1993: In der Schönen Neuen Welt verbergen die Worte, was sie zu sagen scheinen.“
Michael Stürmer (*1938), deutscher Historiker
1993: In der Schönen Neuen Welt verbergen die Worte, was sie zu sagen scheinen.“
Michael Stürmer (*1938), deutscher Historiker
Praktische Politiker sind Menschen, welche die Kunst meistern, das
Parlament dazu zu benützen, zu verhindern, dass irgendetwas fertiggebracht
werde.“
George Bernhard Shaw (1856-1950), irischer Autor
„Die EU ist eine Schöpfung, die so ganz anders ist: Weder ein Superstaat, noch ein föderaler Bundesstaat, noch eine zwischenstaatliche Regierungsorganisation, kommt sie dem dritten allerdings am nächsten, bei dem die Nationalstaaten die Akteure bleiben“, analysierte 2007 der durch und durch europafreundliche ‚Economist‘. „Vor diesem Hintergrund liegt das Versagen der Demokratie darin, den Bürgern nicht klargemacht zu haben, was hinter den Entscheidungen steht und wie sie diese beeinflussen können. Das sollte doch einfach sein angesichts der Tatsache, dass der Ministerrat von den nationalen Regierungen gestellt wird.“ Doch damit würden die Bürger in heiliges Bürokraten-Territorium vordringen. Immerhin hätten, so das Magazin 2007, schätzungsweise 80 Prozent der Gesetze, die unsere Parlamente erlassen, ihren Ursprung in Brüssel – eine Behauptung, der man 2021 wohl auch kaum widersprechen kann.[1]
Die Macht der Bürokraten scheint undurchdringlich. So stehen auch auf nationaler Ebene hinter den Fachministern des Ministerrats die heimischen Beamten, die Experten. Sie bestimmen den Kurs. Schon 1989 warnte der damals scheidende Vizepräsident der EG-Kommission, Karl-Heinz Narjes (1924-2015), vor diesem „bürokratischen Establishment“, das den Ministern ein enges Korsett anlegt: „Sobald die Themen etwas komplizierter werden, sind die Minister zunehmend an ihre Amtsvorlagen gebunden und wagen nur begrenzt, davon Abstand zu nehmen“. Sie sind die Sklaven der Verfahren. Angewiesen auf dieses Establishment, seien die Minister nur deren „Sprachrohr“, die sich noch nicht einmal mehr trauen, ihre eigentliche Meinung kundzutun.[2]
Das Erfolgsrezept besteht darin, dass alles, was die Bürokratie anfasst, autodynamisch kompliziert wird. Das eint die Bürokratie gegen alles. Sie ist das eigentliche Europa. „Es scheint so, dass es ein noch nicht formuliertes Naturgesetz gibt, das aussagt, dass die Menschen immer jenem System zuneigen, das die größte Bürokratisierung ermöglicht“, lästerte 1994 Chargaff. [3] Der Satz stimmt noch heute.
Es sind die Dänen, die einen Weg gefunden haben, es den Eurokraten etwas schwerer zu machen. Dort müssten jeden Freitag die jeweils betroffenen Minister einem parlamentarischen Ausschuss Rede und Antwort über das stehen, was sie in der folgenden Woche in Brüssel verhandeln wollten und sich ein entsprechendes Mandat geben lassen. Gäbe es spontane Änderungen während der Verhandlungen, würden die Abgeordneten im Ausschuss sofort reagieren. So berichtet der ‚Economist‘' und meint, dass es funktionieren würde und den Dänen ein besseres Gespür verleihen würde, ihr Engagement in der EU zu verstehen. Es ist vor allem aber eine Stärkung des eigenen Parlaments. Schaut man sich die deutschen Praktiken an, erscheint da die Mitwirkung des Bundestages mit seinen Ausschüssen sehr viel umständlicher, weniger couragiert und ambitioniert, kurzum: sehr brav und am liebsten sogar sehr distinguiert. Eine feine Gesellschaft, vielleicht sogar ein bisschen feige.
