Mittwoch, 15. Mai 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 31) HEUTE: DIE BUNDESPUBLIK (9)

1969: Wer hat die Macht?

 1992: »Was sich momentan abzeichnet, ist eine Expertokratie, die notwendig ist, um Minimalentscheidungen treffen zu können.«

Gerfried Hunold (*1938), katholischer Theologe, in ‚Bild der Wissenschaften'

 

Anlässlich 75 Jahre Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik

 Rat & Tag

Von Raimund Vollmer 

Eine zentrale Rolle spielte in den Anfängen nach dem Krieg General Lucius D. Clay (1898–1978), der von 1947 bis 1949 Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone gewesen war. So berichtet das amerikanische ‚Wall Street Journal‘ 2005, dass Clay von vornherein ausschließen wollte, dass es in Deutschland je wieder eine Zentralmacht gäbe, die in der Lage wäre, die Welt erneut ins Unheil zu stürzen. Schon der sogenannte Morgenthau–Plan von 1944 hatte unter der Überschrift gestanden „A Program to Prevent Germany Starting a World War III“ – ein Programm, das Deutschland daran hindern sollte, einen Dritten Weltkrieg zu starten. Auch wenn der Morgenthau-Plan fallengelassen wurde, so wirkte er dennoch bei jenem Mann nach, der ansonsten derjenige war, der von einer Bestrafung und Deindustrialisierung Deutschlands abgerückt war. Clay hatte keine konkrete Direktive aus Washington erhalten, aber bereits am 17. Oktober 1945 hatte er den „Länderrat der amerikanischen Besatzungszone“ gegründet. „Seine Konstituierung war (…) der erste Schritt auf dem Weg zu einer neuen gesamtstaatlichen Ordnung“, erinnerte zwanzig Jahre später der damalige Präsident des Bundesrates und Ministerpräsident von Hessen, Georg August Zinn (1901–1976), an dieses Ereignis. 

So war es Clays Initiative zu verdanken, dass dieses föderale System entstand, das es in dieser Form – wie das ‚Wall Street Journal‘ schrieb – auf nationaler Ebene sonst nirgendwo in Europa gab. Eine Meinung, die auch Hennis teilt. Der Journalist Carl Graf von Hohenthal meint sogar: „Die Konstruktion des Bundesrates ist einzigartig in der Welt. Hier ist die Exekutive in der 2. Kammer vertreten, ohne direkt vom Volk gewählt zu sein.“[1] Eigentlich eine Absurdität, auch in anderer Hinsicht. Clay schuf „regionale Regierungen, von denen einige auf früheren Königtümern und andere auf Neukonstruktionen basierten“. So die Aussage von Hessens Ministerpräsident Zinn. Der Staatsrechtler Paul Feuchte (1919–2013) meinte einmal dazu: „Es mutet idyllisch an, dass etwa bei der Bildung des Landes Hessen das Territorium der alten Landgrafschaft vor der Erbteilung durch Philipp den Großmütigen berücksichtigt wurde. Aber keines der Länder hat die aus der Weimarer Zeit vertrauten Konturen übernommen. Zerstückelt war Preußen, dessen Gebiet einst zwei Drittel des Reiches bedeckt hatte. Die linksrheinische Pfalz ging Bayern verloren, und im Südwesten durchschnitt die Autobahn als Grenze das alte Baden und das alte Württemberg in Teile von ungleicher Leistungskraft, Zusammengehöriges jäh auseinanderreißend.“ Und über den Länderrat urteilte er: „Mochten diese Maßnahmen anfangs nur als ein Provisorium erscheinen, so legten sie doch den Grund für den Staatsaufbau.“[2] Ein Staatsaufbau mit einem „Systemfehler“,  meint Hennis: dem Bundesrat, der mit dem der Schweiz überhaupt nicht zu vergleichen ist.

In der Folge bekam die Bundesrepublik den Bundesrat als Ersatz für eine 2. Kammer – und das ging, wie die Deutschen 20/21 nur zu sehr spürten – auf Kosten des Bundestages.[3] Mit seinen lediglich 200 Mitarbeitern scheint der Bundesrat mächtiger zu sein als der Bundestag und dessen 4500 Mitarbeitern – übrigens eine Verdreifachung gegenüber 1998. [4] Es kommt also nicht auf die Menge an, sondern auf die Macht – und die geht nicht direkt von den Bürgern aus. Ja, manchmal könnte man meinen: Je weniger Macht von den Bürgern abhängig ist, desto größer wird sie. Macht kämpft am liebsten um Macht – ohne uns. Wir stören nur.

