Donnerstag, 2. Mai 2024

Zum Tage

 1989: Vergessen wir die Wiedervereinigung, halten wir die nächsten zwanzig Jahre die Schnauze darüber!

Joschka Fischer (*1948)), Grüner Realpolitiker und sdpäteterer Bundesaußenminsiter, 21- September 1989 in der Tageszeitung „Die Welt“

Mittwoch, 1. Mai 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 20) HEUTE: Zum Tag der Arbeit

 

Die digitale Stallfütterung

»Arbeit ist wichtiger als Lohn.«

Ruud Lubbers (1939–2018), niederländischer Ministerpräsident

 

Von Raimund Vollmer 

 

Es war 1989 auf der Computermesse CeBIT in Hannover. Die Profis waren unter sich. Das war keine Konsumermesse, noch nicht einmal auf dem Weg dahin. Hier ging's ums große Ganze und ums ganz Große. Alles Chefsachen. Alles strategisch. Große Projekte. Große Institutionen. Große Budgets. Ganz großes Kino. So hielt denn auch niemand anders als der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Heinrich Franke, einen launigen Vortrag zum Turbo–Thema „Informationsgesellschaft: Fortschritt durch Wandel“. In ihm pries der Chef von 60.000 Beamten und anderen Profis die schnittige IT seiner Megabehörde. „Jeden Abend gegen 22 Uhr“ würden seine Computer-Systeme alle 146 Arbeitsämter im Land elektronisch abklappern, um Änderungen in den Zahlungsmodalitäten an die Arbeitslosen abzurufen. So sei dafür gesorgt, dass am nächsten Tag allen Betroffenen der Betrag „mit gleicher Wertstellung“ bargeldlos überwiesen werde.

Applaus. Super. So viel professionelle Effizienz schätzen wir. Software bringt Kohle. Vor allem den damals zwei Millionen (heute 2,6 Millionen) Arbeitslosen, den Nutznießern dieser Software.

Doch das schnelle Geld lindert und mindert weder heute noch damals das eigentliche Übel: die Arbeitslosigkeit, die das bundesrepublikanische Deutschland seit Mitte der siebziger Jahre durch Boom & Bust quält. Ein hartnäckiges Problem,  das nur denen Arbeit verheißt, die ohnehin schon zu viel davon haben, nämlich den Softwarewerkern. Bei einem Fehlbestand von 40.000 Informatikern in der Bundesrepublik mussten sie sich im März 1989 – wenige Monate vor dem Mauerfall – um ihre Jobs ohnehin keine Sorgen machen.[4] Wenn doch, dann wäre das allörtliche Arbeitsamt allerdings die allerletzte Stelle, bei der sie um Angebote nachfragen würden. Nur 20 Prozent aller Vermittlungen gingen überhaupt übers Arbeitsamt. Die Unternehmen meldeten nur 30 Prozent ihrer offenen Stellen der Behörde.[5]

 

1972: »In einer Industriegesellschaft wird die uneingeschränkte wirtschaftliche Freiheit von Individuen und Gruppen sozial unerträglich.«

Arnold Toynbee (18891975), britischer Historiker[1]

 

Nun gut, schweigen wir darüber! Hören wir Franke weiter zu! Stürzen wir uns in sein Amt.

Hier herrschte fortan nur noch Raum für eine „komfortable Stallfütterung“, wie der Ökonom Wilhelm Röpke (1899–1966), Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft, den alles Leid besänftigenden Wohlfahrtsstaat nannte, in dessen Zentrum die größte aller Behörden steht: das Arbeitsamt, das Job–Center, eine mächtige Institution, die sich in den achtziger Jahren im ganzen Land mächtig ausgebereitet und prächtig herausgeputzt hatte. Überall hatte die Bundesanstalt ihre Filialen erneuert, moderne Gebäude errichtet, modernste Geräte angeschafft. Ja, sie war selbst einer der größten Arbeitgeber und – gemessen am Geldbedarf – 1989 so groß wie damals der Siemens–Konzern oder der Automobilgigant VW.[6] Lässig würden die Ausgaben der Behörde, wären sie Umsatz, in die Liste der 'Top Ten' Europas passen.

