Dienstag, 14. Mai 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 30) HEUTE: DIE BUNDESPUBLIK (8)

1964: Aktuelle Frage

 2007: »Zu großer Menschenfreundlichkeit besteht überhaupt kein Anlass.«

Wolfgang Sofsky (*1952), deutscher Soziologe

 

Anlässlich 75 Jahre Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik

Exzellenzen & Zaunkönige

Von Raimund Vollmer 

 

Fast 90 Prozent der von den Abgeordneten des Deutschen Bundestages zwischen 2013 und 2017 verabschiedeten Gesetze basierten auf Vorlagen der Regierungsseite. Das war nicht immer so. In der Legislaturperiode von 1990 bis 1994 hatte der Anteil noch bei 68 Prozent gelegen. In der Merkel-Ära schnellte dann der Regierungspart von zunächst 79,2 auf 87,9 Prozent hoch.[1] Mal sehen, wie es am Ende der Ampel-Koalition aussehen wird. .  

Obwohl der Bundesrat einen verschwindend geringen Anteil an den eigentlichen Gesetzesinitiativen hat, verfügt dieses Gremium inzwischen in mindestens 60 Prozent der zu verabschiedenden Gesetze über ein Mitbestimmungsrecht. Ursprünglich aber sollte der Bundesrat nach der Vorstellung der Verfassungsväter – meinte jedenfalls einmal der ‚ Economist‘ – nur einen Anteil von zehn Prozent haben.[2]  Der deutsche Journalist Carl Graf Hohenthal bezifferte in einem Beitrag der ‚FAZ‘ den Anteil mit ursprünglich 30 Prozent. 1998, bei Erscheinen seines Artikels, seien es 60 Prozent und bei wichtigen Gesetzen 90 Prozent. [3] Da sich das kaum steigern lässt, wird es auch heute noch so sein. Ohne den Bundesrat geht nichts. In der Pandemie zeigte er es uns deutlich. Da triumphierte er über allem.

Bei der deutschen Verfassungsreform in den neunziger Jahren erweiterten die Länder gar ihren Einfluss: „Im neuen Artikel 23 schlugen sie Mitwirkungsrechte in Europa-Angelegenheiten heraus, die der klassischen Regelung jedes Bundesstaates, wonach die Auswärtigen Angelegenheiten Sache des Bundes sind (Artikel 32 GG), diametral entgegenstehen“, bemerkte 1997 der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis (1923-2012).[4] Haben die Bundesbürger das gemerkt? Natürlich nicht. Sollen wir ja auch nicht. Da sind sich alle Regierenden einig.

Im Prinzip haben wir – wie erwähnt – in Deutschland zwei Regierungen, die des Bundes und die der Länder. Die Existenz des Bundesrates ist dabei durch eine Ewigkeitsklausel im Grundgesetz garantiert. Das reicht. Diese Regierungen sind de facto das Gesetz, sie sind vor allem die Verordnungen, die zu formulieren und zu gestalten allerhöchste Verpflichtung aller Bürokratien ist, den heimlichen Regenten. „Exekutiv-Föderalismus“ sei der Fachausdruck für das deutsche System, meint Hennis. Dieses System sei ein Erbe des Bismarck-Reiches. 1871 war das Deutsche Reich von 22 „Bundesfürsten“ begründet worden – ein Geniestreich des Reichskanzlers Otto von Bismarck (1815-1898). Diese Bundesfürsten waren lauter Gleichgesinnte, keinem Parteienstreit ausgesetzt. Ein Parteienkampf fand nur im Reichstag statt – „ohne die Kraft, sich gegenüber dem ‚Präsidium‘, das heißt dem Kaiser und dem von ihm bestimmten Reichskanzler und dem ingeniös damit verkoppelten Bundesrat, durchsetzen zu können“. So der Freiburger Gelehrte.  Über die Weimarer Verfassung bis in die Gründung der Bundesrepublik hat sich diese Bedeutung in mehr oder minder abgeschwächter Form zu erhalten. Diese Grundstrukturen seien – laut Hennis – in der deutschen Verfassungsgeschichte „seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert inkrustiert“. Mit bitteren Folgen.

