Sonntag, 12. Mai 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 28) HEUTE: EUROPA (1)

 1992: »Die Bevölkerung ist besser als ihre Politiker«

Jürgen Habermas (*1929), deutscher Philosoph[1]

 Von Raimund Vollmer 

3. Wohlsinn und Methode


Das Denken ausschließlich in Methoden und Verfahren geht auf verschlungenen Pfaden bis hinauf in die Europäische Union, die sich  mit dem Ministerrat etwas Ähnliches wie den deutschen Bundesrat geschaffen hat, dessen Befugnisse sogar über die unseres Bundesrates hinausgehen, mit dem der Ministerrat ansonsten durchaus vergleichbar ist. Der Ministerrat hat volle gesetzgeberische Kompetenzen. Dessen Mitglieder sind „die Herren des Verfahrens“, wie es ‚Die Zeit‘ einmal nannte. Sie sind es in einer verqueren Kombination exekutiver Kräfte.

Nicht Jaspers, aber einer seiner Doktoranden, der mit der Schweiz eng verbundene Historiker Golo Mann (1909-1994), Sohn von Thomas Mann, hatte es geahnt: „Wenn auch Europa nicht wird, dann weiß ich nicht, was werden soll“, hat er vor 50 Jahren gesagt.[2] Der deutsch-britische Soziologe Ralf Dahrendorf (1929-2009), damals noch EG-Kommissar, meinte 1974: „Ich kann mir heute vorstellen, dass eine Art Balkanisierung Europas stattfindet“, ein Zerplatzen der Gemeinschaft.[3] Noch ist es nicht dazu gekommen, wird es auch nicht. Aber das Projekt Europa stockt, will nicht werden, eher schrumpfen – seit dem Brexit 2020, nicht wachsen – nachdem die Schweiz die Rahmenverhandlungen mit der EU im Mai 2021 abgebrochen hat. Wir sind ratlos, ziehen uns zurück. Europa ist, aber wird nicht. Es ist zukunftsneutral. Es fehlt die Macht der Ohnmacht. Wir fehlen. Im doppelten Sinne.

Es ist zwar die EU-Kommission, auf die wir gerne alle einprügeln und die auch selbst gerne das große Wort führt. Sie steht immer im Mittelpunkt der Kritik, zieht sie geradezu an sich. Sie ist das, was sich der geistige Vater der Gemeinschaft, der Franzose Jean Monnet, so gewünscht hatte: „das Herz der EU“ (‚The Economist‘).[4] Ihr im Nacken sitzt der Ministerrat, der kaum minder das große Sagen für sich beansprucht. Beide konkurrieren um die Hoheit, wobei sich die EU-Kommission inzwischen „explizit als die Hüterin der europäischen Werte“ emanzipiert, befindet der  deutsche Rechtswissenschaftler Martin Nettesheim (*1964): „Ihr obliegt die Aufsicht darüber, dass die EU-Mitgliedsstaaten nicht auf Irrwege geraten.“ Sie will Oberwasser. Sie ist unser aller Mama, sagt uns, was wir dürfen und was nicht. Aber einen solchen „supranationalen Handlungsauftrag“ gibt es seiner Meinung nach nicht.[5] Den maßt sich die Kommission nur an, legitimiert durch sich selbst, durch ihre eigenen Verfahren. Das Prozedere, die Prozesse, die Methoden sind die Geheimwaffe, die allein machen sie zum Hüter von allen Gütern. „Vertragsverletzungsverfahren“ ist das Zauberwort, das Ungarn, Polen, Deutschland und andere Sünder in seinen Bann ziehen soll. Das einzige, was daraus entsteht, ist eine EU der Juristen, eine kalte EU, die sich in eine gigantische Erziehungsanstalt verwandelt. Die EU sei doch ein „politisches Projekt“, meint die Neue ‚Zürcher Zeitung‘. [6] So sollte es sein, ist es aber immer weniger. Es ist ein Beamtenprojekt. Vor bald drei Jahrzehnten meinte einmal der Biochemiker und Schriftsteller Erwin Chargaff (1905-2002): „Die EG ist gewiss ein hervorstechendes Beispiel für den Hang zur Einrichtung von Körperschaften, in denen möglichst viele Körper untergebracht werden.“[7] Und damit ist nicht gesagt, dass diese Körper alle in Brüssel untergebracht werden müssen. Sie verteilen sich wundersam über viele Städte und Länder, Professionen und Professoren. Aber das Zentralgestirn ist die belgische Hauptstadt.

Das in dieser Konstellation um Emanzipation hechelnde Europaparlament und der erstarrte Ministerrat, diese beiden gesetzgebenden Körperschaften, müssten sich nach dem Bild, das Brüssel von der EU an die Wand wirft, an dem orientieren, was die Kommission „im Modus technokratisch-administrativer Standardbesetzung“ vorantreibt. Sie würde in „Mechanismen“ (wie Nettesheim die EU zitiert) festlegen, was „mit den EU-Werten vereinbar ist und was nicht“. Einmal festgesetzt, wird der Wertewohlsinn Methode. Am Ende bestimmen die Verfahren die Inhalte, die offensichtlich als Werte so klar sind, dass sie parlamentarisch oder gesellschaftlich nicht mehr diskutiert werden müssen. Es geht nur noch um Durchsetzung,  um Macht, um Oberherrschaft. Auf allen Ebenen unseres Gemeinwesens.