 

Die digitale Geldfütterung war indes längst nicht die einzige Erfolgsmeldung, die Franke seinen Zuhörern präsentierte: „Lange Stempelgeldempfängerschlangen wie am Ende der 20er und am Anfang der 30er Jahre gibt es nicht mehr“, berichtete er stolz über einen angenehmen und auch noch systemstabilisierenden Nebeneffekt. Vorbei sei es endgültig mit dem entwürdigenden, nervenaufreibenden Schlangestehen vor den Arbeitsämtern. 'Full–Service' für die Arbeitslosen, die fortan wie Kunden behandelt werden sollten. Für ihn, seine Behörde und den Staat war indes noch etwas anderes ganz wichtig. Franke: „Man muss sich einmal das Hetzpotential für extreme Gruppen – wer auch immer das ist – vorstellen, wenn lange Stempelgelderempfängerschlangen vor den Arbeitsämtern stünden. Das ist ein enormer Beitrag zur Staatsstabilität, ausgehend von sozialer Stabilität.“[7]

Beifälliges Nicken. War das nicht wunderbar? Software sichert Welfare Die Systeme leisteten sogar etwas, das gar nicht in sie hineinprogrammiert worden war! Kurzum: Software bringt immer mehr. Auch wenn man's nicht sieht. Das grenzt ja fast an Künstlicher Intelligenz, diesem Stoff, von dem heutzutage jeder redet, den aber keiner wirklich sieht, obwohl jeder mitwebt. Wie des Kaisers neue Kleider, wie das Bürgergeld, das das harte Hartz-IV verdrängt. Man muss bnur etwas umbenennen und schon ist alles anders. Traumhaft. 

 

1989: »Nichts verändert die Gesellschaft in all ihren Äußerungsformen und auf allen Ebenen so sehr wie die Technik. Deshalb dürfen wir sie nicht den Technikern und den Ökonomen überlassen.«

Bernd Guggenberger (*1949), deutscher Politikwissenschaftler[2]


Das Problem, also die fest etablierte Arbeitslosigkeit, wurde in die Medien, ins Fernsehen, in die Mutter aller Konsumtempel, verbannt. Hier erschien sie nur noch als technische Zahl, produziert und allmonatlich ausgespuckt von den Computern des Herrn Franke, über die Magie der Medien direkt verteilt in die Wohnzimmer der Menschen. Sie nahmen sie hin. Kalt und emotionslos, wer nicht betroffen war. Ohne viel Mitleid. Die Digitalisierung der Behördenprozesse änderte zwar nichts am Ergebnis, automatisierten nur die Verfahren, aber die Bundesrepublik Deutschland hatte die digitale Stallfütterung der zwei Millionen Arbeitslosen entdeckt. [8] Und sie funktioniert offenbar perfekt.

Auf rund 60 Milliarden Mark an „gesamtfiskalischen Kosten“ belief sich 1988 das Ausgabenvolumen des Staates für die Erwerbslosen. Eine große Zahl, die jedem Betroffenen im Jahr fast 27.000 Mark brachte – und der Behörde die Zukunft sicherte.[9] Denn auch 30 Jahre nach Frankes Vortrag, dem Fall der Mauer und der großen Finanzkrise, sind immer noch mehr als zwei Millionen Menschen in Deutschland ohne Arbeit.[10] Die Kosten der Arbeitslosigkeit bezifferte 2019 das zur Bundesagentur gehörende 'Institut für Arbeitsmarkt– und Berufsforschung (IAB)'  auf insgesamt 53,1 Milliarden Euro.[11] Für 2022 wurden sie mit 60 Milliarden Euiro angegeben. Es ist unvorstellbar viel Geld, das – unsichtbar für uns – durch die Systeme läuft und läuft und läuft. Ja, wäre die Bundesagentur eine Firma, dann läge sie in der aktuellen Liste der  'Fortune 500' im oberen Drittel der größten Unternehmen der Welt. 