Die EU ist seit ihren Anfängen eine Gemeinschaft, keine Gesellschaft. Eine europäische Gesellschaft gibt es nur als Rechtsform, als Firmenmantel, wie Google uns mit 133.000 Treffern überzeugt. Wir, die Bürger, existieren eigentlich gar nicht. Wir bilden uns das nur ein. Es ist immer weniger unsere EU. „Europa war immer ein Elite-Projekt“, spiegelte 2007 der ‚Economist‘ das im Prinzip bis heute vorherrschende Selbstverständnis wider.[4] Es herrscht auf der EU-Ebene die reine Exekutiv-Demokratie, dokumentiert in 80.000 Seiten Paragraphen, denen sich zum Beispiel ein neues Mitglied unterwerfen muss.[5] Sie sind das Lebenselixier der Union. Schon Karl Marx hatte 1852 von der „verselbständigten Macht der Exekutivgewalt“ gesprochen, erinnert uns der Historiker Heinrich August Winkler (*1938) daran, dass „die Kommission wie der Rat immer wieder den Eindruck haben aufkommen lassen, sie agierten in einem luftleeren Raum.“[6]
Urteilt Martin Nettesheim im Juni 2021: „Die EU stützt sich weiterhin nicht auf eine europäische Bürgerschaft, die als politische Gemeinschaft freier Gleicher über sich selbst bestimmen.“ Die Gemeinschaft sind immer andere, nicht wir, die Bürger.
Das kam 2018 auch in einem französisch-deutschen Manifest zum Ausdruck, das Wissenschaftler beider Länder formuliert hatten. Sie forderten darin eine „demokratische Renaissance“ auf allen Ebenen des politischen Lebens. Ohne sie würden „die ‚führenden Eliten‘ sich weiterhin den reichhaltigen und unterschiedlichen Erfahrungen aus dem Alltagsleben der Menschen verschließen und daraus eine Beute der Demagogen werden lassen“.[7]
In dieser Position sind sich alle mit der EU verbundenen Institutionen irgendwie einig: die Bürgerschaft hat nichts zu sagen. Der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930-2019) mahnte bereits 1995 an, dass Europa „auf absehbare Zeit zu wenig emotionale Identifikationsmöglichkeiten“ biete, um so etwas wie eine nationale Identität zu ersetzen.[8] Die Zeit, in der das anders werden könne, ist immer noch nicht absehbar.
„Von einem Europa der Herzen hört man nur selten sprechen“, meinte 1988 der französische Schriftsteller André Weckmann (1924-2012). „Wäre dies aber nicht die einzige zukunftsweisende Definition, die einzige, die den Menschen direkt anspricht, anstatt ausschließlich Sache der Strukturen, der Macher zu sein?“[9] Eine damals wie heute gültige Frage: Nur beantworten müssten wir sie eigentlich selbst. Denn die Eurokraten werden niemals ein solches Thema aufgreifen – weil es ihre natürliche Kompetenz deutlich überschreitet.
Der Union fehlt die Seele, die Gesellschaft, die inspirierende Vielfalt. Stattdessen haben wir nur eine mehr oder weniger gut geölte Abstimmungsmaschine. In ihr sind wir aber gut und untertänigst aufgehoben. Ansonsten gilt: Klappe halten. Das Wort hat die PR. Die EU hat sich bestens eingegoogelt. Abfragen führen immer nur in deren Gemeinschaft, nicht in unsere Gesellschaft.
Wir sind unerwünscht in dieser grauen Welt. Das wurde zum Beispiel im Jahr 2000 deutlich, als der SPD-Politiker und EU-Kommissar Günter Verheugen mit Unterstützung der Grünen großherzig vorschlug, die Osterweiterung der EU in Deutschland per Volksentscheid bestimmen zu lassen. Prompt wehrte sich das Establishment mit Händen und Füßen dagegen. In puncto „Gemeinschaft“ haben wir nichts zu sagen. Die Kritik gipfelte in der Aussage der damaligen EU-Abgeordneten Dagmar Roth-Berendt (*1953): „Ich halte Volksentscheide für ein Zeichen von Schwäche und auch nicht ein Zeichen von Demokratie“.[10] Was aber sind dann Zeichen von Demokratie? Elitenbildungen? Heute ist die SPD-Politikerin Mitglied der Ethikkommission der EU-Kommission. Prima. Man bleibt unter sich. Gemeinschaft der Scheinheiligen.
