Donnerstag, 30. Mai 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 44): Die Großen der Wirtschaft und der Protektionismus

 

1984
1975: »Freiheit erzeugt immer Ungleichheit. Und materielle Gleichheit kann nur unter Verlust von Freiheit erreicht werden.«

Friedrich von Hayek (1899–1992), österreichischer Nobelpreisträger[1]


Die Macht der Wirtschaft

Von Raimund Vollmer

Nachdem der Ausbau der Eisenbahnen in den USA vollendet war und mit der Dampfschifffahrt die Seetransport­kosten um 75 Prozent gesunken waren, luden die Amerikaner ihre überschüssigen Waren auf ihre schnellen Frachter und machten sich auf den Weg nach Europa. Vor allem die deutsche Landwirtschaft bekam nun die Getreide-Konkurrenz aus der Neuen Welt mächtig zu spüren. Auch die Industrie geriet durch Stahl-Importe unter Druck. Beide, »Rittergut & Hochofen«, verlangten energisch nach Schutzzöllen. Bismarck musste sich schließlich der massiven Lobby aus Junkern und Stahlbaronen beugen. Er sah ein, dass „wir unsere Tarife zu tief heruntergesetzt“ hatten. Schutzzölle sollten den „Verblutungsprozess“ (Bismarck)
stoppen.[1] So kam es.

Am 9. Juli 1878 verabschiedete der Reichs­tag einen neuen Zolltarif, mit dem der Einfuhr von Eisen zu Schleuderpreisen Einhalt geboten wurde. Das war das Ende einer bis­lang schrankenlosen Wirtschaftsfreiheit. Protektionismus machte sich breit. Staat und Wirtschaft rückten enger zusammen.

Hinzu kam, dass die In­dustriestaaten zwischen 1870 und 1895 infolge von Über­pro­duktion eine Reihe von Krisen durch­machten. Der Freihandel wurde durch Schutzzölle mehr und mehr eingedämmt. Jedes Land ver­suchte, durch Zusam­men­schlüsse und Produktionsverflechtungen die Krisen in den Griff zu be­kommen. In der Folge bil­de­ten sich mit staatlichem Wohlwollen gewaltige Unter­nehmergesellschaften, die national und in­ternational die klei­neren und mittleren Betriebe auszuschalten suchten. Die Gründerzeit war zu Ende. Die Unternehmer mussten mit ansehen, „dass viele staatliche Maßnahmen auf den Unternehmerbetrieb ganz anders wirken als auf den ausgereiften Betrieb“, der von Managern geführt wurde. „Was für den ersten schädlich sein kann, das kann dem zweiten nützen“, befindet der Ökonom John Kenneth Galbraith Galbraith. [2]

Es kam die Zeit der Old Economy.

In Deutsch­land gab es 1907 rund 3,2 Millionen Betriebe. Davon waren nur 0,9 Pro­zent Großunternehmen. Diese

- beschäftigten jedoch 39,4 Prozent aller Arbeiter,

-  nutzten 75,3 Prozent der Dampf­kraft und

-  verbrauchten 77,2 Prozent der Elektrizität.

„Das Deutsche Reich war in seiner Wirklichkeit ein ungeheuer starker, konzentrierter, von dem Motor einer machtvollen Industrie vorwärtsgetriebener Nationalstaat“, schrieb Golo Mann in seiner „Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ über die Kaiserzeit.[3]

In den USA war der Un­ter­schied zwischen Groß & Klein ebenfalls auffällig. 1909 galten dort lediglich 1,1 Prozent aller Unternehmen als Großbetriebe. Es waren Firmen, die mehr als eine Million Dollar umsetz­ten. Doch sie ver­einten 32,8 Prozent der ame­ri­kanischen Produktion. Trusts, Konzerne und Kartelle bildeten bis in den Beginn des 20. Jahrhun­derts hinein die alles überragende Wirtschaftsmacht, verstärkt durch Großbanken, die von Unternehmertypen gegründet worden waren. Darauf deuteten in den USA schon die Namen der  Investmentbanken hin. Sie heißen J.P. Morgan, Goldman Sachs oder E.F. Hutton..

„Es ist das Zeitalter der Großbanken“, hatte für den Historiker Golo Mann die Macht der Geldhäuser in Deutschland eine noch höhere Bedeutung als in den USA. „Meist schon vor 1870 gegründet“, also vor der Bildung des Deutschen Reiches, „werden sie zu Großbanken erst jetzt; zu Organisationen mit Tausenden von Angestellten, mit Marmorpalästen in der Berliner Friedrichstadt, Tempeln des neuen Gottes: Deutsche Bank, Dresdner Bank, Darmstädter Bank, Disconto–Gesellschaft, Berliner Handelsgesellschaft. Sie wachsen an der Industrie, deren Wachstum sie fördern; finanzieren ihre Expansion, beteiligen sich an Neugründungen, gründen selber. Ihre Direktoren sitzen, mitkontrollierend, in den Aufsichtsräten der industriellen Unternehmungen. In keinem anderen Land, sagen uns die Fachleute, besitzen einige wenige Großbanken einen so entscheidenden Einfluss auf die Steuerung wie in Deutschland.“ [4]

Es gab noch einen weiteren Unterschied zu den USA. Hier stand hinter dieser Konzentration aus Konzernen und Kapital nicht nur ein gewaltiger Markt, sondern auch eine lebendige Demokratie. Die USA entdeckten das Individuum, den Konsumenten, als wichtigsten Abnehmer. In Deutschland aber war es der Staat, der als Großabnehmer alle in den Schatten stellte. Er erhebt Anspruch auf alle Rüstungsprodukte.  Und er wird damit gefüttert, bis er platzt.

