Donnerstag, 16. Mai 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 32) HEUTE: DIE BUNDESPUBLIK (10)

 
„Jeder Deutsche hat die Freiheit, Gesetzen zu gehorchen, denen er niemals zugestimmt hat; er darf die Erhabenheit des Grundgesetzes bewundern, dessen Geltung er nie legitimiert hat; er ist frei, Politikern zu huldigen, die kein Bürger je gewählt hat, und sie üppig zu versorgen – mit seinen Steuergeldern, über deren Verwendung er niemals befragt wurde. Insgesamt sind Staat und Politik in einem Zustand, von dem nur noch Berufsoptimisten oder Heuchler behaupten können, er sei aus dem Willen der Bürger hervorgegangen.“

Hans Herbert von Arnim (1939; deutscher Verfassungsrechtler

Anlässlich 75 Jahre Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik

Starker Staat & treue Bürger

Von Raimund Vollmer 

Das Thema „Demokratie“ trieb schon die alte Bundesregierung um. Ja, es schien sie Wahljahr 2021 derart zu beunruhigen, dass sie im Juni 2021  den hochgesonnenen Tageszeitungen eine Schrift beilegte, die sich dem Thema „Demokratie“ widmete – mit einem Vorwort der scheidenden Bundeskanzlerin Angela Merkel. Bundestagsabgeordnete kommen dort nicht zu Wort, nur Wissenschaft und Verwaltung. Das Parlament, das zu wählen wir ja gebeten wurden, fand mit seinen Themen in dieser Demokratie-Schrift so gut wie keinen Niederschlag. Wahlen wurden uns hier als eine sehr „nüchterne“ (Zitat) Angelegenheit verkauft – fast so als seien sie nur eine Regelung zwischen einer Regierung und einem Volk, das „in irgendeiner Weise beteiligt“ wird, wie es einer der Protagonisten, der in Berlin lehrende Rechtswissenschaftler und bereits erwähnte Christoph Möllers in dieser Beilage formuliert. „Wir leben in einer Demokratie“, sagt eingangs die noch amtierende Bundeskanzlerin, die darin ein „Privileg“ sah. Denn diese Demokratie ist „Milliarden Menschen nicht vergönnt“. Wir wählen im Zustand des staatlichen Gnadentums – sind irgendwie beteiligt. Das klingt nicht sehr erbaulich, nicht sehr motivierend. Fast hat man den Eindruck, als wäre es der Regierung am liebsten, wir würden gar nicht wählen gehen.

Das ist natürlich Quatsch.

Aber es ist die Vorstellung von einer Demokratie von oben, die da überall durchschimmert – eine stille, klammheimliche Arroganz oder auch Angst, dass „vielleicht sogar bei uns“, so Möllers in ‚Schwarzrotgold‘, „die Demokratie und die Institutionen, die sie tragen, schneller in Frage gestellt werden“.[1] Schon Jaspers meinte 1966: „Die Verfasser des Grundgesetzes scheinen vor dem Volke Furcht gehabt zu haben.“

Wir, das Volk, haben offenbar ein schwieriges Verhältnis zur Herrschaft, deren  Institutionen uns immer irgendwie zu groß geraten – auch, weil wir zu viel Schutz verlangen. Also: selber schuld. Eine seltsame Konstellation mendelt sich da heraus: Wir, die wir bis in unsere Gene hinein immer nur Schutz vor allem beim Staat suchen, sind diejenigen, vor denen sich der Staat fürchtet! Ein seltsames, ein kurioses, ein paradoxes Verhältnis.

„Anti-Atom-Kampagne, Achtundsechziger-Revolte, Friedens- und Ökologiebewegung, Terrorismus und alle politischen Skandale haben das Vertrauen in das politische System auf lange Sicht nicht untergraben, sondern gestärkt“, schrieb 1990 der deutsche Soziologe Karl Otto Hondrich (1937-2007).[2] Denn sie wurden selbst die Macht. Die alte Erkenntnis des französischen Kardinals Richelieu bestätigte sich: „Minderheiten haben die Tendenz zu wachsen.“ Sie treten an zum Marsch durch die Institutionen, besetzen sie, beherrschen sie. Die Minderheiten übernehmen die Macht. Sie sind stärker als die da oben – bis sie selbst da oben sind. Dann kippt die Macht der Ohnmacht, wird  eins mit der Schutzmacht, mit der Bürokratie. 