Wer damals die Stimmen der Politiker studierte, wird sehr schnell ahnen, dass mit jedem Tag für ein Volk wie die Briten ein Ausstieg immer unausweichlicher wurde. So ehrwürdig und ehrlich die Grundrechte-Charta, die am 7. Dezember 2000 auf dem EU-Gipfel in Nizza proklamiert worden war, dem Bürger auch erscheinen mag, rechtskräftig wurde sie erst 2009 mit dem Lissaboner Vertrag.
Viele Briten sahen bereits zur Jahrtausendwende in der Charta einen weiteren Eingriff der EU in ihr Selbstbestimmungsrecht. Statt eines Europas der Vielfalt würde eines der Uniformität entstehen, meinte der prominente konservative Politiker Francis Maude (*1953), der die Grundrechte als Basis für die Errichtung eines „einzigen europäischen Superstaates“ sah.[11] Als dann 2005 die Bürger in Frankreich und den Niederlanden die EU-Verfassung per Referendum ablehnten, wurde deutlich, dass sich die Menschen mit dieser abgehobenen Bürokratie nicht identifizierten. „Zehnmal dicker als die amerikanische Verfassung“ (‚Die Welt‘) zeugte das Opus bereits in seinem Volumen, wessen Geist es war.[12]
In Deutschland war ein Volksentscheid erst gar nicht in Frage gekommen – wahrscheinlich, weil Politiker offenbar befürchteten, dass dies wieder als ein Zeichen von Schwäche ausgelegt worden wäre – ein Gedanke, den nur sie selbst hegen. Volksentscheide sind demnach, aller Schweiz zum Trotz, einfach kein Zeichen von Demokratie. Deshalb hat man uns Deutschen auch verwehrt, über solche elementaren Dinge wie eine Verfassung oder eine Währung mitzuentscheiden. Wenn Politiker diese Verweigerung dann im Nachhinein, wenn alles entschieden und in trockenen Tüchern ist, als einen Fehler sehen, dann hat das schon etwas Zynisches an sich. Die Politik vertraut mehr der Bürokratie als dem Wähler – oder sich selbst. Mit steigender Tendenz. Das Ganze hat Methode, ist Methode, die bis in die regionalen Parlamente greift. Am einfachsten ist sie in unserem Bundestag zu sehen.
[1] The Economist, March 17,.2007, John Peet: “Fit at fifty?”
[2] Der Spiegel, 2. Januar 1989, Roman Leick, Marion Schreiber: „‘Eine Flurbereinigung ist unvermeidbar‘“
[3] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Mai 1994, Erwin Chargaff: „Vaterländer, Muttersprachen“
[4] The Economist, March 17, 2007, John Peet: “Fit at 50? – A special report on the European Union”
[5] The Economist, May 31, 2008, David Rennie: “In the nick of time” - A special report on the EU enlargement”
[6] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. August 2010, Heinrich-August Winkler: „Europa an der Krisenkreuzung“, in der Satzstellung etwas verändert
[7] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. September 2018: „Die EU muss neu gegründet werden“
[8] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. September 1995, Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Die Nation“
[9] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Juni 1988, André Weckmann: „Diesseits leben wir, jenseits leben andere“
[10] Die Welt, 5. September 2000, Christian Bauschke: „Verfassungsstreit in der Berliner Koalition“
[11] Wall Street Journal, October 26, 2000, Francis Maude: “Blueprint for a Superstate”
[12] Die Welt, 9. Juli 2004, Roger Köppel: „Entfesselte Bürokratie“
1992: »Die Bevölkerung ist besser als ihre Politiker«
Jürgen Habermas (*1929), deutscher Philosoph[1]
Nicht Jaspers, aber einer seiner Doktoranden, der mit der Schweiz eng verbundene Historiker Golo Mann (1909-1994), Sohn von Thomas Mann, hatte es geahnt: „Wenn auch Europa nicht wird, dann weiß ich nicht, was werden soll“, hat er vor 50 Jahren gesagt.[2] Der deutsch-britische Soziologe Ralf Dahrendorf (1929-2009), damals noch EG-Kommissar, meinte 1974: „Ich kann mir heute vorstellen, dass eine Art Balkanisierung Europas stattfindet“, ein Zerplatzen der Gemeinschaft.[3] Noch ist es nicht dazu gekommen, wird es auch nicht. Aber das Projekt Europa stockt, will nicht werden, eher schrumpfen – seit dem Brexit 2020, nicht wachsen – nachdem die Schweiz die Rahmenverhandlungen mit der EU im Mai 2021 abgebrochen hat. Wir sind ratlos, ziehen uns zurück. Europa ist, aber wird nicht. Es ist zukunftsneutral. Es fehlt die Macht der Ohnmacht. Wir fehlen. Im doppelten Sinne.