Dieses Ringen um die Oberherrschaft hat inzwischen Tradition. Die Versuchung, den Bundesrat zu instrumentalisieren und sei es nur für eine Blockade, führte 1974 zu einem handfesten Streit, nachdem die sozialliberale Bundestagsmehrheit mit Gesetzen zur Erbschafts- und Vermögenssteuer am Veto des von CDU und CSU dominierten Bundesrates gescheitert war. „Der Wille der Wähler, die die gegenwärtige Bundestagsmehrheit beauftragt haben, ihr Programm zu verwirklichen, soll überspielt werden. Nicht mehr der Bundestag soll entscheiden, sondern der Bundesrat, dessen Mitglieder vom Wähler nicht unmittelbar beauftragt und für ihn weitgehend anonym sind“, hatte am 20. März 1974 der Tübinger Bundestagsabgeordnete Friedrich Schäfer (SPD) moniert.[5]

Zwanzig Jahre später lehnte der Bundesrat kurzerhand Änderungen des Grundgesetzes ab, die der Bundestag beschlossen hatte und Kompetenzen der Länder zugunsten des Bundes verlagern sollten.[6] „Die Länder haben den Bund konstituiert und nicht umgekehrt“, bemerkte damals der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (*1941).[7] Basta! Aber eigentlich waren es die amerikanischen und britischen Besatzungsmächte…

Heute haben wir – in der Bewältigung der Pandemie – einen Bundestag, der nur die zweite oder gar die dritte Geige spielt. Die Exekutive hat gewonnen. So wickelt uns der Staat mit zunehmend definitorischer Macht ein in sein diffuses Regelwerk, dass immer weniger von uns verstanden wird. Und mit Corona gelingt dem Staat der komplette ‚Takeover‘. Sanft und milde. Manchmal allerdings auch reichlich plump. Denn er weiß Kräfte auf seiner Seite, die im Gefüge der Macht immer von Anfang an dabei sind: die Parteien, die in den Ländern mit unterschiedlichen Koalitionen ebenso mächtig präsent sind wie auf der Bundesebene. Und sie gehen mit ihrer alle Institutionen und Parlamente durchdringenden Macht alles andere als zimperlich um. Das gilt vor allem dann, wenn ihre Regierung in Berlin an der Macht ist.

So kanzelte Daniel Günther (*1973), Ministerpräsident von Schleswig–Holstein, im April 2021 die Fraktion von CDU und CSU im Bundestag ab, als die Idee diskutiert wurde, deren Abgeordnete über die Auswahl des Kanzlerkandidaten zumindest mitentscheiden zu lassen: „Die Fraktion hat kein Mandat, über die Spitzenkandidatur abzustimmen, und sollte auch in Zukunft nicht das Gremium für eine Entscheidung sein“, erklärte er in einem Interview mit der ‚FAZ‘.[8] Die Partei entscheidet – und die Fraktion gehorcht. Denn sie, über deren mögliche Zusammensetzung die Partei mit der Vergabe der Listenplätze verfügt, darf erst am Ende, wenn alles ausgezählt  wurde und alle gewählt haben, über den Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin abstimmen. Das klingt alles sehr exekutiv. Und auch die Rolle des Souveräns, des Wählers, ist nicht gerade triumphal. Warum gehen wir überhaupt noch wählen? Eine Frage, eine bestürzende Erkenntnis, die sich selbst  den Gutwilligsten allmählich aufdrängt.

Karl Jaspers hat die jämmerliche Position des Wählers bereits 1966 charakterisiert. „Er wählt die, die schon gewählt sind.“ Bis heute hat sich daran nichts geändert. Natürlich kann er, der Bürger, „all diese Wahlvorschläge abwählen. Nach Zufall der Stimmung, politisch gedankenlos, eigentlich ‚ratlos‘ muss er wählen“ (Jaspers). Soll das unsere Vorstellung von Demokratie sein? Die der Herrschenden ist es schon. Kann das so bleiben? Meldet sich da Widerstand?


 

26 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Expertokratie oder gesunder Menschenverstand?

Anonym hat gesagt…

Klagen auf hohem Niveau wird gerne auch Nörgeln genannt...

Raimund Vollmer hat gesagt…

Nörgeln? - was dann ja wohl kein hohes Niveau mehr ist. Ich nehme an, Sie meinen mit Ihrer Bemerkungden Beitrag insgesamt, oder?

Raimund Vollmer hat gesagt…

Expertokratie - gesunder Menschenverstand? Das eine schließt das andere aus. Jedenfalls momentan. Aber eigentlich herrscht in D. nur noch der Meinungsverstand...