 

1988: »Bald wohnt Gott im Computer«

Überschrift in der Tageszeitung 'Die Welt'[3]

 Bisher erschienen:

Teil 1: Der Zukunftsschock  // Teil 2: Der Sturz des Menschen // Teil 3: Das Prinzip Verantwortung //Teil 4: Fehler im System // Teil 5: Goethe und der Maschinenmensch // Teil 6: Unter dem Himmel des Friedens // Teil 7: Auf dem Weg ins Wolkengooglesheim // Teil 8: Die Seele und der Prozess // Teil 9: In diktatorischer Vertikalität // Teil 10: Über das Über-Über-Ich // Teil 11: Die demente Demokratie // Teil 12: Welt der Befehle // Teil 13: Fridays sind für die Future // Teil 14: Das Systemprogramm // Teil 15:  Die alltägliche Auferstehung // Teil 16: Vater User, der Du bist im Himmel // Teil 17: Der Prozess // Teil 18: Unter Zeitzwang // Teil 19: Die Uran-Maschine und das Jetzt // Teil 20: Die digitale Stallfütterung // Fortsetzung folgt

 


Zum Tage

 Für die Güte der Republik könnte man denselben Beweis anführen, den Boccaccio für die Religion anführt: Sie besteht trotz ihrer Beamten.

Heinrich Heine (1797-1856), deutscher Dichter und Journalist

Dienstag, 30. April 2024

Zum Tage

 Toleranz heißt, die Fehler des anderen entschuldigen. Takt heißt, sie nicnt zu bemerken.

Arthur Schnitzler (1862-1931), österreichischer Schriftsteller

Montag, 29. April 2024

Zum Tage

 Sag mir nichts mehr über deinen Hebel des Archimedes. Gib mir das richtige Wort und den richtigen Akzent, und ich werde die Welt bewegen.“

Joseph Conrad (1857-1924), britischer Schriftsteller

Sonntag, 28. April 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 19)

 1989: »Ich würde es sehr begrüßen, wenn der Mensch manchmal verschwinden könnte, um sich von oben zu sehen.«

Ernst Jünger im Gespräch mit der Wochenzeitung 'Die Zeit'

Die Uran-Maschine und das Jetzt

 Als wir lernten, die Bombe zu zünden

 Von Raimund Vollmer 

White Sands im US–Staat New Mexico. Montag, 16. Juli 1945. 05/29/45 Uhr Ortszeit. Es war der grelle Augenblick, der endgültig alle Zukunft von der Vergangenheit trennte. „NOW“ tönte es aus den Lautsprechern: „JETZT!“ Im selben Moment explodierte der Himmel zu einem gigantischen Lichtblitz, und eine gewaltige, wallende Wolke erhob sich, begleitet von ohrenbetäubendem Donnergrollen. Die erste Atombombe der Geschichte war erfolgreich gezündet worden. Eine Welt ohne uns war möglich geworden.

Zwischen der gelungenen Kernspaltung des Urans durch Otto Hahn in Berlin im Dezember 1938 und dem Bombenversuch in der Wüste hatten nur sechseinhalb Jahre gelegen, staunte noch Jahre später die 'Frankfurter Allgemeine Zeitung' darüber, dass wohl noch nie zuvor „in der Geschichte der Menschheit“ in so kurzer Zeit „aus einem nur schemenhaft existierenden wissenschaftlichen Konzept“ ein Durchbruch dieser Dimension gelungen war.[1] Noch nie hatte die Menschheit so viel Geld in die Hand genommen, um ein solches Projekt derart schnell zu entwickeln. Zwei Milliarden Dollar, das 15fache nach heutigem Geld, hatten die Amerikaner und die Briten in das sogenannte 'Manhattan–Project' gesteckt, zeitweilig 120.000 Menschen hatten an 37 geheimen Orten mitgewirkt. Am Kongress vorbei hatte der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt den Bau der „Uran–Maschine“ aufgesetzt.

Projekleiter war der amerikanische Physiker J. Robert Oppenheimer, ein hoch angesehener Wissenschaftler jüdisch–deutscher Abstammung.. Er ahnte sofort, dass da etwas Ungeheuerliches geschehen war: „In einer urhaften Weise, die von keiner Banalität, von keinem Humor ausgelöscht werden kann, haben die Physiker die Sünde kennengelernt; und das ist ein Wissen, das sie niemals verlieren können.“ Anders gesagt: Die Naturwissenschaften hatten für alle Zeit ihre Unschuld verloren.