Es ist zwar die EU-Kommission, auf die wir gerne alle einprügeln und die auch selbst gerne das große Wort führt. Sie steht immer im Mittelpunkt der Kritik, zieht sie geradezu an sich. Sie ist das, was sich der geistige Vater der Gemeinschaft, der Franzose Jean Monnet, so gewünscht hatte: „das Herz der EU“ (‚The Economist‘).[4] Ihr im Nacken sitzt der Ministerrat, der kaum minder das große Sagen für sich beansprucht. Beide konkurrieren um die Hoheit, wobei sich die EU-Kommission inzwischen „explizit als die Hüterin der europäischen Werte“ emanzipiert, befindet der deutsche Rechtswissenschaftler Martin Nettesheim (*1964): „Ihr obliegt die Aufsicht darüber, dass die EU-Mitgliedsstaaten nicht auf Irrwege geraten.“ Sie will Oberwasser. Sie ist unser aller Mama, sagt uns, was wir dürfen und was nicht. Aber einen solchen „supranationalen Handlungsauftrag“ gibt es seiner Meinung nach nicht.[5] Den maßt sich die Kommission nur an, legitimiert durch sich selbst, durch ihre eigenen Verfahren. Das Prozedere, die Prozesse, die Methoden sind die Geheimwaffe, die allein machen sie zum Hüter von allen Gütern. „Vertragsverletzungsverfahren“ ist das Zauberwort, das Ungarn, Polen, Deutschland und andere Sünder in seinen Bann ziehen soll. Das einzige, was daraus entsteht, ist eine EU der Juristen, eine kalte EU, die sich in eine gigantische Erziehungsanstalt verwandelt. Die EU sei doch ein „politisches Projekt“, meint die Neue ‚Zürcher Zeitung‘. [6] So sollte es sein, ist es aber immer weniger. Es ist ein Beamtenprojekt. Vor bald drei Jahrzehnten meinte einmal der Biochemiker und Schriftsteller Erwin Chargaff (1905-2002): „Die EG ist gewiss ein hervorstechendes Beispiel für den Hang zur Einrichtung von Körperschaften, in denen möglichst viele Körper untergebracht werden.“[7] Und damit ist nicht gesagt, dass diese Körper alle in Brüssel untergebracht werden müssen. Sie verteilen sich wundersam über viele Städte und Länder, Professionen und Professoren. Aber das Zentralgestirn ist die belgische Hauptstadt.
Das in dieser Konstellation um Emanzipation hechelnde Europaparlament und der erstarrte Ministerrat, diese beiden gesetzgebenden Körperschaften, müssten sich nach dem Bild, das Brüssel von der EU an die Wand wirft, an dem orientieren, was die Kommission „im Modus technokratisch-administrativer Standardbesetzung“ vorantreibt. Sie würde in „Mechanismen“ (wie Nettesheim die EU zitiert) festlegen, was „mit den EU-Werten vereinbar ist und was nicht“. Einmal festgesetzt, wird der Wertewohlsinn Methode. Am Ende bestimmen die Verfahren die Inhalte, die offensichtlich als Werte so klar sind, dass sie parlamentarisch oder gesellschaftlich nicht mehr diskutiert werden müssen. Es geht nur noch um Durchsetzung, um Macht, um Oberherrschaft. Auf allen Ebenen unseres Gemeinwesens.
