Mittwoch, 29. Mai 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 43): Die Ursprünge des Technological Gaps

Vor 60 Jahren in der Zeitschrift "Die Zeitung"

   


Der Angriff über die Logistik

 

Von Raimund Vollmer

„Computer sind die Dampfmaschinen der neuen Zeit, kein Betrieb kann sie entbehren“, schrieb 1970 Kurt Blauhorn, Edelfeder beim 'Spiegel', in seinem Buch „Europa – Erdteil zweiter Klasse?“.[1] Sein Thema war, wie schon zuvor bei seinem französischen Kollegen Jean-Jacques Servan-Schreiber „die technologische Lücke“ zwischen den USA und Europa. Mindestens fünf Jahre sei der Abstand, hieß es damals. Die OECD hatte die Lücke damals genau ermittelt, aber auf Geheiß der Amerikaner hielt sie das Ergebnis unter Verschluss. Das „technological gap“ war einfach zu groß.

Die Lücke muss so bedrohlich groß gewesen sein, dass die Nationalstaaten in den sechziger Jahren begannen, ihre Computerindustrie mit Milliardensummen an Subventionen aufzupäppeln. Die Abhängigkeit von den USA war ihnen unheimlich. Zwischen 1967 und 1979, als in Deutschland das mit 1,6 Milliarden Mark ausgestattete. DV–Förderungsprogramm auslief, hatte der Bund vor allem fünf Firmen gefördert. An sie flossen 80 Prozent der Mittel.[2] Später sollte der Bundesrechnungshof diesen Fördertöpfen absolute Nutzlosigkeit attestieren.

War es auch Wahnsinn, so hatte es doch internationale Methode. Man solle – bei gleichem Preis–/Leistungsverhältnis – den nationalen Hersteller wie Siemens in Deutschland, ICL in Großbritannien, CII in Frankreich, Philips in den Niederlanden oder Olivetti in Italien bevorzugen, hieß es mehr oder minder offiziell. „Die einzige Firma, die von der britischen Regierung Aufträge bekam, war das heimische Unternehmen ICL“, resümierte 1982 der 'Economist'.[3]

Da schwang mehr mit als nur ein subtiler Hauch von Protektionismus. Da formierte sich ein „Kartell der Angst“. Das sollte sogar unter dem Namen Unidata unternehmerische Gestalt bekommen. Siemens, Philips und CII sollten den Kern bilden. Doch am 19. Dezember 1975 war das europäische Projekt, als Äquivalent zum Airbus gedacht, bereits zu Ende. Was in der Flugzeugindustrie gelingen sollte, scheiterte in der europäischen Datenverarbeitung. „Das ruhmlose Ende der trinationalen Computer-Allianz Unidata offenbarte auf deprimierende Weise, wie schwer sich europäische Unternehmen selbst da mit grenzüberschreitenden Kooperationen tun, wo ein Zusammengehen der einzig erfolgversprechende Weg ist“, schreibt der Journalist Hans-Otto Eglau 1982 in seinem Buch „Kampf der Giganten“.[4] 

Dabei hieß es immer wieder: „Die Computerindustrie ist eine Schlüsselindustrie.“  Bis in die achtziger Jahre wurde dies gebetsmühlenartig wiederholt, um Subventionen und staatliche Eingriffe zu rechtfertigen. Doch der Abstand zu den USA ließ sich einfach nicht verringern. Im Gegenteil: „Seit der dritten Computergeneration“, die in den sechziger Jahren geboren wurde, „verliert die Computerbranche in der Bundesrepublik und Europa technologisch an Boden“, formulierte noch 1987 der „Arbeitskreis Informationstechnik“ des VDE in einem Strategiepapier „Informationstechnik 2000“. Vor einem „strategischen Engpass“ stünde die europäische Computerindustrie – vor allem gegenüber den Amerikanern. Und dann wird die Studie sehr deutlich: „Aus dem Blickwinkel der staatlichen Forschungsförderung liegt die Bundesrepublik im Verhältnis zu den USA erheblich zurück.“[5] Aber an etwaigen Rückständen in der Forschung hatte es wirklich nie gelegen, sondern an etwas ganz anderem: Die Amerikaner denken ganz einfach weiter und vor allem großflächiger als die Europäer. Es geht ihnen nicht um die Technologie an sich, sondern um deren Nutzen und um deren Bereitstellung. Eine Tatsache, auf die wir uns eigentlich schon vor 150 Jahren hätten einstellen können.