Besserwisser hat gesagt…

Alles beruht auf der Meinung.
Marc Aurel (121 - 180), römischer Kaiser und Philosoph

Anonym hat gesagt…

Meiner Meinung nach: Das lockere Wörtchen "Meinung" hat, im Gegensatz zur strengeren "Wahrheit", eine dunkle Vorliebe für das Possessivpronomen. Ob zwischen "Meinung" und "mein" nicht gar eine inzestuöse Verbindung besteht?
Rainer Kohlmayer (*1940), Professor für Interkulturelle Germanistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Herausgeber der Zeitschrift »Die Schnake«

Anonym hat gesagt…

Wegen Nörgeln und Niveau – ich meine hier mit Niveau: Es geht uns trotz all dem Beklagten doch immer (noch) verhältnismäßig gut. Jede Kritik sollte im Verhältnis zu den Umständen und den Optionen fair bleiben. Das Niveau der Kritik stimmt, aber ich finde sie kleinlich. Man könnte von mir aus statt vom Nörgeln auch vom Quengeln, Knurren, Murren, Mosern oder Herummeckern sprechen...

Analüst hat gesagt…

Wann gerät ein deutscher Bürger ins Visier des Verfassungsschutzes? Die Antwort darauf ist beunruhigend vage

https://www.nzz.ch/international/deutscher-verfassungsschutz-auf-dem-weg-zur-gesinnungspolizei-ld.1815064

Raimund Vollmer hat gesagt…

Zum Nörgeln: Ich weiß nicht - zu hinterfragen ist schon die seltsame Position des Bundesrates als 2. Kammer, die - im Unterschied zu anderen Demokratien - nicht direkt gewählt wird, sondern aus Vertretern der Exekutive gebildet wird. Das ist keine Kleinigkeit - und wenn man die Hintergründe erfährt, dann bekommt das sogar einen Hauch von Hinterzimmern und Hintergedanken, die uns - den Bürgern - verborgen sind. Wer das als Nörgeln abtut, wertet etwas ab, was uns als Bürger, die Transüarenz sich wünschen, sehr wertvoll ist. Oder ist da Angst vor der Wahrheit das Motiv? Keine Sorge, wir Deutschen lieben uns Grundgesetz...

Anonym hat gesagt…

"Ob wählen oder nicht wählen, ist bei allgemeinem Stimmrecht nur eine Frage der Nützlichkeit, nicht eine Prinzipienfrage. Wir haben ein Recht zu wählen - der Umstand dass das Recht oktroyirt worden, beraubt uns nicht unseres natürlichen Rechts - und wenn wir einen Vortheil dabei sehen, so wählen wir. Von diesem Gesichtspunkt aus fassten wir in Sachsen bei Berufung des 'Reichstags' die Sache auf."
Wilhelm Liebknecht 1869
(nach einer Broschüre von 1874)

Anonym hat gesagt…


"Denkt man vollends daran, was da in Amerika alles gewählt wird, so steht einem ohnehin schon der Verstand still, falls man sich daneben vorstellen muss, dass sonst aufgeklärte Arbeiter sich dazu hergeben sollen, zur Einsetzung der betreffenden Personagen ihre Zustimmung zu geben.
Richter, Staatsanwälte, Henker, Polizisten etc., die unter allen Umständen nur den Zweck haben, die Menschen zu schurigeln, soll ein revolutionärer Arbeiter sich auf's Genick setzen? Er könnte sich ebenso gut selbst ohrfeigen.

Hier noch ein anderes Bild! Bereits vor vier Jahren karakterisirten wir den deutschen Parlamentarismus, wie folgt:
Von 42 Millionen Deutschen besitzen ungefähr 8 Millionen das sogenannte "allgemeine Stimmrecht"; hiervon machen etwa 3 Millionen durchschnittlich keinen Gebrauch. Zwei Millionen Stimmen (rund gerechnet) entfallen auf die sitzenbleibenden Kandidaten;  mithin gelangen in der Regel die Bevollmächtigten von ca. 3 Millionen Einwohnern in den Reichstag. Die übrigen 39 Millionen sind von vornherein ohne Vertretung.
Der Rechstag ist beschlussfähig,  wenn die Hälfte seiner Mitglieder, also die Repräsentanz von anderthalb Millionen Deutschen, anwesend ist, und selten sind mehr "Volksvertreter" anwesend.
Bei der Abstimmung über ein Gesetz entscheidet wiederum die einfache Majorität, also - gut gerechnet - die Vertreterschaft von 800 000 Stimmen."
Nur 800 000 haben indirekt ein wenig dareingeredet zu 41 200 000 Einwohnern.
Johann Most. 1846 - 1906 "Der Stimmkasten"
Umherreisender Hausierer, Hutfabrikant, Sozialdemokrat, Reichstagsabgeordneter,
Zuchthausaufenthalte wegen Hochverrat, Störung der öffentlichen Ordnung. Exil in England, USA. Anarchistischer Publizist und Agitator. Zahlreiche Veröffentlichungen, verschiedene "Handbüchlein" " betreffend Gebrauches und Herstellung von Nitro-Glyzerin, Dynamit...usw". in denen er sich seine Feinde vorknöpfte: Privatkapital, Religion und Kirche, Parlamentarismus