So navigiert man am Rande der Selbstherrlichkeit, die schon deswegen unerschütterlich ist, weil der Ministerrat ebenfalls seine Berechtigung auf unbeirrbare Beamtenmacht stützt. Das hat Methode. Ja, diese Methode ist längst Selbstzweck. „Die Europäische Union verändert eine Vielzahl wesentlicher Merkmale des modernen europäischen Nationalstaats und schert sich nicht um die alten nationalen Seelen“, schrieb 2005 der niederländische Schriftsteller Leon de Winter (*1954). „Was jahrhundertelange Entwicklungen – die Ströme von Blut gekostet haben – hin zu Selbstbestimmung, Autonomie, Unabhängigkeit geführt haben, wird von der EU durch neue Verwaltungsmodelle ersetzt, die den jeweiligen Mitgliedstaaten übergeordnet sind.“[8] An diesen Verwaltungsmodellen wird auf allen Ebenen unentwegt gebastelt, aber sie hauchen der Union nur eine Beamtenseele ein. Es herrscht „Die Diktatur der Bürokraten“, wie ‚Der Spiegel‘ 2005 in einer Titelgeschichte intonierte.[9] Das ‚Wall Street Journal‘ lästerte 1990: „Es ist schwer zu sagen, ob Eurokraten intellektuell sich der Idee des freien Marktes verpflichtet fühlen. Jedes Mal, wenn Du einem Eurokraten prinzipielle Fragen stellst, sagt er: ‚Es ist nicht alles schwarz oder weiß, es sind Schattierungen von Grau‘, und dann beginnt er über die Verhandlungen zum Thema Rasenmäherlärm zu erzählen.“[10] Doch nun geht es nicht mehr um Geräuschbelästigung, jetzt geht es um die Rettung der ganzen Umwelt, weit über Europa hinaus. Ein gewaltiger Zuwachs an Verantwortung, zu dem es kein Gegenargument gibt. Mehr als die Hälfte des EU-Haushalts soll nach dem Willen der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (*1958) in die Klimapolitik investiert werden.[11] Endlich hat man wieder einen alles andere überbietenden Gemeinschaftsauftrag gefunden. Dieser Auftrag wird in eine Höhe hochgetrieben, die ihn sakrosankt macht, und damit erhebt er die EU endgültig zur Königin aller Entscheidungen. Wir werden es erleben, jetzt, da erst einmal Corona gebändigt ist. Vor dieser Herausforderung wird alles andere zum Nebenthema. Die Herrschenden haben dabei nicht uns Lebenden im Blick, sondern sie operieren mit der Autorität zukünftiger Generationen.
Dass wir – die Notgeweihten – darüber mitbestimmen möchten, wir, die wir diese Generationen in die Welt setzen, ist eigentlich schon vermessen. Nur ist es so, dass man genau das Demokratie nennt. Eine europäische Regierung kann es nur mit Zustimmung der Regierten geben. Ist das so? Zweifel sind angebracht. Wir wissen ja noch nicht einmal, was die EU eigentlich ist.
Nun – vielleicht kommt die Erkenntnis aus einer ganz anderen, aus einer unerwarteten Ecke. Aus dem Krieg in der Ukraine.
Ja, die EU muss erkennen: Es herrscht Krieg.