Das ahnte auch der Mann, der 1939 den Bau der Bombe in einem Schreiben an Präsident Roosevelt persönlich angeregt hatte. Völlig entsetzt schrieb er nun an dessen Nachfolger, an US–Präsident Harry Truman: „Ich war es, der auf den Knopf gedrückt hat“. 

 

1988: »Unser Hirn ist weiter vorgeprescht als unsere Instinkte. Es ist doch so: Wir schließen die Augen vor einer Zukunft, die wir selbst eingeleitet haben, und wagen nicht darüber nachzudenken, was sie uns bringt. Dabei hat die Menschheit noch nie in dem Maß die Fähigkeit besessen, in die Zukunft zu schauen wie jetzt, aber auch noch nie so wenig gewagt, diese Fähigkeit anzuwenden.«

Friedrich Dürrenmatt (1921–1990),Schweizer  Schriftsteller, in 'Bild der Wissenschaft', 12/1988


Dieses „Ich war es“ war niemand anders als Albert Einstein, Nobelpreisträger und vom ‚Time-Magazine' 1999 zum „Mann des Jahrhunderts“ gekürt. Einstein war zutiefst erschüttert. Denn nun sollte die Bombe, deren Entwicklung er gegen Hitler–Deutschland in einem Schreiben an Truman–Vorgänger Franklin D. Roosevelt empfohlen hatte, auch im Krieg eingesetzt werden. Nicht gegen sein Geburtsland Deutschland, das ja bereits kapituliert hatte und sich mit einer fürchterlichen Schuld, mit dem Holocaust, konfrontiert sah, sondern gegen Japan, das nicht aufgeben wollte. Eins ist sicher: Wäre die Bombe vor dem 8. Mai 1945 fertig gewesen, dann wäre sie über Nazideutschland niedergegangen. So aber explodierte sie am anderen Ende der Welt.

Einstein hätte wie vielen anderen Physikern auch eine Demonstration vor der Küste des fernöstlichen Inselstaates genügt. „Wir Wissenschaftler wussten genug, um alles genau so zu berechnen, dass es ein Donnerschlag gewesen wäre über Tokio, der Fenster zerbrochen und die Gewalt der neuen Waffe deutlich gemacht hätte“, war auch Edward Teller, der der Vater der Wasserstoffbombe werden sollte, überzeugt, dass eine Demonstration der Sprenggewalt die Japaner zur Aufgabe gebracht hätte.[2]

Doch Präsident Truman befahl in Übereinstimmung mit den Militärs den Tod über Hiroshima und Nagasaki. Zwischen 150.000 und 300.000 Menschen, zumeist Zivilisten, starben unmittelbar oder an den Folgen. Für Truman war es dennoch „der größte Tag in der Geschichte“.[3] Die USA waren in kürzester Zeit von einem militärischen Nobody zu einer Supermacht aufgestiegen. Vor allem aber musste von nun an etwas völlig Irreales in die Kriegsrechnung aufgenommen werden: Die Zahl der tatsächlichen Toten wurde aufgerechnet gegen die Zahl der möglichen Opfer. Die Bombe galt als das kleinere Übel. Noch.

„Wenn wir die Hauptinseln erobert hätten, wären allein auf amerikanischer Seite eine Million Opfer zu beklagen gewesen, auf japanischer Seite sicherlich mehr als eine Million“, rechnete Jahre später noch der frühere US-Präsident Richard Nixon nach. Dieses gewaltige Opfer blieb den USA und Japan dank des Einsatzes der beiden Bomben „Little Boy“ (stand für Roosevelt) und „Fat Boy“ (Churchill) erspart, meint das Nachrichtenmagazin 'Time'.[4] Wahrscheinlich wären die Verluste noch viel, viel größer gewesen – zehn Millionen Menschen, sagen Schätzungen aus jenen Tagen. Denn die Japaner hätten ohne den Einsatz der Bomben bis zum letzten Mann gekämpft oder im Angesicht der Niederlage Selbstmord verübt. So aber kapitulierten sie – und stiegen in den achtziger Jahren zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt auf.