Über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges sang Bob Dylan in den sechziger Jahren: „The reason for fighting I never did get.“ Auf jeden Fall war dieser Krieg ein fürchterlicher Absturz. Vor allem für Deutschland.


15 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit
1789

Anonym hat gesagt…

Das Establishment ist der Erfüllungsgehilfe des Großkapitals zur Unterdrückung der unmündigen Massen.
Die Oligarchen und Cliquen des Großkapitals üben faktisch die Herrschaft über die unmündig gehaltene Masse aus. Sie bedienen sich dabei der gesellschaftlichen und politischen Institution als bürokratischer Herrschaftsapparate zur Unterdrückung und Manipulation. Das Establishment sitzt in diesen Institutionen als Erfüllungsgehilfe des Großkapitals an den Hebeln der Macht und ist der Repräsentant dieser verhassten, repressiven Ordnung. Eine qualitative Verbesserung des gesamten Zwei-Klassen-Systems lässt sich nur durch eine Revolution erreichen.
Die neue Linke
Thesen (4) der APO/SDS 1967

Anonym hat gesagt…

Man ist niemals so unglücklich wie man glaubt und so glücklich wie man gehofft hatte.
François VI Herzog von La Rochefoucauld Franz. Moralist

Anonym hat gesagt…

Als Lavater den Caligiostro fragte, worauf seine Wirkung beruhe, antwortete dieser: in herbis, in verbis, in lapidibus. - Motto für die Alternativen: Gras freß ich, Großmaul bin ich, Steine schmeiß ich.
Johannes Groß Publizist
Notizbuch FAZ Magazin

Anonym hat gesagt…

Zu Golo Mann, dem moralischen Historiker ons Poesie-Album:
"Die öffentliche Meinung fällt Urteile, die, anders als die der Gerichte, irreversibel sind und sie wünscht keine Wiederaufnahme des Verfahrens. Sie sieht sich als letzte Instanz vielleicht eben darum, weil ihre Urteile in Wahrheit und Geschichte keinen verlässlichen Bestand haben und oft revidiert, nicht selten kassiert werden. "
Johannes Groß Publizist 21.5.82
FAZ Magazin

Anonym hat gesagt…

Die neue Linke klingt aber verdammt altbacken und angestaubt…

Anonym hat gesagt…

Was ist die öffentliche Meinung? Wohl eher nicht die veröffentlichte Meinung!!!

Anonym hat gesagt…

Joseph Roth 1925 aus Marseille an Bernard von Brentano und Benno Reifenberg:
"Morgen beginnt hier der Sozialistenkongreß.....Mit Schillerkragen! Mit Aktentaschen! Mit Regenschirmen! Mit dicken Frauen auf Plattfüßen! Sie gehen ohne Hüte! Sie schwitzen. Sie stinken. Sie trinken Bier. Sie reden lauter als die vielen Orientalen....
Alle Sozialdemokraten sehen deutsch aus. Sogar die litauischen. Denn in Deutschland ist der Typus zu Hause: redlich, fleißig, Bier trinkend, die Ordnung der Welt verbessernd. Ein Demokrat und sozial. 'Gerecht!' Hoffnung auf Evolution. Alles deutsch. Der Sehnsucht der deutschen Frau, auf Schuhen ohne Absätze durch ein Leben voller Tätigkeit zu marschieren, kommt der Sozialismus entgegen... Fortwährend dampfend vor Tätigkeit, Geschwätz, Fortsetzung der Konferenzen am Abend im Cafe durch Gruppenbildung und lange Tische, Schrecken der Kellner.... "

Anonym hat gesagt…

...so hat sie sich 1967 genannt um sich von DDR und Altkommunisten abzugrenzen.

Anonym hat gesagt…

Siehe: Einführung in die Soziologie

Anonym hat gesagt…

Die öffentliche Meinung vertritt Muss Piggy

Anonym hat gesagt…

Miss

Besserwisser hat gesagt…

Die Meinung von Miss Piggy ist nur die Meinung von Miss Piggy. Die Meinung solcher InfluencerInnen wird leider allzuoft hochgejubelt...

Besserwisser hat gesagt…

Heute ist die neue Linke ausgestorben – vielleicht bis auf einige unbeirrte Uraltkommunisten. Einige davon habe ich im ASTA unser Uni kennenlernen müssen – zehn Jahre nach der absolut begrüßenswerten Selbstauflösung des SDS. Davon hatten die KommilitonInnen offenbar noch nix mitbekommen. Die meisten von denen hatten auch eine verdammt lange Leitung und eine extrem kurze Zündschnur...

Analüst hat gesagt…

politische drift

meistens weiß die linke
was die rechte
und die rechte
was die linke
tut

weil
die linke immer rechter
und
die rechte immer linker

bis
die linke schließlich rechter
als die rechte links
Kurt Marti (1921 - 2017), Schweizer Pfarrer, Schriftsteller und Lyriker in "Republikanische Gedichte", 1971