Schon 1957 rügte der FDP-Politiker Reinhold Maier (1889–1971), der bis 1953  im gerade ein Jahr zuvor gegründeten neuen Bundesland Baden-Württemberg regierte und damit dessen erster Ministerpräsident war: „Die Bundesrepublik liegt nicht mehr in der Hand des Parlaments. Die Bürokratie der hohen Ränge hat sich ihrer bemächtigt. Von ihr aus können sich die Minister seelenruhig in alle fünf Erdteile verflüchtigen. In solchen Zeiten blüht der Weizen der Staatssekretäre, der Geheimräte und der einst grauen, jetzt schwarz gewordenen Eminenzen.“[5] Genau das war auch die Funktion der Wirklichen Geheimen Räte im Kaiserreich. Die Politik hatte es da schwer. Doch nach und nach übernahmen Politiker das Geschäft – mit dem Ergebnis, dass das Parlament  keineswegs gestärkt wurde.

Im Gegenteil.

Der SPD-Parlamentarier Carlo Schmid (1896–1979), einer der Väter des Grundgesetzes, hätte es am liebsten gehabt, wenn es einen echten 2. Senat statt des Bundesrates gegeben hätte, eine Kammer, die aus direkt gewählten namhaften Persönlichkeiten gebildet worden wäre, aus Exzellenzen, statt aus den Regierungschefs der Länder, die „als Versammlung publizitätssüchtiger Zaunkönige in leichtfertiger Weise dem Bundestag glauben Konkurrenz machen zu können“.[6] Darin war er sich mit Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876-1967) einig.

Doch der Bundestag mit seinen Parteien, angeführt von Konrad Adenauer (CDU), Kurt Schumacher (SPD) und Theodor Heuss (FDP), hatte das Nachsehen. Bevor das Grundgesetz in Kraft trat, wurden die Länder ja bereits regiert – von Ministerpräsidenten, „die in den Jahren zwischen 1946 und 1949 über den privilegierten Zugang zum Machthaber, den Besatzungsmächten, verfügten“, schreibt Hennis. Und sie nutzten ihre Chance – zumal sie auch den Nerv der wichtigsten Besatzungsmacht, der USA, trafen. Zugleich waren die Ministerpräsidenten offenbar erbost darüber, dass sie bei den Sitzungen des Parlamentarischen Rates, der allein von den Parteien besetzt war,  „im Vorraum bleiben“ mussten. CDU und CSU lagen da völlig über Kreuz. Besonders ins Zeug legte sich der Ministerpräsident des Freistaates Bayerns, Johann Georg Ehard (CSU). Der Streit endete schließlich mit einem „Pyrrhussieg“ (Hennis) des Bundestages. Denn es war Ehard, der in Wirklichkeit gewonnen hatte. Trotzdem ratifizierte Bayern nicht das Grundgesetz. 



6 Kommentare:

Besserwisser hat gesagt…

Die Bayern fürchteten zu viel Einfluss des Bundes und forderten eine stärkere föderale Prägung, beispielsweise eine Gleichberechtigung des Bundesrates bei der Gesetzgebung. Die Verbindlichkeit des Grundgesetzes für den Freistaat, falls bundesweit zwei Drittel der Länder das Grundgesetz ratifizieren würden, wurde aber in einem gesonderten Beschluss mit 97 von 180 Stimmen bei 70 Enthaltungen und 6 Gegenstimmen akzeptiert.

Analüst hat gesagt…

"Wir fordern einen Hofnarren in Ministerstellung für den Bundestag! Damit wir wenigstens ab und zu eine objektive Stellungnahme zu hören bekommen."
Elmar Kupke (1942 - 2018), Gründer der Aphoristikzeitung "Der PrivatDemokrat"

Anonym hat gesagt…

Plädiere dafür, den unsäglichen Freistaat dem Ostreich zuzuschlagen. Vielleicht auch als Söderkratie verselbständigen und aus der EU auszuschließen – als Insel der Unseligen

Anonym hat gesagt…

Haben wir doch.
Es wurde aber - zwecks Quote - eine Närrin. Ihr Name Claudia Roth.

Anonym hat gesagt…

Deutschland ohne die Bayern könnte sich nicht mehr künstlich aufregen, und Bayern könnte mit den Ösis um die alpische Provinzialität streiten.
Den Bayernersatz haben wir schon mit den Sachsen (ohne Finanzausgleich, dafür AfD)

Anonym hat gesagt…

Claudia Roth ist jedenfalls immer unanständig kostümiert. 🤣🤣🤣🤣 Falls sie das schon als Närrin adelt...