„Ich glaube, Leute, die Krieg anfangen, sind verrückt“, meinte 2005 Theodore van Kirk. Er war der Navigator des Atombombers Bombers „Enola Gay“, von dem aus sechzig Jahre zuvor die Bombe auf Hiroshima geworfen worden war.[5] Aber waren die, die den Krieg durch die Bombe beendeten, nicht auch verrückt? Ist nicht alles im Zusammenhang mit der Atombombe verrückt? Nicht umsonst verlegte der Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt 1961 seine Tragikomödie „Die Physiker“ in ein Irrenhaus. Nicht umsonst spielte die Dichterin Marie Luise Kaschnitz in ihrem 1956 entstandenen Gedicht „Hiroshima“ mit dem Gerücht: „Der den Tod auf Hiroshima warf, fiel in Wahnsinn, wehrt Gespenster ab“, um ihn dann ganz profan als Alltagsmensch „im Garten seines Hauses vor der Stadt“ zu entdecken.[6] Über der Normalität schwebt seit 1945 etwas Bedrohliches, der Alltag kann jederzeit zu Ende sein. Wenn Günter Grass 1967 in seinem Gedicht „Neue Mystik“ von der „Verschmelzung aller Systeme mit der Telepathie“ sprach, dann endet er mit der Behauptung: „Fortan müssen wir nicht mehr denken, nur noch gehorchen und ihre Klopfzeichen auswerten.“ 

»Man kann die Zukunft nicht kontrollieren.«

         Edward Teller, Vater der Atombombe

Wer immer die Bombe besitzt, den größten Nutzen zieht er daraus, dass er sie nicht kriegerisch einsetzt. Die Macht der Bombe besteht aus ihrer Existenz, nicht aus ihrem Einsatz. Ihr Nutzen ist ihre allgemeine Bedrohung.

Die Atombombe ist ein Nicht-Nutz.

Wir alle, die wir nach 1945 geboren wurden, kennen nichts anderes als diese Bedrohung. Wir wuchsen damit auf.  Wir leben, weil es die Bombe gibt. Wir können aber auch jederzeit sterben, weil es die Bombe gibt.

Ossip K. Flechtheim (1909–1998), der Mann, der 1943 den Begriff der Futurologie prägte und damit eine neue Wissenschafts-Disziplin kreierte, meinte 1972, dass deren Entstehung mit dem Aufkommen der Atombombe verbunden ist: „Nicht zufällig hat sich diese ja nach 1945 im Schatten von Ausschwitz und Hiroshima entwickelt, also in in einem Zeitabschnitt, da nicht nur die Dynamik unserer Epoche ein ungewöhnliches Ausmaß annahm, sondern auch die Krise unserer Gesellschaft und die Bedrohung der gesamten Menschheit sozusagen über Nacht offenkundig wurden.“[7] Als er das schrieb, war die Menschheit längst mit weiteren totalen Herausforderungen konfrontiert, deren Bedeutung ihr mehr oder minder dämmerte. Überbevölkerung und Umweltzerstörung, die gemeinsam mit der Atombombe „schließlich zum Ende des Homo sapiens“ führen konnten, zu einer Welt ohne uns.

Die Welt war alarmiert. Durch die alles zerstörende Bombe. In diesem Unterbewusstsein wuchsen wir nach 1945 auf – und es wirkt noch heute. Zugleich aber durchlebten wir seit 1945 eine Phase technischen Fortschritts, die uns das Leben erleichtert, uns kolossal verwöhnt und die sich bis in alle Zukunft zu verlängern scheint. Es ist der Fortschritt, der aus den Naturwissenschaften kommt.