So navigiert man am Rande der Selbstherrlichkeit, die schon deswegen unerschütterlich ist, weil der Ministerrat ebenfalls seine Berechtigung auf unbeirrbare Beamtenmacht stützt. Das hat Methode. Ja, diese Methode ist längst Selbstzweck. „Die Europäische Union verändert eine Vielzahl wesentlicher Merkmale des modernen europäischen Nationalstaats und schert sich nicht um die alten nationalen Seelen“, schrieb 2005 der niederländische Schriftsteller Leon de Winter (*1954). „Was jahrhundertelange Entwicklungen – die Ströme von Blut gekostet haben – hin zu Selbstbestimmung, Autonomie, Unabhängigkeit geführt haben, wird von der EU durch neue Verwaltungsmodelle ersetzt, die den jeweiligen Mitgliedstaaten übergeordnet sind.“[8] An diesen Verwaltungsmodellen wird auf allen Ebenen unentwegt gebastelt, aber sie hauchen der Union nur eine Beamtenseele ein. Es herrscht „Die Diktatur der Bürokraten“, wie ‚Der Spiegel‘  2005 in einer Titelgeschichte intonierte.[9] Das ‚Wall Street Journal‘ lästerte 1990: „Es ist schwer zu sagen, ob Eurokraten intellektuell sich der Idee des freien Marktes verpflichtet fühlen. Jedes Mal, wenn Du einem Eurokraten prinzipielle Fragen stellst, sagt er: ‚Es ist nicht alles schwarz oder weiß, es sind Schattierungen von Grau‘, und dann beginnt er über die Verhandlungen zum Thema Rasenmäherlärm zu erzählen.“[10] Doch nun geht es nicht mehr um Geräuschbelästigung, jetzt geht es um die Rettung der ganzen Umwelt, weit über Europa hinaus. Ein gewaltiger Zuwachs an Verantwortung, zu dem es kein Gegenargument gibt. Mehr als die Hälfte des EU-Haushalts soll nach dem Willen der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (*1958) in die Klimapolitik investiert werden.[11] Endlich hat man wieder einen alles andere überbietenden Gemeinschaftsauftrag gefunden. Dieser Auftrag wird in eine Höhe hochgetrieben, die ihn sakrosankt macht, und damit erhebt er die EU endgültig zur Königin aller Entscheidungen. Wir werden es erleben, jetzt, da erst einmal Corona gebändigt ist. Vor dieser Herausforderung wird alles andere zum Nebenthema. Die Herrschenden haben dabei nicht uns Lebenden im Blick, sondern sie operieren mit der Autorität zukünftiger Generationen.

Dass wir – die Notgeweihten – darüber mitbestimmen möchten, wir, die wir diese Generationen in die Welt setzen, ist eigentlich schon vermessen. Nur ist es so, dass man genau das Demokratie nennt. Eine europäische Regierung kann es nur mit Zustimmung der Regierten geben. Ist das so? Zweifel sind angebracht. Wir wissen ja noch nicht einmal, was die EU eigentlich ist.

Nun – vielleicht kommt die Erkenntnis aus einer ganz anderen, aus einer unerwarteten Ecke. Aus dem Krieg in der Ukraine.

Ja, die EU muss erkennen: Es herrscht Krieg.


11 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Was will man von Europa erwarten, einem Kontinent, benannt nach dem mehrfachen Opfer einer göttlichen Vergewaltigung???

Anonym hat gesagt…

Dann, mein Freund, wird die Erde unser Vaterland und alle Menschen unsere Landsleute sein. Wir werden uns stellen und wenden können, wohin wir wollen und immer glücklich sein. Ja, wir werden unser Glück zum Teil in der Gründung des Glücks anderer finden, und andere bilden, wie wir bisher selbst gebildet worden sind.
Heinrich v. Kleist 18.10. 1777 - 21. 11. 1811ä
Aufsatz, den sicheren Weg des Glücks zu finden....

Anonym hat gesagt…

Kann die Vergewaltigung durch einen Gott göttlich sein? Bei Göttern war damals nichts ausgeschlossen. Und Europa ritt auf dem Stier.
Heute ist Europa nicht mehr so gut drauf und ein Gott kommt nicht mehr vorbei .
Deshalb ist die Europa von der Leyen überall unterwegs, um mit heutigen Göttern Gute-Nacht-Geschichten zu arrangieren- das Brautgeld bringt sie selbst mit.

Anonym hat gesagt…

👍

Anonym hat gesagt…

Wann immer sich Widerstand regt, dann doch nur, weil es davor einen Fortschritt gegeben hat.
David Bloomfield Professor am Brooklyn College New York

Besserwisser hat gesagt…

Krieg herrscht nicht – Krieg wird geführt...

Anonym hat gesagt…

Die Erkenntnis kommt aus dem Ukraine-Krieg?
Sagen Sie mir bitte, aus welchen Kriegen bisher Erkenntnisse kamen?
Es gab nur Erfahrungen, Leid und Tote. Dann gab es das Vergessen, das Verdrehen und eine Gedenkstunde am Volkstrauertag. .

Anonym hat gesagt…

Sollte man meinen. Ist aber nicht so.
Wenn die Kriegsführer nicht mehr Herr der Dinge sind, wenn die Ideologie und der Krieg die Herrschaft übernommen habe, dann kommt Stalingrad, Sebrenica, Marioupol, Majdanek und Auschwitz, Und wenn die Leute hinterher ihr Gewissen befragen und feststellen, ich war nicht dabei. Dann herrschte Krieg.

Anonym hat gesagt…

Gottseidank haben wir Schüssler Salze, Wundpflaster ein eine welt voller Idioten.
Die Idioten, die Beifall klatschen und die Idioten, die duldsam zuschauen.

Anonym hat gesagt…

Alle sind Idioten - außer mir 😎

Anonym hat gesagt…

Staaten haben keine Freunde, sondern Interessen.
Henry Kissinger