Damals waren die Vereinigten Staaten von Amerika dabei, ihr weites Land von Osten nach Westen mit Eisenbahnlinien zu überziehen. Dahinter stand ein immenser Aufwand, der ohne die Hilfe der Regierung niemals hätte erbracht werden können. Aber im Wilden Westen war alles möglich. Washington erteilte ohne Rücksicht auf das Eigentum anderer an Grund und Boden die Wegerechte, gewährte Straffreiheit bei ziemlich allen Delikten, die im Zusammenhang mit dem Bau der Eisenbahn standen, und verzichtete auf jedweden Wegezoll.

1869 stand die erste trans­kontinentale Bahnlinie.[6] Bis 1883 errichteten Einwanderer aus Europa und unter härtesten Bedingungen chinesische Kulis »vier große Strecken quer über den Kontinent, oft in Kämpfen mit den indianischen Ureinwohnern. Die Nordstaaten gewannen den Bürger­krieg auch deshalb, weil es zu jener Zeit schon 20.000 Meilen Eisen­bahn­strecke gab, im Süden aber nur die Hälfte, und die Yankees daher den Nachschub schneller heranführen konnten«, erinnert sich 1979 'Der Spiegel'. Vor mehr als 100 Jahren, 1916, auf dem Höhepunkt des amerika­nischen Eisenbahn-Wunders, verfügte das Land über 254.000 Meilen und beförderte über den Schienenweg 77 Prozent aller Frachten und 98 Prozent aller Passagiere.[7]

Die Amerikaner hatten mit ihren Eisenbahnen eine gewaltige Logistikmaschine errichtet, die in ihrer Wirkung ähnlich war wie die des Internets. Millionen von Einwanderern waren in die USA gekommen und hatten auf eigene Faust die weiten Agrarflächen des Westens erschlossen. Parallel dazu war mit den Eisenbahnen eine Infrastruktur entstanden, die den Amerikanern den Zugang zu neuen Absatzmärkten eröffneten. Was Nahrungsmittel anbelangte, avancierten die Vereinigten Staaten zur größten Exportmacht der Welt. Industriell überholen sie alle anderen Nationen.

Irgendwie war es nicht viel anders als bei der Ausgestaltung des Internets. Es hatte sich in den neunziger Jahren mehr und mehr selbst gebaut. Je mehr Menschen dazu kamen, desto stärker lockte die Kommerzialisierung. Diese immensen Auswirkungen hatte Bill Gates beim Blick auf das Internet anfangs unterschätzt. Als er aber die Bedeutung dieser Zukunftsmacht erkannte, beauftragte er in den neunziger Jahren Historiker damit, genau zu untersuchen, wie das damals war, als die Eisenbahnen gebaut wurden.

Wahrscheinlich haben die Forscher ihm erzählt, dass man dafür Typen braucht, die keineswegs zimperlich sind, vor nichts zurückschrecken und den Segen der Regierung genießen. Doch in Zeiten der Antitrustverfahren wäre das keine gute Einstellungspolitik für Microsoft gewesen.

Immense Kapitalien waren ­für den schnellen Ausbau der Eisenbahnstrecken notwendig ge­we­sen. Es war Geld, das sich die Herren der Stahlrösser langfristig geliehen hatten. Die Northern Pacific Rail­ways Corp. hatte zum Beispiel 1896 Schuldverschreibungen in Höhe von 320 Millionen Dollar auf­ge­legt – mit einer Laufzeit von 100 und 150 Jahren. Sie mussten dafür als Sicherheit 39 Millionen „Acres“ an Land­besitz hinterlegen.[8] (Ein Acre sind etwa 4000 Quadratmeter.) Aber das war kein Problem. Denn Geld wollten sie ja nicht mit Grund und Boden verdienen, sondern mit dem, was über die Schienenwege bewegt wurde. Mit dem Transport.