„In unserer Welt droht alles zum Markenartikel zu werden.“
Heinrich Böll (1917-1985), deutscher Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger
Alles andere ist nur noch Ableben, kein Abheben mehr in tausend und ein Thema, wie es sich für eine gute Gesellschaft gehört. Es gibt nur noch einen Befehl, der keinen anderen neben sich duldet: „Stoppt den Klimawandel!“ Das ist die gewaltige Gemeinschaftsleistung, die wir erbringen müssen. Dagegen erstarrt alles andere. Das einzige, was uns sonst noch interessiert, sind Stilfragen wie Laschets Lachen oder Baerbocks Mogeleien. Der hoch angesehene deutsche Althistoriker Christian Meier (*1929) meinte 1994: „Das ganze Land ist verkrustet, und die Kultur auch.“[3] Uns ist der Lebenssaft ausgegangen. Corona brachte dann diese Kultur vollends auf einen demütigenden Mitleidskurs. Was übrigbleibt, sind Sprengsel wie „Cancel Culture“, ein Begriff, so geschmacklos wie das, gegen das er sich richten will. Kultur ist ohnehin nur noch zu reiner Stilfrage verkümmert und zersplittert – Willkommenskultur, Essenskultur, Alltagskultur, Diskussionskultur, Unternehmenskultur. Alles depraviert zu bloßer Methode, wir selber sind nur noch Funktionen. Ist das noch ein Leben? Ist das der neue Mensch?
Am Vorabend der Corona-Pandemie, am Neujahrstag 2020 knüpfte der hochbetagte Meier im ‚Deutschlandfunk‘ an seine Worte von 1994 an: „Wir leben in einer totalen – vielleicht kann man sogar sagen: anthropologischen – Krise. Was sind eigentlich zukünftig Menschen?“ Was wird aus uns? Meier blickt dabei auf die wichtigste Freiheitsgarantie, auf die Demokratie: „Auf jeden Fall braucht Demokratie ein gewisses Vertrauen untereinander. Es muss eine horizontale Solidarität geben. Also die Solidarität der Menschen untereinander, mit ihresgleichen.“ Demokratie ist mehr als nur Gemeinschaft, Demokratie ist Vielfalt der Ideen, der Gedanken, der Meinungen. Dazu braucht sie vor allem Gesellschaft – und umgekehrt. Aber die Pandemie hat auch die letzten Reste dessen getötet, was uns eine Gesellschaft vor allem bietet: das ewige Gespräch miteinander. Es ist zur Norm erstarrt.
Nichts ist mehr unsterblich. Nur das Gesetz herrscht ewig, über allem und in uns allen. Als Staat. Dessen Würde zu schützen und zu achten, ist längst unser aller Verpflichtung und Bürde. Im Staat sind wir ganz im Sinne Hegels „aufgehoben“. Er ist unser letzter Halt, unser Gewahrsam. Er ist unser Ersatz für das Fehlen von Gemeinschaft und Gesellschaft. Alles ist Gesetz. Juristen fühlen sich momentan sauwohl.
Wir sind im Geisterreich der Paragraphen, dem Elysium des Staates, der seit der Gründung der Bundesrepublik um uns herum ein filigranes Beziehungsgeflecht aus 1842 Gesetzen und 3500 Verordnungen mit mehr als 85.000 Einzelbestimmungen erdichtet hat.[4] Zu allem und jedem. Hier sind alle Lebensverhältnisse aufgehoben. „Ordnung, Ordnung über alles, über alles in der Welt“, das ist unsere Strophe – zu unserem Schutz und Trutze. Denken wir. Aber die Gesetze und Erlasse kommen nicht von unseren Abgeordneten, unseren Repräsentanten, den Gesetzgebern. Sie kommen nicht aus unserer Mitte, aus unserer Gesellschaft. Sie kommen noch nicht einmal von der Regierung, sondern von deren Beamten. Sie schreiben nicht nur die Gesetze, sie schreiben vor allem die Gesetze für die Gesetze. Alles ist ‚Procedure‘, alles ist Verfahren. Ausgestattet mit der normativen Kraft des Bürokratischen nehmen sie sich selbstherrlich jedes Problems an – gerne der übergeordneten Art. Sie unterwerfen unser Leben ihren Verfahren. Die Exekutive schafft sich ihre Institutionen, die sie sogar mit legislativer Autorität ausstattet, damit ihr niemand vorwerfen kann, sie sei nicht demokratisch. Die Situation ist Verfahren, großgeschrieben und klein gedacht.