„Die Wissenschaft kann nicht unterscheiden zwischen Gut und Böse“, meint der in Wien geborene Physiker Victor Weisskopf (1908–2002), der am 'Manhattan Project' mitgewirkt hatte. Aber er ahnte ebenso wie Flechtheim, dass die Wissenschaften allein mit der Herstellung von Freiheit und Frieden überfordert sein könnten. Beide sahen die ganze Menschheit in der Verantwortung. Weisskopf engagierte sich deshalb vor allem in den Künsten.[8]

„Während sich die Wissenschaften in großangelegten Entlastungsstrategien bemühen, die Wirklichkeit des Bösen weitgehend aus dem Bereich menschlicher Verantwortung zu entführen, mithin das Böse zu neutralisieren, erwacht auf der anderen Seite in in den Künsten eine Ästhetik des Schreckens, die das Fürchterliche, Bedrohliche und Böse in faszinierten Eruptionen zur Darstellung bringt“, schreibt Rainer Hank, Journalist bei der FAZ, 1989 in einer Rezension des Buches „Radikal böse“ von Christoph Schulte.[9]

Auf jeden Fall bewies sich der Mensch mit der Entwicklung der Atombombe, dass er fortan jederzeit in der Lage sein würde, sich selbst auszurotten – und damit zugleich alles, was ihm dereinst in einem göttlichen Auftrag überantwortet worden war. „Ich halte es für Wahnsinn“, hatte der Physiker Carl-Friedrich von Weizsäcker den Fall der Atombombe auf Hiroshima kommentiert. Gemeinsam mit Otto Hahn und Werner Heisenberg befand er sich 1945 in britischem Gewahrsam.[10]. Der Schweizer Schriftsteller  Friedrich Dürrenmatt („Die Physiker“) meinte 1986 bei der Verleihung des Schiller-Gedächtnispreises: „Das Ende der Menschheit, noch in meiner Jugend in astronomischer Milliardenjahre-Ferne durch ein Aufblähen der immer heißeren Sonne, verknüpft mit der Hoffnung, die Menschheit würde inzwischen schon einen Weg gefunden haben, sich im Weltall anderswo anzusiedeln, ist durch den Menschen selber jederzeit möglich geworden.“[11]

 

Verbunden mit der Atombombe ist die „historische Erfahrung, dass nur die glaubhafte Bereitschaft zur Gewalt vor der Gewalt Schutz bieten kann“, befindet der Soziologe Michael Zöller (*1946). Die Bombe herrscht über die Bombe, keine Weltregierung. Die bleibt eine Utopie. „Denn eine Weltregierung ist ein Traum und vermutlich nicht einmal ein schöner. Sie müsste über so umfassende Zwangsmittel verfügen, dass alles nur auf einen Etikettenschwindel hinausliefe: Kriege verwandelten sich in Bürgerkriege zwischen Weltbürgern, wobei nichtauszuschließen wäre, dass sie in Weltbürgerkriege übergehen“, schrieb Zöller 1991 angesichst des Golfkrieges.[12] Die Kriege in der Ukraine und in Nahost wirken da fast schon altmodisch – trotz neuester Technologie. Es sind Kriege, die dem Angreifer einen Weg zurück in eine nicht überwundende Vergangenheit führen sollen.

Die Atombome aber zerstört alle Zeiten. Von nun an herrschte dieses „Jetzt“, dieser in alle Ewigkeit mögliche Augenblick.[13] Das war die „heiße Botschaft von Hiroshima“, wie es der Historiker Golo Mann einmal formulierte. Und dieses „Jetzt“ befahl zugleich ein „nie wieder“: „Kriegsgründe“ gäbe es nach wie vor genug, sagte Golo Mann 1973, aber „man verbot ihnen zu wirken“ – zumindest, was den Einsatz von Atombomben betraf, die mit ihrer alles zerstörenden Wirkung  den Verbots-Grund lieferten. [14]  Die Bombe verhinderte bis heute den Ausbruch eines Dritten Weltkrieges. Es folgte zwar der „Kalte Krieg“, aber der war in Wirklichkeit ein „langer Frieden“, meint der US–Historiker John Lewis Gaddis.[15] Und jetzt? Was kommt jetzt? Ein Gefühl von „No Future“ stellt sich ein. Dagegen helfen keine Fridays. Wir haben noch nicht einmal etwas, das wir als Bedrohung dingfest machen können. Die Natur, die wir besiegten, kehrt als Umwelt zurück, die uns nun in einen Klimawandel zieht, dessen Wirklichkeit total ist. Total total.  