Zugleich aber schufen die Eisenbahnen, ohne übrigens für sich selbst je ihre wahre Wirtschaftlichkeit beweisen zu müssen, mit immensem Aufwand an Menschen, Material und Kapital einen gewaltigen Markt. Für die amerikanische Wirtschaft kam diese Logistikmaschine aus Stahl und Eisen, aus Dampf und Kohle gerade rechtzeitig. Vor dem Ersten Weltkrieg hatten die USA „die am höchsten entwickelte Eisenbahn“ der Welt, meinte 1991 der britische 'Economist'. Deshalb war es auch kein Wunder, dass die Industrie des Landes so schnell wuchs.[9] „Ein explosiver, unerhörter Wirtschaftsaufschwung beanspruchte fast alle Energien der amerikanischen Bevölkerung“, schreibt 1964 der Historiker Klaus Schoenthal in seinem Buch „Amerikanische Außenpolitik“.[10]

Während der eine Teil des Landes der Überzeugung war, dass die USA sich selbst genügen sollten, standen andere, einflussreichere Kräfte unter dem Einfluss von Charles Darwin. Dessen Lehre vom „Survival of the Fittest“ belebte den „alten Glauben an die besondere Mission der Vereinigten Staaten“ (Schoenthal).[11] Es war die Zeit eines heute seltsam anmutenden Sozialdarwinismus. Die Amerikaner überwanden in imposanter Weise die große Kränkung, die durch Darwin erfolgte Abstufung des Menschen vom Ebenbild Gottes zu einem Derivat der Primaten.  

Die USA befanden sich auf dem Weg in die Massenproduktion, die mit der Erfindung des Fließbandes Anfang des 20. Jahrhunderts ihren ganz großen Durchbruch erleben sollte. In der Folge bildeten sich immer mehr Trusts, deren Entwicklung die Eisenbahnbarone durch besondere Preisnachlässe auch noch förderten. Kurzum: Eine Hand wusch die andere.

Es war wie beim Internet. Nicht das Netz an sich brachte das große Geld, sondern das, was darauf transportiert wurde, avancierte zum wahren Renner und förderte eine Entwicklung, die keineswegs auf die USA beschränkt blieb. Es kam zum Überfall. Auf Europa.




18 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Wie nennt man eigentlich eine Edelfeder nach ihrer digitalen Metamorphose?

Anonym hat gesagt…

"Vor dem Hintergrund des industriellen Erfolgs der Amerikaner zeichnet sich das Talent ab, Veränderungen zu akzeptieren und hervorzurufen. Der technologische Vorsprung ist die Folge virtuoser Betriebslenkung. Beides ergibt sich aus dem ungeheuren Aufschwung des Erziehungs- und Ausbiidungswesens. Wunder gibt es nicht. Amerika zieht gegenwärtig den größten Nutzern aus einer Investition, die sich als die ergiebigste erwiesen hat: der Ausbildung seiner Bürger."
J-J Servan-Schreiber. Die amerikanische Herausforderung
(Vorwort F.J. Strauß)
Hamburg 1968

Besserwisser hat gesagt…

Warum ist Hans-Otto Eglau nur ein Journalist und keine Edelfeder?
Oder ist er nur keine simple Edelfeder, sondern sogar ein waschechter Journalist!

Besserwisser hat gesagt…

Wunder gibt es – frag nach in Düsseldorf, wo die Fortuna gerade ein Blaues Wunder erlebt hat.

Besserwisser hat gesagt…

Waren wir nicht das Volk der Dichter und Denker? O tempora, o mores...

Anonym hat gesagt…

Vom Dichten und Denken kommt man in Anthologien in modernen Antiquariaten aber nicht in die Forbes 100 Liste .