BISHER ERSCHIENEN
1996: »Es steht außer Frage, dass wir eine Krise des politischen und philosophischen Denkens durchleben. «
Andrzey Szczypiorski (1928-2000), polnischer Schriftsteller und Teilnehmer am Warschauer Aufstand[1]
Anlässlich 75 Jahre Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik
Wir brauchen dringender denn je die äußere Gesellschaft, die
lebendige, angstfreie, vorbehaltlose Diskussion, die Freude an der Meinung der
anderen. Doch wir spüren irgendwie, dass wir uns in Richtung eines totalitären
Systems bewegen, eines gewaltigen Tankers, an den wir – um mit Heisenberg zu
sprechen – jede Menge Orientierungsmarken heften, die uns aber auf hoher See
überhaupt nichts nützen. Wir treiben dahin. Die Angst lenkt uns aus allen Richtungen
zu dem Ende aller Wege, zum Nirgendwo.
Daran sind wir dann auch noch selber schuld. So „liefert nicht zuletzt die deutsche Gesellschaft selbst deutliche Hinweise darauf, dass die Formierung und Mobilisierung freier (auch akademisch gebildeter) Bürger jenseits des Staats- und Parteiwesens keineswegs zur Stabilisierung von Demokratie und Zivilität beitragen müssen“, meinte 2018 der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter (*1956). Er ist sehr brav. Das Ziel der Demokratie ist aber nicht deren Stabilisierung, sondern deren spontane Vielfalt, die wir an jedem Wahlsonntag beweisen wollen.
Walter gehört zu denjenigen, die mit
der Vergangenheit drohen – mit dem Aufkommen des Antisemitismus, der bereits im
19. Jahrhundert aus der Zivilgesellschaft heraus entstand. Wie alles andere auch. The Good. The Bad. And
the Ugly. Diese Zivilgesellschaft definiert er als eine „Fläche, die
sich zwischen die Individuen und die staatlichen Institutionen legt. Ihr
Kennzeichen ist das kollektive, aber nicht von öffentlichen Körperschaften in
Gang gesetzte Tun.“[1]
Gut formuliert. Treffend. Besser geht's nicht. Aber diese Zivilgesellschaft gefährdet sich permanent selbst,
weil sie sich als Mittelreich zwischen Staat und den Einzelnen schiebt, wobei
der Staat ein Garant des Guten ist. Genau das – so wissen wir seit dem
Holocaust – ist er eben nicht. Da blieb einer wie Adorno knallhart. In seinem
Auschwitz-Aufsatz von 1966 warnte Adorno vor der Rückkehr der „Schreibtischmörder“, die vor allem beim Staat
saßen, gegen die auch eine „noch so weit gespannte Erziehung“ nichts ausrichten
kann. Bitter. Die am Schreibtisch sind die latente Gefahr, eine ungeheuerliche
Behauptung, zumal wir gegen diese machtlos seien. Gegen das Aufkommen von
Folterknechten, die die Gaskammern bedienten und die Massenmorde begingen,
können wir durch Erziehung etwas, wenn auch „Weniges“ (Adorno) unternehmen. Das
gelingt uns ja auch ganz gut. Für Adorno aber saß die Gefahr nicht auf der
Straße, sondern in den Stuben. Deswegen brauchen wir mehr denn je die
Gesellschaft. Aber sie funktioniert nicht mehr.
Die Bedrohung kommt eher aus einem System, aus „Autoritätsstrukturen“ als aus einer Gesellschaft, die in sich frei und offen ist. „Unfähigkeit zur Identifikation war fraglos die wichtigste psychologische Bedingung dafür, dass so etwas wie Auschwitz sich inmitten von einigermaßen gesitteten Menschen hat abspielen können“. Adornos Hammersätze.
Die Identifikation mit unserer
Demokratie, mit dem gesellschaftlichen Leben – das ist der Schlüssel zu allem.
