mal plump und trump, mal merkelte er herum, mal macronte er über allem. Jetzt scholzt er sich durch die Haushalte. Am Ende rastert er sich – auf der Suche nach einer Antwort auf reaktionäre Kräfte in der Bevölkerung – ein in den guten, alten Nationalstaat, dem heimlichen Sehnsuchtsort der Kleinbürger, in dem alles wieder auf Normalmaß schrumpft. Und der brave Bürger möchte gerne sein Wuinschdenken verwirklicht sehen: So schlecht war es nicht, als wir nach dem Krieg unser Selbstbestimmungsrecht zurückeroberten. Alles war überschaubar. Wir bilden uns zurück – nun können wir sogar wieder stolz, auf unsere Fußballnationalmannschaft sein. 2026 wird sie Weltmeister. .

Wir leben in einer Phase der Regression. Aber es sind nicht die fünfziger Jahre, in die wir zurückfallen – in jene Epoche, als die Zahl der Rentner noch klein und wir alle glücklich waren. War damals der Begriff der Menschenwürde, der den Artikel 1 unseres Grundgesetzes ziert, nach Meinung des Rechtsphilosophen Uwe Volkmann noch zukunftsgewandt, so wandelte sich sein Verständnis seitdem komplett: „Mit disparater gewordenen Moralvorstellungen übernimmt die Menschenwürde nun mehr und mehr die Rolle eines Bollwerks, das Tendenzen der Individualisierung, Fragmentierung, Liberalisierung, vielleicht auch der Enthemmung entgegengesetzt wird. So wie sie für die Anfangsjahre der Republik etwas Vorausweisendes  hatte, bekommt sie dadurch nun einen rückwärtsgewandten Zug“, schrieb der Philosoph 2003 in der ‚FAZ‘ unter dem Titel „Vom Ende der Gewissheit“.[15] Also auch ihn hat dieses Unbestimmte, das dieses neue Jahrhundert mehr und mehr in seinen Griff nimmt, erfasst. Unsere Würde ist unsere Maske. Sie schützt uns vor dem Teufel.

Wir besänftigen uns – in einer „Pandemie der Nostalgie“, wie es der 2017 verstorbene Soziologe Bauman in seinem letzten Essay (Retropia) nannte. Drei Jahre später war diese mentale Pandemie überall zu spüren. „Dieses Virus entpuppt sich als Zeitmaschine“, meint der  bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov (*1968) und sieht angesichts dessen, dass uns durch das Virus die Zukunft versperrt ist eine Sehnsucht nach der Vergangenheit. „Die Zukunft ist unmöglich, aber was wir bei der Hand haben, ist alle Vergangenheit der Welt.“[16] Genügt uns dies auf Dauer?