„Eine Föderation von Bundesgenossen ungleichen Rechts“, hatte dereinst, 1667, der Staatsrechtler Samuel von Pufendorf in dem „irregulären und einem Monstrum ähnlichen“ Deutschen Reich mit seiner „disharmonischen“ Staatsform gesehen. Als ein „verwinkelter, unübersichtlicher, aber widerstandsfähiger Bau“ kam auch dem Historiker Heinz Schilling (*1942) das Heilige Römische Reich Deutscher Nation vor. Doch es leistete über alle Willkür und Wirren hinweg stets „Schutz und Sicherheit“, befindet die Schriftstellerin Christa Dericum (1932–2014).[3] Das ist bis heute unser vornehmlicher Anspruch: Schutz. Darauf vertrauen wir. Selbst nach den Schrecknissen des Dritten Reiches. Manchmal könnte man meinen, dass dieses Schutzbegehren unser einziger Anspruch ist und bleibt. Da wird aus unserer Gesellschaft eine Gemeinschaft, da werden wir eindimensional. Es ist eine „eigenwurzelige Funktion“, schon im Mittelalter verbrieft unter den Begriffen Munt & Gewere, wie es der Historiker Karl Bosl (1906–1993) nannte.

Der Verfassungsrechtler Roman Herzog meinte 1993, ein Jahr, bevor er deutscher Bundespräsident wurde: „Wenn das Rechtsbewusstsein der Bürger in einem größeren Umfang ins Wanken gerät, dann ist der Staat eigentlich vor die Alternative gestellt, entweder ständig seine Polizeikräfte zu verstärken – in der Tendenz: er wird zum Polizeistaat – oder das Vertrauen der rechtstreuen Bürger zu verlieren.“ Starker Staat, treue Bürger. Das ist die Superkonstellation, die Schicksalsgemeinschaft. Kein Wunder, dass fast dreißig Jahre später in der ‚Schwarzrotgold‘ genannten Regierungs-Broschüre der erste Auftritt nach dem Vorwort der Kanzlerin einem Polizisten gewährt wird – unter dem Titel: „Demokratie in Uniform“. Kein Richter tritt hier auf. Kein Abgeordneter. Es gibt nur noch eine Gewalt, die vom Volke ausgeht: die Exekutive, die Schutzmacht schlechthin. Sie ist die Konstante. Sie ist die „Berliner Republik“. Sie steht für sich selbst. Sie braucht uns Bürger nicht. Wir sind auch nur in Wahljahren Bürger, sonst sind wie nur Einwohner. Die Exekutive ist das alleinige Recht. Nur sie beherrscht es.

Herzog wünschte sich seinerzeit vor allem einfachere Gesetze und nicht, „dass immer mehr Ausführungsvorschriften ergangen, dass immer neue Unterabsätze in die Paragraphen eingefügt worden sind“. Vergeblich. Da kam kein Ruck, noch nicht einmal ein Zucken. Wir wissen: Es kann kein Genug an Verordnungen geben. Sie sind das unausrottbare Virus des Rechtsstaats, aber auch sein Lebenselixier. Beides lässt sich nicht mehr voneinander unterscheiden. Das ist die eigentliche Bedrohung. Verordnungen sind die Dreieinigkeit von The Good, the Bad and the Ugly.


9 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Wenn man sich streng an die Vorschriften halten wollte, kämen nur die Narren ins Paradies.
Jüdisches Sprichwort

Anonym hat gesagt…

Ein Kranker kann keine gesunden Verordnungen erlassen.
© Friedrich Löchner (1915 - 2013) in „Blätter am Wege“ (veröffentlicht unter dem Pseudonym Erich Ellinger), 1970

Besserwisser hat gesagt…

Der jetzige Hang zu allgemeinen Gesetzen und Verordnungen ist der gemeinen Freiheit gefährlich.
Justus Möser (1720 - 1794), deutscher Jurist, Staatsmann, Literat und Historiker

Raimund Vollmer hat gesagt…

Ich spüre Einigkeit mit den Kommentatoren, die sich hinter Sprichwörtern verbergen. Nur mein geheimnisvoller Freund, der Besserwisser, zeigt seine Maske. ;-)

Anonym hat gesagt…

Wissen möchtet ihr gern die geheime Struktur des Gebäudes,
Und ihr wählt den Moment, wenn es in Flammen steht.
Goethe/Schiller Xenien

Anonym hat gesagt…

Würde des Menschen
Nichts mehr davon, ich bitt' euch!
Zu essen gebt ihm, zu wohnen;
Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.
Goethe/Schiller Xenien

Anonym hat gesagt…

Wünsche dir nicht zu scharf das Auge, /denn wenn du die Toten in der Erde erst siehst,/siehst du die Blumen nicht mehr!
Friedrich Hebbel 1813. - 1863 Dramatiker, Wiener Schriftsteller

Anonym hat gesagt…

Warum denn nicht?
Genauso wie ein Gesunder kranke Gedanken haben kann.

Anonym hat gesagt…

Wie heißt denn das dem Bundestag vorgelegte Gesetz?
" Das gute Haut-keine-Parteimitglieder-Gesetz"?
Wieder ein Gesetz für Partikularinteressen, wieder eines zum Nutzen des Establishments.