Anonym hat gesagt…

Wenn wir uns dennoch so schwer taten, daß "Wunder Japan" zu verstehen, dann vielleicht groteskerweise deshalb, weil es unsere eigenen Tugenden und Fähigkeiten waren, denen dieses Volk seinen vielbestaunten Erfolg verdankt.
H.O. Eglau. Kampf der Giganten
1982 Econ

Anonym hat gesagt…

Helmut Schoeck: Die 12 Irrtümer unseres Jahrhunderts (1985)
= Es geht auch ohne Eliten
= Bildung statt Arbeit
= Auch ohne Können ist es Kunst
= Geist und Wissenschaft, die Widersacher der Natur
= Jedes Problem braucht seinen Psychiater
= Jedes Problem braucht seinen Politiker
= An den Sozialwissenschaften soll die Welt genesen
= Sozialismus ersetzt Patriotismus
= Gesinnungsethik ist die gottgefälligste Verteidigung
= Wer zur Geschichte auf Distanz geht, meistert die Zukunft
= Zu einem guten Menschen gehört ein schlechtes Gewissen
= Das 20. Jahrhundert ist auf Kredit zu haben
München, Berlin 1985
Schoeck * 1922
Unis München, Tübingen, Mainz
15 Jahre Professor USA, mehrere Bücher, Kolumnist Die Welt, Rheinischer Merkur

Anonym hat gesagt…

Wechsel der Vormacht in Bereichen der Erde, in denen Völker aufeinander einwirken konnten, war in der Geschichte, in säkularen Zeitmaßstäben gerechnet, nie die Ausnahme, vielmehr die Regel.
Niemand wird annehmen wollen, dass dies heute anders ist.
Wilhelm Fucks. MÄCHTE VON MORGEN Stuttgart 1978
Professor in Aachen und Berlin

Anonym hat gesagt…

Ja. Waren

Anonym hat gesagt…

Weil eine Edelfeder nur ihren Zweck erfüllt, gut zu schreiben.....

Anonym hat gesagt…

"Der Bürofachhandel ist eine unverzichtbare Vertriebsorganisation für die bürotechnische Branche in Europa. Die einzige Möglichkeit...ist die langfristige Gesunderhaltungder europ. Hersteller für Bürotechnik und die Festigung der Hersteller-Händler-Beziehung... "
Rolf-Dieter Leister über die Chancen Europas im Kampf um den Telematik-Markt
in: Eglau Kampf der Giganten 1982
Leister war bis Ende 1980 Geschäftsführer IBM Deutschland. Danach Unternehmensberater für int. Herstellerstrategien, u.a. AEG Telefunken AG

Anonym hat gesagt…

Was war eigentlich „Die Zeitung“? Muss man die kennen – oder gibt es die sogar heute noch in irgendeiner Form?

Raimund Vollmer hat gesagt…

Danke für die mich sehr nachdenklich machenden Kommentare, nein, Kommentatoren. "Edelfeder" ist ein Begriff mit der man im Journalismus den Stil eines Autors loben möchte - zuerst unabhängig vom Inhalt seiner Aussagen und dann doch in Kombination damit.

Raimund Vollmer hat gesagt…

Durch einen Freund bekam ich einige Exemplare "Die Zeitung". Sie kam aus Stuttgart und versuchte sich am "Spiegel"-Standard. Sie ist heute Teil meines "Archiv-Noah".

Anonym hat gesagt…

Das Vorwort von Strauß ist sehr interessant, politisch.
Da hat er sich eine Kennerfeder als Schreiber gesucht.

Anonym hat gesagt…

Die Menschen wollen immer vom Autor etwas Großes im Stoffe, um sich zu entschuldigen, daß sie kein Großes in der Form finden; und um zu verhehlen, daß sie eben das rechte Große, daß überall sein kann, nicht kennen.
Jean Paul

Anonym hat gesagt…

Mancher Pfau verdeckt vor aller Augen seinen Pfauenschweif - und heißt es seinen Stolz.
Friedrich Nietzsche