Das Atom hatte über den Menschen gesiegt, sich drohend über ihn gestellt und versprach ihm im selben Atemzug ein Paradies, in dem es genug Energie für alle und alles geben sollte, was sich der Mensch wünschte. Das Atom war total dual. Zum totalen Guten wie zum totalen Bösen.

„Jeder Angriff bedeutet sicheren Selbstmord, und zwar nicht nur für die Militärmaschine des Angreifers“, schrieb 1969 Rober S. McNamara (1916–2009), amerikaniuscher Verteidungsminster in der Ära Kennedy/Johnson. Ihm war mehr als bewusst, dass das Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion „unsinnig“ war, aber er sah keine Alternative. „War der totale Krieg in der Vergangenheit die Ausgeburt schrankenloser Verblendung, so wäre er heute nicht nur eine Irrsinns-Tat, sondern auch ein selbstmörderisches Unterfangen“.[16]

„Für viele ist die Kernenergie ein großes Tabu, weil der größte Unfall ihr Markenzeichen ist, mag er auch noch so selten vorkommen“, meinte 1993 der Kernphysiker Heinz Maier–Leibnitz.[17]

Edward Teller (1908–2003) empfahl dem amerikanischen Präsident Ronald Reagan SDI, die Strategic Defense Initiative. 1958 hatte der Vater der Atombombe gemeinsam mit dem Atomphysiker Albert L. Latter unter dem Titel „Our Nuclear Future: Facts, Dangers and Opportunities“ ein Buch veröffentlicht, das mit seinen Aussagen weltweit Aufsehen erregte. Da heißt es: „Es wird möglich sein, alle Energie, die wir brauchen, zu moderaten Kosten zu produzieren. Mehr noch – und das ist ein wichtiger Punkt – diese Energie wird an jedem Platz auf dem Globus verfügbar sein zu Kosten, die überall ziemlich uniform sein werden.“ Dank der Atomenergie und Dank der Kernfusion würde es gelingen, die Strahlung bei einer Atomexplosion zu bannen: „Man bekommt eine Waffe, bei der die Radioaktivität harmlos ist.“

Weisskopf: „Einstein sagte: Das Unverständlichste an der Welt ist, dass sie verständlich ist. Er betrachtete es als ein großes Wunder, dass wir die Natur überhaupt zu erfassen vermögen und es eine tiefere Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Umgebung gibt, denn es könnte ja auch nicht so sein. Wird man also eines Tages eine 'Weltformel' oder wie es auf Englisch heißt – 'a theory of everything' – finden.“

Es scheint so zu sein, als hätten wir diese Weltformel nun gefunden zu haben –aber sie besteht nicht aus mathematischen Zeichen, sondern aus einem Wort: Klimawandel. Er ist nun für alles verantwortlich. Aber die Ursache sind acht Milliarden Menschen. Jeder von uns. Wir müssen die Verantwortung übernehmen. 

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»Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät hat, so brauche ich mich ja selbst nicht zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft für mich schon übernehmen.«

Immanuel Kant, deutscher Philosoph, in seiner Schrift »Was ist Aufklärung«

 

 

 Bisher erschienen:

Teil 1: Der Zukunftsschock  // Teil 2: Der Sturz des Menschen // Teil 3: Das Prinzip Verantwortung //Teil 4: Fehler im System // Teil 5: Goethe und der Maschinenmensch // Teil 6: Unter dem Himmel des Friedens // Teil 7: Auf dem Weg ins Wolkengooglesheim // Teil 8: Die Seele und der Prozess // Teil 9: In diktatorischer Vertikalität // Teil 10: Über das Über-Über-Ich // Teil 11: Die demente Demokratie // Teil 12: Welt der Befehle // Teil 13: Fridays sind für die Future // Teil 14: Das Systemprogramm // Teil 15:  Die alltägliche Auferstehung // Teil 16: Vater User, der Du bist im Himmel // Teil 17: Der Prozess // Teil 18: Unter Zeitzwang // Teil 19: Die Uran-Maschine und das Jetzt // Teil 20: Die digitale Stallfütterung // Fortsetzung folgt