Anonym hat gesagt…

Schöießt sich das gegenseitig aus?

Anonym hat gesagt…

Für den einen ist es Nörgeln, für den anderen ernste Kritik.
Für die Beurteilung kommt es auf den nach oben offenen Seismographen an.
Das ist nicht sachlich zu kritisieren, nur emotional.

Anonym hat gesagt…

Richtig. Bedeutend schlimmer geht es in der EU zu. Ein sich selbst referenzierender, aus seiner Komplexität selbst ernährender Moloch, bürgerfern und deshalb ergebnislos von allen kritisiert, seien es Regierungen, Parlamente, Wirtschaft, Gesellschaft.

Raimund Vollmer hat gesagt…

Ich kann mich immer nur wiederholen: Ich habe eine Riesenfreude daran, wie elegant hier die Klingen gekreuzt werden. Hoffentlich bleibt das so - auch wenn ich ir wünschte, Namen stünden unter den Beiträgen (und nicht nur die der Zitierten). Es muss ja nicht der Klarname sein, nur damit man weiß, wer hinter den einzelnen Beiträgen steht. Würde die Freude erhöhen.

Analüst hat gesagt…

Als der weltgroße Klau|s|ens gefragt wurde, warum manche Leute anonym, also ohne einen Namen bzw. ohne Grabstein auf dem Friedhof liegen, antwortete er: "Weil sie sich sorgen, daß andernfalls jeder sofort weiß, wer das ist und wo er ist, der da liegt. Es hat mit dem Datenschutz zu tun, denn es muß ja nicht jeder alles von uns wissen."
Klau|s|ens (*1958), Dichtschreibkunstmaleurpoetenrebell, »Dozent« des Goethe-Instituts in zahlreichen Ländern und Gründer des ersten deutschen Büroklammermuseums

Anonym hat gesagt…

Victor Auburtin: "Sooft ich in meinem Kurier einen anonymen Brief finde, lese ich ihn vor allen anderen und mit besonderer Aufmerksamkeit, weil ich der Meinung bin, daß nur der anonyme Freund ganz ehrlich ist und die volle Wahrheit sagt."

Victor Auburtin (1870 - 1928) war ein deutscher Journalist und Schriftsteller, entstammte einer französischen Emigrantenfamilie, war Berliner Feuilletonist und Auslandskorrespondent für das "Berliner Tageblatt"

Anonym hat gesagt…

"Forget it, Jack, it's Altenburg"
Nach: Chinatown von Roman Polanski

Anonym hat gesagt…

Alle modischen Laster gelten als Tugenden. Molière. Don Juan
...auch die anonymen!

Anonym hat gesagt…

Die Warheit, die bittere Wahrheit.
Danton

Anonym hat gesagt…

Zum Nörgeln:
Eine halbwegs lebendige Idee wird dort zur Taktlosigkeit, so sehr ist man an schale Worte gewöhnt. Wehe dem, der eigene Gedanken zeigt. ee

Anonym hat gesagt…

Faublas

Anonym hat gesagt…

Zu Polanski: „Er wollte, dass ich es genieße“
https://www.welt.de/vermischtes/article120196714/Er-wollte-dass-ich-es-geniesse.html

Anonym hat gesagt…

"Alle Menschen sind gleich." Vielleicht der einzige menschheitsbewegende Satz, der von keinem Menschen je für wahr gehalten wurde.
Johannes Groß Publizist Journalist. 8.10.82 FAZ Notizbuch

Anonym hat gesagt…

Was denn sonst?

Anonym hat gesagt…

Noch jeder Menschenverderber hat sich auf einen großen Propheten oder Philosophen als Auftraggeber gestützt. Nur im Namen Kants ist nie eine Untat möglich gewesen.
Johannes Groß. 23.9.83 FAZ Magazin