Da liegt die Macht der Ohnmacht. Die Parteien konnete 2021 den Wahlkampf noch so langweilig gestalten, wie sie
wollten. Wir haben die Traditionsparteien kleiner gehalten, als sie sich in ihrer Bedeutung
selbst zumaßen. Und wir haben unbewusst registriert, dass der Staat dazu
überging, seine Demokratie gegen unsere Demokratie zu verteidigen, gegen die gesellschaftlich fundierte Demokratie – nicht gegen
deren Feinde, die braucht der Staat nur, um sein Tun zu legitimieren. So kam es jedenfalls
rüber. Wir sollen ein System
akzeptieren, das sich selbst beherrscht, eines ohne Führer, eines, das
sich selbst zusammenklaubt – eines Systems, dessen Namen keiner kennt. Ein
Rumpelstilzchen, autark, das seine eigenen Gesetze backt, das sich selbst seine
Verordnungen zusammenbraut. Und der Frau Königin ihr Kind, unsere Demokratie,
holt es sich auch. Übermorgen.
Bei der Wahl 2017 war es den Altparteien noch einmal gelungen, dieses neue Staatswesen vor uns zu verbergen, konnten sie noch einmal Stroh in Gold verwandeln. Eine „Systemüberwindung“, um einen 68er Begriff zu benutzen, der klammheimlichen Art. Es überwindet sich selbst und führt sich in eine eigene Autarkie. Bundeskanzlerin Angela Merkel war eine sehr treue Dienerin dieses Staates, der sich selbst Gemeinschaft ist. Sie hat diesen Job – das müssen wir Bürger anerkennen – exzellent gemacht. Aber sie hat nicht – wie wohl zuletzt Willy Brandt – eine innovative, gesellschaftliche Diskussion entfacht. Im Gegenteil. Wir wurden wundersam eingelullt. Dafür steht diese gesamte Politikergeneration. Besänftigen – darin sieht sie ihren Job. Wir werden gescholzt. Wir werden schreibtischtauglich gemacht, bildschirmgerecht. Selbst der Freiheitspartei fehlte der Mumm, diesen Prozess zu durchbrechen. 2017 hätte es gelingen können, wenn sie – die andere Altpartei, die FDP – keine kalten Füße bekommen hätte. Dann hätte es Wumm gemacht. Das Leben wäre zurückgekehrt. Stattdessen kam der totale Lockdown.
Ob es 2021 glückt? Es kann sein, dass wir unsere Ohnmacht
zur Macht, unseren Stimmzettel, neu ins Spiel bringen. In Vielfalt. Als
Gegenwille. Als Gegenentwurf. Es ist uns schon einmal geglückt. „Menschen, die
blind in Kollektive sich einordnen, machen sich selber schon zu etwas wie
Material, löschen sich als selbstbestimmte Wesen aus“, sagte Adorno 1966. Drei
Jahre später hatten wir „mehr Demokratie“ (Willy Brandt) gewagt – und nochmals
drei Jahre später, 1972, als sich im Bundestag ein Patt zwischen den
Altparteien ergab, haben wir unseren Eigenwillen zur Demokratie erneut
machtvoll bestätigt. Mit mehr als 90 Prozent Wahlbeteiligung. Für dumpfe
Kollektive sind wir nicht mehr zu haben. Das sollte auch weiterhin unser Signal sein. Hoffentlich.Wenigstens das.
Vielleicht werden wir irgendwann sehen, dass unsere
beste Gesellschaft nicht in den Ministerien und im Kanzleramt sitzt, sondern im
Parlament, einem Begriff, der 1272 zum ersten Mal in England auftritt – in der
Zeit der Normannenherrschaft. Da war es noch eine Versammlung der Adeligen und
Edlen. Heute soll er vor allem ein Spiegelbild der gesamten Bevölkerung sein,
trotz der Nichtwähler. Aber dieses Parlament verkauft sich unter Wert. Nicht nur auf Bundesebene, sondern in den Kommunen, in den Ländern, in der EU.
Das Parlament wählt - ab Landesebene - letztlich die Regierung. Wir aber haben es auf unserem Stimmzettel zu zeigen, welche lebendige Gesellschaft hinter diesem Parlament steht, hinter den Gemeinderäten, überall – und keine abgestumpfte Masse. Das Parlament repräsentiert uns, die Gesellschaft, nicht die Partei, nicht den Staat, sondern die Demokratie. Daran wird es gemessen. Wir können nur hoffen, dass es sich dessen bewusst ist.
Im Übrigen gilt bis dahin: Wir haben die Wahl.